Der Titel "La vie sexuelle de Catherine M" kam mir ganz spontan. Und mein Name, der in der französischen Kunstkritik doch ein wenig bekannt ist, sollte nicht als Titel herhalten. Der Titel verdeutlicht, dass ich beim Schreiben eine gewisse Distanz zu der beschriebenen Person aufgebaut habe.
Aber all diese Berichte über sexuelle Eskapaden mit Männern ohne Gesicht, die alle Schlange stehen vor den geöffneten Schenkeln der Catherine M., sind mit seltsam kalter Hand geschrieben. Präzise Auflistungen von Stellungen, peinlich genaue Meldungen von Erfolgszahlen wieviele Männer an welchem Abend befriedigt wurden. An einer Stelle schreibt sie: "Es hätte auch mein Vater dabeisein können, ich hätte es nicht gemerkt." Das gruseliges Panoptikum einer anonym-sexuellen Maschinenwelt.
Der französische Soziologe Jean Beaudrillard hat Millet bescheinigt, dass sie offenbar "das Stadium der höchstmöglichen sexuellen Automatisation" erreicht hat. Und außerdem darauf hingewiesen: "Wenn alles gezeigt ist, merkt man erst, dass es nichts mehr zu sehen gibt!"
Mario Vargas Llosa, peruanisch-spanischer Romancier von Weltrang schreibt in einer insgesamt sehr positiven Kritik über "La vie sexuelle de Catherine M." : " Die Autorin berichtet von ihrem Sexualleben eiskalt und akkurat, so wie Leute arbeiten, die kleine Schiffe in Flaschen bauen oder ganze Landschaften auf Stecknadelköpfe malen. Das liest sich oft deprimierend."
In Frankreich wurde das Buch von der Kritik überwiegend gut aufgenommen. Die Le Monde widmete ihm bei Erscheinen zwei Zeitungsseiten und einer der Artikel dort endete mit den Worten: "Scheinheiliger Leser, missgünstige Leserin, geben Sie es ruhig zu: Diese junge Frau hat sich für Sie befreit!"
Bernard Pivot, der Reich-Ranicki des französischen Fernsehens, adelte das Buch in seiner Sendung zum "Klassiker der Erotik".
Eineinhalb Jahre hat Catherine Millet an dem Bericht ihrer Sexualkarriere geschrieben, und Denis Roche, Herausgeber einer eigenen Reihe im links-katholischen Verlag Seuil, berichtet im Magazin L'Express, wie er das Manuskript seiner Freundin und Nachbarin eines Abends vor der Haustür fand. Er fing sofort an zu lesen und sein erster Gedanke war: Dieses Buch wird ein Skandal. Er hatte Angst um Catherine, denn, wie er schreibt : "Sie hat ein hohes Risiko auf sich genommen, weil in der Szene, in der sie verkehrt, verzeiht man nichts, außer dem Erfolg."
Zuerst wagte der Verlag nur eine Mini-Auflage von 6000 Stück. Aber die Nachfrage war sofort überwältigend. Ohne Werbung, ohne Vorabdrucke in Illustrierten. Binnen eines viertel Jahres sind inzwischen 280 000 Exemplare von "la vie sexuelle de Catherine M." an die Buchhändler ausgeliefert worden. Catherine Millet:
Meine sexuellen Praktiken sind nicht exzentrisch. Und das ist es auch, was den Erfolg dieses Buches erklärt. Wenn das was ich gemacht habe, nun sado-masochistsch gewesen wäre, hätte das bei vielen Lesern wahrscheinlich einen großen Widerstand hervorgerufen, denn das wäre schockierend gewesen, viele hätten Angst bekommen. Das was ich erzähle ist die Verwirklichung von Phantasien, die ich mit vielen Leuten teile und die mit Leichtigkeit für jedermann zu realisieren sind. Selbst wenn die Leser diese Art sexueller Erfahrung, der ich mich ausgesetzt habe, noch nie gemacht haben, waren sie doch alle mal kurz davor und haben die Phantasien noch gut in ihren Köpfen.
Millets Sex-Bekenntnisse sind von ihr nicht als künstlerische Happenings gemeint - wie zum Beispiel die Performances der Engländerin Tracey Emin, die einmal ein Zelt aufstellte, gespikt mit hunderten von Namenszettel unter dem Motto "Whom I ever slept with 1968 -1995" - Catherine Millet sieht ihr Buch als persönliches Postulat: Seht her, das ist alles möglich. Und es tut gut.
Wir besinnen uns heute der sexuellen Befreiungsversuche der siebziger Jahre, haben aber den politsch-utopischen Balast dieser Jahre inzwischen abgeworfen. So dass wir über Sex nachdenken können in einer Weise, die weder militant libertär ist, noch das Problem der Eifersucht leugnet. Vielleicht sind wir heute an einem Punkt, dass wir neu über Sex nachdenken können.
Catherine Millet wuchs in einer Vorstadt von Paris auf und wurde im katholischen Glauben erzogen. Der Vater war Fahrschullehrer, die Mutter Sekretärin. Beide Eltern hatten ganz offen Geliebte nebenher und das Mädchen Catherine überraschte die Mutter auch schon mal beim Stelldichein mit einem Liebhaber.
Als Jugendliche war ich sehr prüde und entsprechend schockiert vom Verhalten meiner Mutter. Aber ich glaube, ich habe so sehr früh die Realitäten des Liebeslebens kennengelernt.
Als Mädchen habe ich übrigens fest an Gott geglaubt. Und bin dann später, so mit 18, ganz natürlich vom Glauben an Gott zu meinen sexuellen Praktiken übergewechselt. Das war eine Verschiebung, keine Überlagerung.
Bleibt die Frage: Was bewegt eine reife, gebildete Frau aus den besten Kreisen, hunderte von Seiten lang über ihre öffentlichen sexuellen Ausschweifungen Protokoll zu führen?
Weil es ein solches Buch nocht nicht gibt, nicht von einem Mann geschrieben und nicht von einer Frau. La vie sexuelle de Catherine M. ist ein noch nie dagewesenes exaktes, präzises, ehrliches Zeugnis der individuellen Sexualität einer Person. Was wir im französischen Literaturkanon schon haben sind eine Menge erfundener Geschichten mit moralischen oder philosophischen Betrachtungen über Sexualität. Aber es gibt keine Dokumentation der Wirklichkeit. Und ich bin stolz darauf, ein Dossier geschrieben zu haben, dessen sich die Leser auch wirklich bedienen, sich daran messen, darauf reagieren.
Und dann sagt sie noch, sie habe das Buch eigentlich für Frauen geschrieben. Denn Frauen lesen Bücher und sie habe Lust auf einen Dialog mit Frauen. Die Verkaufsstatistiken der Buchhändler bestätigen auch, dass von den 5000 Käufern täglich die meisten Frauen reiferen Alters sind. Aber die Masse der Reaktionen, kommt von Männern. Ist nicht eigentlich auch die Art der anonymen Sexualität, die Catherine Millet in ihrem Buch beschreibt eine, die man eher im Milieu homosexueller Männer vermuten würde?
Ungeachtet dessen, dass es oft eine weibliche Organisatorin der Orgien gibt, sind es die Männer, die die Zusammenkünfte dominieren. Und was ich beobachtet habe ist, dass die Männer auf diesen Treffen von einem homosexuellen Verlangen getrieben werden. Sie fühlen sich unter sich und die Frau fungiert als eine Art Bindeglied zwischen den Männern. Die homosexuelle Komponente bleibt aber verdeckt und wird nicht eingestanden. Ich glaube, dass das eine der verborgenen Wahrheiten der Orgien ist.
Seit 11 Jahren ist Catherine Millet mit dem Schriftsteller Jacques Henric verheiratet. Er teilte die sexuellen Vorlieben seiner Frau nie, war aber immer an den Geschichten interessiert, die sie ihm hinterher erzählt hat. Heute, sagt Catherine Millet, sei sie ziemlich monogam geworden. Die Distanz zu ihrer Vergangenheit hätte es ihr überhaupt möglich gemacht "Das sexuelle Leben der Catherine M." zu schreiben.
Hingegen, und da hebt sie abwehrend die Hände, ein Buch mit dem Titel "Das Gefühlsleben der Catherine M." werde ich nie schreiben. Denn, wie sie noch sagt: "Was in meiner Seele los ist, das geht die Öffentlichkeit nun wirklich nichts an."