Dienstag, 23. April 2024

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Das soziale Gewissen der polnischen Regierung

Schmitz: Alle Wege führen nach Polen, jedenfalls, wenn es um die friedlichen Revolutionen in den sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas geht. Was mit dem Aufstieg der Solidarnosc 1980 begonnen hatte, endete bekanntlich 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Solidarnosc hatte Polens Kommunisten 1989 zu den ersten zumindest teilweise freien Wahlen in einem kommunistischen Land gezwungen. Eine der treibenden Kräfte der Opposition war neben Lech Walesa unter anderen Jacek Kuron. Jacek Kuron, einer der ersten Dissidenten des Landes wurde dann nach der Wende zweimal Arbeitsminister und als das soziale Gewissen der Regierung bezeichnet. Im vergangenen März war er 72 Jahre geworden, heute ist er nach langer Krankheit in Warschau gestorben. Lech Walesa würdigte ihn als unzweifelhaften Führer des antikommunistischen Kampfes in den siebziger und achtziger Jahren und als historische Persönlichkeit. Kuron war einer der ersten Kritiker am kommunistischen System Polens in den sechziger Jahren aber doch nicht als genereller Antikommunist, Bernd Musch-Borowska in Warschau?

Bernd Musch-Borowska im Gespräch | 17.06.2004
    Musch-Borowska: Nein, keineswegs. Kuron war eigentlich ein überzeugter Sozialist, ein Marxist. Und er hat in den sechziger Jahren gemeinsam mit Karol Modzelewski, die beiden waren damals Hochschulassistenten und beides überzeugte Parteimitglieder, haben sie einen offenen Brief an die Partei geschrieben und haben die Herrschaft der Nomenklatur über die Arbeiterschaft angeprangert und haben sich für Veränderungen und für Reformen eingesetzt. Jacek Kuron wurde für diesen offenen Brief auch verhaftet und dann zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt.

    Schmitz: Wie würden Sie denn, abgesehen von seinem sozialistischen Hintergrund, seine weltanschauliche oder ethische Perspektive beschreiben, des Politikers Kuron.

    Musch-Borowska: Also alle Weggenossen Jacek Kurons, alle namhaften Politiker hier in Polen bezeichnen ihn als einen sehr menschlichen Politiker. Er habe sich immer für die Schwächsten in der Gesellschaft eingesetzt und sei also ein sehr unnachgiebiger Kämpfer für Gerechtigkeit und Gleichheit unter den Menschen gewesen.

    Schmitz: Wie war es mit seinen religiösen Ansichten? Gehörte er auch zu einem Sozialismus, der gleichzeitig auch Kontakte zur katholischen Kirche hatte?

    Musch-Borowska: Also er war eher der Sozialist, die religiöse Komponente, das waren eher seine Weggefährten Lech Walesa oder auch Tadeusz Mazowiecki, die ja während der Entstehung der Arbeiterbewegung Solidarnosc gemeinsam mit ihm diese Freiheitsbewegung in Polen anführten. Und Jacek Kuron war gemeinsam mit Tadeusz Mazowiecki, mit dem Katholiken Tadeusz Mazowiecki einer der führenden intellektuellen Köpfe hinter dieser Freiheitsbewegung und da spielte wohl eher Tadeusz Mazowiecki den religiösen Part.

    Schmitz: Welchen Stempel hat er denn der Gewerkschaft und der späteren Regierungspartei Solidarnosc aufgedrückt?

    Musch-Borowska: Also er hat auf jeden Fall eine soziale Komponente dort hineingebracht. Nach den ersten freien Wahlen war er ja Arbeitsminister und in diesem neugegründeten Sozialministerium musste er sich also um die Schwächsten der Gesellschaft kümmern. Das Arbeitslosengeld heißt bis heute hier in Polen kuronjuwka, weil er derjenige war, der sozusagen diese Sozialhilfe in dem vom Umbruch geprägten Land ins Leben gerufen hat.

    Schmitz: Über Jahre hat Kuron in kommunistischen Gefängnissen gesessen, Sie haben es angedeutet, Herr Musch-Borowska, hat dann Polen sozusagen mit befreit, ist er also schon zeitlebens zu einem Mythos geworden oder war er davor immer gefeit?

    Musch-Borowska: Also so ein wenig war er schon so etwas wie ein Mythos. Er war immer so etwas wie eine graue Eminenz im Hintergrund, auch während der Zeit, in der er noch politisch aktiver war. Sein letzter großer politischer Auftritt war 1995 bei der Präsidentschaftswahl als Aleksander Kwasniewski gegen Lech Walesa antrat und dann auch Präsident wurde. Da war auch Jacek Kuron einer der Präsidentschaftskandidaten, er bekam damals etwa neun Prozent der Stimmen. Also eigentlich nicht sehr viel, obwohl er ein eben sehr beliebter Politiker im Land war. Und danach hat er sich dann auch aus der Politik zurückgezogen und hat seitdem nur noch im Hintergrund gewirkt, also mitunter bei einigen öffentlichen Auftritten, aber vor allem publizistisch durch Zeitungsartikel und verschiedene Bücher.

    Schmitz: Durchaus als Stimme wahrgenommen im Land oder war es eine leise gewordene Stimme, die auch nicht mehr wahrgenommen wurde in den letzten Jahren?

    Musch-Borowska: Also seine Stimme wurde in der politischen Diskussion durchaus wahrgenommen. Noch im vergangenen Jahr gehörte Jacek Kuron zu den prominenten Unterzeichnern eines Aufrufes gegen den Irakkrieg, er hat sich gleichzeitig aber auch gegen den Terrorismus ausgesprochen und immer wieder für Menschlichkeit und für Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Er war eine wichtige historische Persönlichkeit und in den vergangenen Jahren nicht mehr so präsent in der politischen Diskussion.

    Schmitz: Bernd Musch-Borowska über den Tod des polnischen Politikers und Solidarnosc-Mitbegründers Jacek Kuron.