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Das "seltsame Dörfchen"

Mit dem Zug durch die Schweiz: Vor 100 Jahren fuhr der erste Zug vom Berninapass, der das Engadin mit dem Veltlin verbindet, hinunter ins Tal. In gemütlichem Tempo vorbei an Gletscherhängen, einem alten Städtchen, einem großen See, unterhalb eines vergessenen Dörfchens bis Tirano. Doch das Tal ist auch bestens wandernd zu erkunden.

Von Steffi Mehlhorn und Joachim Dresdner | 28.02.2010
    Vor 100 Jahren fuhr der erste Zug der legendären Berninabahn hinunter ins Tal, vom Piz Bernina bis nach Tirano. In gemütlichem Tempo vorbei an Gletscherhängen, einem Städtchen, einem See und dann zur ersten italienischen Stadt, gleich hinter der Schweizer Grenze.

    Von ganz oben, entlang am milchigen Gletschersee Lago Bianco auf 2300 Meter Höhe mit dem atemberaubenden Blick auf die Majestäten Piz Bernina und den Piz Palü, geht die Reise hinunter ins Valposchiavo mit seinem Hauptort Poschiavo.

    In wenigen Minuten erreichen wir den einzigartigen Aussichtspunkt Alp Grüm auf 2091 Meter mit Sicht auf den Palügletscher und ins Puschlav mit dem Lago die Poschiavo.

    Das Tal mag vor allem Bahnfreunden bekannt sein. Die "kleine Rote" – wie die Bahn liebevoll genannt wird – transportiert Reisende aus aller Herren Länder. Wir verlassen einen der emsig hoch- und runterfahrenden Züge und nehmen Quartier in Poschiavo. Am nächsten Morgen machen wir uns nach dem Frühstück auf den Weg zum Bahnhof.

    Kurz vor halb neun steigen wir in den Morgenzug nach Tirano. Rund 20 Minuten braucht er bis Brusio. Zwischen den Stationen Le Prese und Miralago zieht die E-Lok die roten Wagen am westlichen Ufer des Puschlavsees entlang. Übrigens, das gäbe es in Deutschland nicht: Hinten sind zwei Güterwagen angekoppelt, die bringen Baumstämme talwärts.

    In Brusio erwartet uns Secondo Balsarini mit seinem Auto. Nach einer kurzen Begrüßung geht es bergan. Aus dem Tal, das rund 960 Meter über dem Meeresspiegel liegt, führt die alte Straße noch einmal 700 Meter hinauf zum Bergdorf Cavaione.

    Weit verteilt kleben die grauen Steinhäuser am südlichen Hang des Gümelin, oberhalb von Brusio. Das letzte Dorf … vor der italienischen Grenze, zugleich das jüngste Dorf der Schweiz und ein aussterbendes. Hier wohnt kaum noch einer! Einträgliche Arbeit gibt es nur im Tal oder in den Städten.

    "Überall in den Häusern kommen Leute in den Ferien, also nicht alle zu den gleichen Zeiten, aber zwei, drei Monate ist immer ziemlich gut bewohnt."

    "Meine Schwester wohnt hier, und ich wohne ein wenig oben, oberhalb von der Kirche, dann sehen wir nachher, Anfang des Jahrhunderts hatte Cavaione über 100 Einwohner."

    Die Familien, die ab dem 18. Jahrhundert fürs ganze Jahr nach Cavaione hinaufzogen, die Plozzas und Balsarinis aus dem Veltlin, gaben sich als Österreicher, später als Italiener oder Schweizer aus.

    "Die Schweiz hat die Grenzen ein bisschen höher. Italiener haben die Grenze gezogen, Cavaione wurde vergessen und es hatte schon dazumal Leute, die hier lebten. Die Leute hatten keinen Militärdienst, die zahlten keine Steuer. Aber dann mussten sie sich entscheiden und sie haben sich für die Schweiz entschieden."

    Cavaione war ein vergessenes Niemandsland. Lange bestritten die Einwohner ihr kärgliches Einkommen mit Landwirtschaft und Schmuggel.

    "Damals hatten nicht viele Verdienmöglichkeiten. Nur das Land, und die 100 Leute lebten vom Land und hatten sonst keine anderen Einkommensmöglichkeiten."

    Erst nach einer Grenzbereinigung zwischen der Schweiz und Italien, 1863, kam Cavaione zur Eidgenossenschaft. Dann dauerte es noch mal elf Jahre, bis die 100 Einwohner ins Schweizer Bürgerrecht aufgenommen wurden.

    "Früher gehörte zum Veltlin. Einmal haben die Leute von Cavaione gesagt, dass sie wollten Lombardi bleiben, also zum Veltlin gehören, und dann, 1860, oder 69 hat die Gemeinde Brusio gefragt, ob sie in die Schweiz eintreten könnten, und die Gemeinde hat mit dem Kanton Chur hat damals, 1874, am 1. Dezember, entschieden, dass die Einwohner eingebürgert wurden."

    Seit dem 1. Dezember 1874 ist Cavaione die jüngste Ortschaft der Schweiz!

    "Und 1875 hat die Gemeinde Brusio jeder Familie eine Urkunde als Bürger von Brusio, kann Ihnen das mal zeigen."

    Wie ein Adlernest klebt das Bergdorf, nach Italien hin am Südhang, oberhalb des Waldes. Ein wunderbarer Ort für Sommerfrischler, findet Renata Cortesi-Plozza, die Nichte Secondo Balsarinis. Sie besucht gerade ihre Eltern:

    "Ein Ort der Ruhe, also hier kann man wirklich entspannen, ja.
    Es ist sehr steil, aber es hat eine sehr schöne Aussicht, und ich finde, ach ja, man kann richtig tanken und Kraft wieder."

    "Sie ist auch hier geboren."

    "Ja, ich bin auch hier in die Schule."

    "Auch in der Schule. Können wir jetzt vielleicht altes Schulhaus besichtigen?"

    Ja, wir können! Der Weg führt bergan, zu einem zweistöckigen Gebäude an einem kleinen, ebenen Platz.

    "Da hatten wir Turnen, Klettern, Tauklettern, vier Sekunden war mein Rekord."

    In den ersten Schuljahren, erinnern sich die beiden, beleuchteten Kerzen und Öllampen den einzigen Raum, gab es noch keinen Strom. Secondo Balsarini, wo haben Sie gesessen?

    "Beim Fenster, dass ich immer auf den Berg schauen konnte. Es war schön für uns, weil drei Fenster hatte, viel Licht und hier oben hatte man eine herrliche Aussicht und bei der Pause hatten wir einen Pausenplatz, klein, aber wir haben auch Fußball gespielt, manchmal ist der Fußball aus dem Netz und nach Campaschio, wir haben in Campaschio holen müssen."

    Die Schule wurde 1971 geschlossen. Die Schüler, unter ihnen Secondo Balsarini, gingen täglich den alten Säumerweg hinunter nach Brosio zu Fuß. Und wo sind die Einwohner heute?

    "Die Leute von Cavaione sind überall in der Schweiz, in Zürich, in Basel, im Tessin, in Genf und die kommen alle wieder im Sommer, ja. Diejenigen, die hier aufgewachsen sind kommen alle."

    Strom kam 1958. Bald wurde aus dem Säumerweg eine Zufahrtsstraße. Dann ging es bergab: Die meisten Jungen zogen ins Tal, fanden dort ihr Auskommen. Ein paar Postfächer befinden sich am Dorfeingang. Wir wollen weiter hinauf und steuern eine zweistöckige Steinhütte an.

    Sie steht auf einer gerodeten Fläche am Wald. Die Hütte auf 2092 Metern Höhe ist eine ehemalige "Maiensäss", denn im Mai wird das Vieh auf die Almen getrieben. Heutzutage übernachten hier vor allem Wandergruppen. Wer das Valposchiavo auf Höhenwegen in unberührter Natur umrunden möchte, kommt unweigerlich zum Rifugio Li Piani. Eben hat Plinio Pianta – ein temperamentvoller Anwalt aus Brusio - 30 Jungen verabschiedet und wieder Ordnung gemacht:

    "Wir haben alles ursprünglich so gelassen, das war das alte Stall, das hat man restauriert zum Salon und hat auch hier eine Gastwirtschaft geführt vor zwei, drei Jahren, jetzt haben wir aufgeräumt, wir haben 30 Jungen, ein Ausflug, sechs Väter, die Mütter weg, wir wollen euch nicht mehr sehen, jeden Monat machen sie einen Ausflug und da haben sie uns gefragt, ob sie hierherkommen könnten."

    Hütte und Mobiliar altertümlich, der große Schlafsaal unter dem Dach romantisch eingerichtet. Das Richtige für einen Abenteuerurlaub. Das Panorama ist atemberaubend!
    Es ist ein einmaliges Wandergebiet, auf den einsamen Höhenwegen des Valposchiavo. Entlang ausgedehnter Weiden in einer kontrastreichen Natur. Das Gras auf den Hängen ist als Heu für die Kühe so nahrhaft, dass sie mehr Milch produzieren als im Tal:

    "Ist genau dasselbe mindestens zehn andere Ladungen drunten. Weil, dies ist so nahrungsvoll, die von der Gemeindealp drunten in Peschava haben das begriffen, haben die Kühe hinaufgebracht, für Milchproduzieren ist wichtig das Gras, das hier von der Wiese ist."

    Die Bahn mit ihren roten Wagen bringt uns zurück nach Poschiavo. Zwischen Brusio und dem Lago di Poschiavo dreht der Zug eine Runde auf dem Kreisviadukt. Vom Bahnhof führt eine kurze Straße hinunter zum Flüsschen Poschivina, das überqueren wir, laufen an Blumengärten hinter den Häusern und an Hotels vorbei, um Maria Olgiati zu treffen, eine adrett gekleidete, jung wirkende Frau, deren Familie schon sehr lange in Poschivo ansässig ist.

    "Wenn ich etwas abmache, dann Treffpunkt: Platz, la Plazza da Commune heißt eigentlich. Jetzt, dieser Platz in dieser Form ist eigentlich nach 1850 entstanden, in dem Moment, als dadurch die fahrbare Berninastraße ausgebaut wurde. In dem Moment dieses klassische Haus wurde nicht mehr Wohnhaus, sondern Hotel. Es war eigentlich das älteste Hotel, das wir im Dorf hatten. Beim großen Eingang, da konnten die Fuhrmänner, oder sagen wir die Säumer, da übernachten und dann gleich mit dem Karren von Wein hauptsächlich, aber auch andere Produkte, über den Pass dann gegen Norden fahren."

    Im ältesten Hotel sitzt niemand. Die Gäste genießen draußen, unter breiten Sonnenschirmen, den Blick auf "la Plazza". Sehen und werden gesehen. Die Graubündner in Poschiavo spüren noch immer italienisches Blut in ihren Adern. Ihre Kochgewohnheiten orientieren sich an Italien, bei Schule und Arbeit bleiben sie in der Schweiz.

    Am Ende von la Plazza erhebt sich la Tor, das Stadttor - der mittelalterliche Turm mit der Glockenpartie geht auf das 13./14. Jahrhundert zurück. Im großen Saal dahinter wurde prozessiert, fanden Gemeindeversammlungen statt:

    "In diesem Moment, da Poschiavo eigentlich unter der Herrschaft der mächtigen Familie Visconti aus Mailand war. Auf einmal - im 19. Jahrhundert - befindet sich Poschiavo in einer Armutssituation, und da müssen eigentlich diese Poschiavini auswandern. Sie wurden eigentlich Zuckerbäcker, und diese Zuckerbäcker, die lebten eigentlich auch mehrere Jahre im Ausland, meistens Spanien, Portugal, sogar Russland, Polen, und da wurden sie wohlhabende Leute, die gerne wieder nach Hause kamen, und da brachten sie natürlich das Geld, um Häuser auszubauen."

    Heute ist kein klassischer Zuckerbäcker mehr in Poschiavo zu finden. Es gibt andere Spezialitäten, wie das helle Ringbrot mit Roggen und Anis, wie die typische Mortadella oder Biokäse. Und der Wein ist meist ein Veltliner aus Italien.

    Wir verabschieden uns herzlich von Maria Olgiati und betreten– vom Seiteneingang her - den Palazzo De Bassus-Mengotti. Das Barockgebäude nahe der Bahnlinie ist eines der wichtigsten Herrenhäuser des Tals.

    Hier hat die Tessitura di Valposchiavo ihren Sitz. Seit über einem halben Jahrhundert werden in der Handweberei kostbare Stoffe in bunten Farben aus Naturfasern gefertigt, auch nach individuellen Wünschen. Der Laden ist im Erdgeschoss, eine Treppe höher die Weberei:

    "Allora !... oben wäre die Chefin, die weiß mehr vom Ganzen."

    Die Chefin, Wanda Niederer, stammt aus der Deutschschweiz. Sie hat von dieser Weberei vor fünf Jahren aus der Zeitung erfahren. Darin wurde per Inserat eine neue Leiterin gesucht. Die Tessitura di Valposchiavo ist einer von nur noch zwei Betrieben in der Schweiz, die mit Handwebstühlen arbeiten. Verkauft wird im Laden, geliefert in die Deutschschweiz, für Firmen und Innenarchitekten.
    Wanda Niederer reizte es, gemeinsam mit fünf Weberinnen und zwei Schneiderinnen, das - im wahrsten Sinne des Wortes - Hand-werk weiterzuführen:

    "Das Schiffchen geht bei uns hin und her, und weil es natürlich da ‘rauskommt und dann wieder zurückgeht, auf die andere Seite, schlingt es den Faden um den letzten Kettfaden, und das gibt natürlich die Webkante, und dann sehen Sie natürlich auch die Fadendichte, das kann nicht so regelmäßig sein wie ein maschinell hergestelltes Gewebe, also es hat auch eine gewisse Lebendigkeit."

    Nach diesem Abstecher ist es nicht mehr weit zum Bahnhof. Bis 1910 war Poschiavo ein Bauerndorf. Dann kam die Bahn, später ein Energiebetrieb. Beide brachten Arbeit ins Städtchen.
    Dass am Bahnhof immer Betrieb ist, dafür sorgt die nun 100-jährige Berninabahn. Deren E-Loks und Wagen werden hier repariert und gewartet.

    Vor der Werkstatt erwartet uns Mauro Isepponi. Mittelgroß, mit kurzen, grauen Haaren, mit blau-orangefarbener Warnweste. Der 40-Jährige führt uns über die Gleise. Die ersten drei gehören zum laufenden Zugverkehr, die restlichen führen in die langgestreckte Halle. Dorthinein werden defekte Triebwagen rangiert.

    Die knallroten Triebzüge der neuesten Generation sind schick von vorn anzusehen, mit sich nach oben verbreiternden Holmen und wuchtiger, grauer Schneeschürze. Aber nicht nur das, sie sind auch umschaltbar auf das Stammnetz der Schweizer Bahnen:

    "Die könnten mit 1000 Volt und auch auf Stammnetz fahren. Die könnten von Tirano bis Landquart fahren, ohne Umsteigen."

    Es geht vorbei an der "Giraffe", einem hohen Triebwagen, der für Fahrdrahtreparaturen genutzt wird, an einer Schneeschleuder, die winters, wenn Eis den Fahrdraht umschließt, von einer Diesellok geschoben wird. Zweimal im Jahr werden die Wagen kontrolliert, die E-Loks jeden Abend, und für plötzliche Fälle steht ein Hilfszug bereit.

    "Wenn’s nötig ist. Hat Hebebrücke installiert, hydraulische Hebebrücke und mit dieser könnten wir nach einer Entgleisung einen Triebwagen wieder ins Gleis nehmen. Das passiert selten, aber manchmal passiert es."
    "Also für die Bernina ist, der Unterhalt für alle Triebwagen von der Bernina ist in Poschiavo."

    Unsere Rückfahrt verläuft steil und kurvenreich bergan. Am Bahnhof Alp Grüm vor dem gewaltigen Palügletscher entdecken wir am Bahnhofsgebäude japanische Schriftzeichen. Seit 1979 gibt es eine Partnerschaft mit der japanischen Eisenbahnlinie Hakone-Tozan, südlich von Tokio. Die Lokomotive 54 der Rhätischen Bahn trägt die japanische Flagge und die Aufschrift "Hakone", und in Japan trägt eine Triebwagenserie den Namen "Bernina".

    Spätestens jetzt kommt uns das Puschlav nicht mehr abgelegen oder vergessen vor; die Welt ist hier längst gewesen!