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Das Sternheim-Projekt

Dass man Sternheim kaum noch spielt, hat seine Gründe. Seine Stücke verhandeln Probleme, die nicht mehr die unseren sind: Untertanengeist, sexuelle Bigotterie, hemmungsloser Egoismus unter der Tarnkappe beamtischer Pflichterfüllung – so what. Das allein aber wär nicht so schlimm, wenn man die Personen psychologisch ausdifferenzieren könnte. Bei Figuren, die sich über den unabsichtlichen Verlust einer weiblichen Unterhose bei der Kaiserparade ("Die Hose" heißt das Stück) aufregen und stundenlang erotisch grundierte Untermiet-Verhältnisse diskutieren, die also schon vom Autor demontiert und lächerlich gemacht werden, scheint dies ein schwieriges Unterfangen. Zwar gibt es auch heute enthusiasmierte Popkonzertgängerinnen, die ihre Slips auf die Bühne werfen – aber der Bezug ist schwer herzustellen. Man müsste dann vor allem auch die depressive Seite des Ehe-Spießers Theobald Maske zeigen, den voyeuristischen Schwächling, der durch die attraktive Gattin gedemütigt ist. Das aber wäre ein wirklicher inszenatorischer Umbau des Stückes.

Von Christian Gampert |
    Noch vertrackter wird die Lage dadurch, dass auch Sternheims Sprache der säuerliche Geruch des Wilhelminismus anhaftet: er ist mit der telegramm-artigen, schal-expressionistischen Pseudophilosophie, die er seinen Figuren um 1910 in den Mund legt, genau der verdruckte, verklemmte Kleingeist, den er angeblich kritisiert. Sternheim ist der Paradefall des schizoiden Autors: einerseits sind seine Stücke die pure Spießer-Satire (und in "Bürger Schippel" und der "Kassette" gelingt das ja auch halbwegs), andererseits feiern sie nietzscheanisch den sich Bahn brechenden individuellen Egoismus als Alternative zu Sozialismus und Kaiserreich.

    Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt hat Sternheims Technik wohlwollend als die der "kalten Komödie" eingestuft und geflissentlich übersehen, dass diese Tiefkühlkost schon längst ziemlich vermodert im Gefrierfach, im Fundus der Theater liegt. Und damit den Schauspielern die Worte nicht im Munde zerfallen, neigen die Regisseure nun zum hysterischen Agieren, zum körpertheatralischen Aufblasen der armseligen Kleiderständer, die Sternheim uns hinterlassen hat.

    So auch Volker Lösch in Stuttgart, der einen rein sportiven Ansatz zelebriert. Im langweiligen Rund eines Leichathletik-Stadions, die Welt ist eine Rennbahn, hat er eine hölzerne Weltplatte installiert, die später einem Laufsteg Platz macht. Dort setzt er die erotischen Wirrnisse der Kleinbürger-Familie Maske als Kasperltheater für Erwachsene ins Bild: die Maniriertheiten von Sternheims Sprachduktus werden direkt übersetzt in Körpergezappel aller Art. Kein Satz, der nicht mit einer Geste verdoppelt würde. Nur nichts unklar lassen! Quietschender Sex aus der Muppet-Show, zelebriert von Spießer Maske höchstselbst, zitternde Annäherungsversuche eines von Richard Wagner besoffenen Frisörs an Luise Maske, irre exaltierte Posen von Monsieur Scarron, dem vorgeblichen Dichter und Hausfreund der Maske-Gattin.

    Danach, im zweiten Stück, "der Snob", als der in günstiger Haushaltslage endlich gezeugte Stammhalter der Maskes, Christian, seinen Aufstieg zum unternehmerischen Generaldirektor und seine Einheirat in den Adel bewerkstelligt, fallen Regisseur Lösch vor allem Hebefiguren aus dem Eiskunstlauf und ein merkwürdig galoppierendes Gehoppel für den Aufsichtsratsvorsitzenden ein – Großindustrie goes Iffezheim. Im vollends überflüssigen Schlusskapitel, "1913" ist es betitelt, dräut schon der erste Weltkrieg; der nun greise Christian Maske darf auf der Bühne Windeln tragen und will seinen Nachkommen gesunden Geschäftssinn beibiegen – aber die machen dubiose Waffengeschäfte oder absolvieren als Nackedeis einen Crashkurs auf dem Bobby-Car.

    Die infantile Inszenierung des Volker Lösch ist kein einmaliger Unfall. Das Stuttgarter Ensemble fällt auseinander; es gibt offenbar niemanden mehr, der sich der Vergewaltigung des Schauspielers durch einen hysterischen Regisseur ernsthaft widersetzt. Offenbar hält man diesen Dilettantismus, der zwischen altbackener Commedia und neumodischem René-Pollesch-Gequatsche pseudokritisch vor sich hinhampelt, allen Ernstes für Theater.

    Friedel Schirmer, der als Stuttgarter Intendant solche Inszenierungen über die Bühne lässt und in einem Jahr in Hamburg antreten will, wird sich neu orientieren müssen. In der Hansestadt sollte er anderes bieten als, wie bei Sternheim, dreieinhalb Stunden Langeweile, Turnübungen und feuchte Aussprache.