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Das Sonnenblumenmädchen

"Das Sonnenblumenmädchen!" ist der Abschluß einer Roman-Trilogie, deren Teile jeweils einer Frauenfigur gewidmet und einer Farbe zugeordnet sind: Die Dame in Blau, die in dem gleichnamigen ersten Roman nur flüchtig auftaucht und die Protagonistin so beeindruckt, daß sie ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt, ist die Heldin des zweiten Romans "Die Klatschmohnfrau", in dem die Farbe Rot dominiert. Und sie ist die Großmutter der kleinen Mathilde, die im Mittelpunkt des neuen Romans "Das Sonnenblumenmädchen" steht.

Gernot Krämer |
    Aber Noëlle Châtelets Frauen sind nicht nur miteinander verwandt, sie kennen auch so etwas wie ein "geheimes Einverständnis", das die Generationen übergreift und verbindet. Dazu Noëlle Châtelet:

    "Ja, das nennt man weibliche Solidarität, aber es geht noch um viel mehr. Ich glaube, daß Frauen von Natur aus philosophischer sind als Männer. Durch die ständigen Veränderungen ihres Körpers denken sie viel über die Natur nach und über den Weg, den sie vom kleinen Mädchen zur Großmutter zurücklegen, was ja mehr oder weniger das Thema dieser Trilogie ist. Sie hören einander zu, sie verstehen sich, sie versuchen ihre Erfahrungen auszutauschen."

    Behutsam, unaufwendig, mit leichter, nie entblößender Ironie schildert Noëlle Châtelet Stadien des Übergangs, schildert Wendepunkte im Leben dieser Frauen: Eine Fünfzigjährige gibt plötzlich den Kampf gegen das Älterwerden auf. Sie verweigert den täglichen "Gruß an die Flagge der Schönheit", entläßt ihren verdutzten Liebhaber in die Freiheit und widmet sich mit Genuß dem neuen Lebensabschnitt, der für sie das Alter ist.

    In ihrem Roman "Die Klatschmohnfrau" hat Noëlle Châtelet das Thema des Alterns weiter verfolgt und erzählt, wie sich Marthe, die siebzigjährige "Dame in Blau", in einen noch um zehn Jahre älteren Maler verliebt. In "Das Sonnenblumenmädchen" schlägt sie einen großen Bogen zurück in die Kindheit, zu Marthes Enkelin Mathilde. Auch die verliebt sich, zum ersten Mal in ihrem sechsjährigen Leben, und zwar in den Waisenjungen Remi mit der riesigen Zahnlücke.

    Es sind kleine Ereignisse, die die Handlung des Romans ausmachen, Ereignisse während eines Sommerurlaubs in der Provence: Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter, der Neid auf eine elegantere Freundin, ein Badeausflug, Pflanzen, Tiere, die Schaukel im Garten... Aber die Kleinheit oder Größe eines Ereignisses ist vor allem eine Frage des Zeitpunktes und der Perspektive. Für die kleine Mathilde ist fast alles, was sie erlebt, neu. Ihr Gedächtnis reicht kaum weiter als zu den Sommerferien des letzten Jahres, die sie am Meer verbracht hat, gemeinsam mit jener bloß Er genannten Person, die nie auftaucht und immer präsent ist: dem Vater. Vage erinnert sich Mathilde an Türenschlagen und lauten Streit mit der Mutter.

    Diesmal ist es ein Urlaub "unter Frauen", hat die Mutter gesagt, mit ihrer Freundin Christiane und deren Tochter Bénédicte. Zum ersten Mal als Frau angeredet zu werden, erfüllt Mathilde mit großem Stolz, denn sie glaubt: "Eine Frau ist wie ein Mädchen, aber es kommt noch etwas hinzu, etwas so Geheimnisvolles, so Verlockendes, daß es die Mädchen dazu bringt, an Türen zu horchen und durchs Schlüsselloch ins Badezimmer zu gucken."

    Innerhalb des Farbspektrums, das Noëlle Châtelet ihren Romanen zugewiesen hat, steht "Das Sonnenblumenmädchen" für das Gelb: die Farbe der Sonnenblumen, der Aprikosen, der Erde. Dazu Noëlle Châtelet:

    Was das Gelb betrifft, assoziiere ich es in diesem Roman mit der Liebe, die Mathilde zum ersten Mal entdeckt und die ich mit der durch die Sonnenblume symbolisierten Sonne gleichsetze. Sie wird von dieser ersten Liebe geblendet, wie man von der Sonne geblendet wird. Der Übergang zum Gelb, einem immer intensiveren Gelb, einem immer sengenderen auch, begleitet sie dabei. Die Farben sind für meine Figuren gleichzeitig Metapher und Initiation.

    Als Mathilde nach Wochen die Heimreise antritt, hat sich eigentlich nichts geändert, wenn man die Welt der Erwachsenen zum Maßstab nimmt. Mathilde aber hat Liebe, Eifersucht und Trennungsschmerz kennengelernt und sich zum ersten Mal von ihrer Mutter gelöst.

    Das alles ist mit einer gewissen Bonhomie, aber auch mit beachtlichem Einfühlungsvermögen in kindliche Seelenlagen dargestellt. Wie die Dame in Blau und andere ihrer Figuren scheut sich Noëlle Châtelet nicht, den einen oder anderen Augenblick des Erzählens zu vertrödeln. Aber dieses Trödeln hat System, es sind nicht Leerlauf und Betulichkeit, die sich auf diesen Seiten breitmachen, sondern der Vorsatz, einen eigenen Rhythmus der Wahrnehmung zu finden und sich dabei nicht hetzen zu lassen.