O-Ton Oskar Lafontaine im Deutschlandfunk: Wir sind für Steuersenkungen und für Steuererhöhungen. Wir sind für Steuersenkungen bei denen, die geringe Einkommen haben, also etwa die Facharbeiter oder die Kleinbetriebe. Da wollen wir den jetzigen Einkommenssteuertarif absenken. Der hat nämlich einen Bauch. Das heißt, die wirklichen Leistungsträger unserer Gesellschaft werden überproportional besteuert. Aber auf der anderen Seite wollen wir ran an die großen Vermögen, an die großen Erbschaften und an die hohen Einkommen.
Dirk Müller: Oskar Lafontaine vor gut einer Stunde hier im Deutschlandfunk. – Darüber sprechen wollen wir nun mit dem Heidelberger Finanz- und Steuerrechtler Professor Paul Kirchhof. Guten Morgen!
Paul Kirchhof: Schönen guten Morgen.
Müller: Herr Kirchhof, können Sie nun die Linkspartei wählen?
Kirchhof: Ich glaube nicht, weil wir doch deutlicher fragen müssen, was dieser Staat, der hoch verschuldet ist mit mehr als 1,5 Billionen Euro, sich tatsächlich leisten kann. Richtig ist, dass wir diejenigen, die kleine Einkommen haben, deswegen in gegenwärtigen Zeiten sich besonders schwer tun, mittelfristig entlasten müssen. Da wäre der erste Weg die Umsatzsteuer, denn diese Umsatzsteuer trifft selbst denjenigen, der so wenig Einkommen im Jahr hat, dass wir ihn in der Einkommenssteuer ganz verschonen. Der Bettler und der Millionär zahlen dieselben 19 Prozent Umsatzsteuer, weil sie in der Anonymität des Marktes bleiben.
Da, meine ich, wäre eine große Aufgabe. – Das zweite, was ja gegenwärtig zu Recht sehr im Gespräch ist, ist ein Familiensplitting, die Entlastung der Familien, die normalerweise von einem oder anderthalb Einkommen der Eltern leben, mit mehreren Kindern. Und dann würden wir eine Regelung einführen, ähnlich dem gegenwärtigen Ehegattensplitting, die berücksichtigt, dass von diesem einen Einkommen sagen wir einmal drei, vier oder fünf Personen leben müssen, dass das also ein großer Unterschied ist gegenüber dem Alleinstehenden, der eben alleine von demselben Einkommen lebt.
Müller: Für mich, Herr Kirchhof, war der erste Punkt, den Sie genannt haben, jetzt auf die Schnelle zumindest widersprüchlich. Sie haben gesagt, wir haben einen großen Schuldenberg. 1.500 Milliarden haben Sie da genannt, 1,5 Billionen. Auf der anderen Seite fordern Sie Steuersenkungen. Wenn man die Steuern senkt, muss der Schuldenberg doch noch wachsen?
Kirchhof: Das ist gerade nicht der Fall. Wir haben eine einmalige Chance der Finanzierung, nämlich des Abbaus der vielen Privilegien, die das Einkommens- und Körperschaftssteuerrecht verfremdet. Wenn wir etwa gegenwärtig die Abgeltungssteuer einführen, einfacher Steuersatz 25 Prozent für alle bei ganz einfacher Bemessungsgrundlage ...
Müller: Was Sie richtig finden?
Kirchhof: ... , was ich richtig, sehr richtig finde, gleichzeitig aber Ausnahmen vorsehen für bestimmte Fonds, wo man dann doch noch die Erträge und die Veräußerungsgewinne steuerfrei empfangen kann, dann ist das ein großer Fehler.
Müller: Ist das passiert, weil man doch vor der Lobby wieder eingeknickt ist?
Kirchhof: Das kann ich nicht beurteilen. Ich beobachte nur, dass wir Hunderte von Ausnahmen von Privilegientatbeständen haben. Die Versicherungsgeschäfte sind heute vielfach Steuergeschäfte, die Bankgeschäfte sind Steuergeschäfte, der Schiffsbau wird in der Tonnagebesteuerung begünstigt und so fort. Das sind alles Fehlleitungen von Kapital. Der normale Bürger würde, wenn er alleine nach ökonomischer Vernunft handelte, so nicht investieren.
Müller: Wie viel Geld, Herr Kirchhof, kommt denn da zusammen?
Kirchhof: Na ja, das sind viele Milliarden. Es gibt ja ganz prägnante Berechnungen. Das sind sehr viele Milliarden und wir müssen die Entlastungsproblematik mit der Privilegienproblematik verbinden. Dann haben wir zwei Effekte: Die Fehlleitungen, die durch die Steueranreize stattfinden, der Staat verlockt durch Steueranreize den Menschen zu einem wirtschaftlichen Verhalten, das er aus eigener Vernunft so nicht wählen würde, das ist das eine Problem. Also er verlockt sie vielfach in die wirtschaftliche Unvernunft. Wenn wir dieses beseitigen würden, hätten wir schon einen Großteil der steuerlichen Verfremdungen vernünftigen Wirtschaftens beendet. Und wenn dann gleichzeitig, weil die Privilegien entfallen, der Staat mehr Geld einnimmt, dann gewinnt er ein Finanzierungspotenzial, um eben etwa bei der Umsatzsteuer, etwa beim Familiensplitting dort zu entlasten, wo es am dringendsten notwendig ist. Das allerdings braucht Zeit und deswegen habe ich Verständnis dafür, dass in der gegenwärtigen Diskussion gesagt wird, nun wollen wir nichts überstürzen, lasst uns das gut vorbereiten, damit das nun auch wirklich eine gute Reform wird.
Müller: Aber haben wir, Herr Kirchhof, denn im Moment in dieser jetzigen Situation - immer mehr Branchen werden auch in diese Krise hineingezogen – tatsächlich noch Zeit?
Kirchhof: Die Steuerreform ist dringend notwendig. Nur eine überstürzte schlechte Steuerreform würde wieder Anlass geben, dass die Menschen ihr Kapital falsch einsetzen, dass sie ihr Verhalten sozusagen nach Steueranreiz bemessen statt nach ökonomischer Einsicht, und das würde unsere Krise erschweren, nicht erleichtern.
Müller: Also ist das richtig, wenn die Kanzlerin die ruhige Hand fährt?
Kirchhof: Es ist im Moment richtig, dass die Kanzlerin die ruhige Hand fährt, parallel mit der sorgfältigen und zielstrebigen Vorbereitung einer beachtlichen Grundlagenreform.
Müller: Aber was würden Sie als Finanzminister jetzt initiieren, um schnell zu handeln, einen Weg aus der Finanzkrise und Wirtschaftskrise zu finden? Steuersenkungen, ad hoc Steuersenkungen, wäre das möglich innerhalb der nächsten zwei, drei Monate?
Kirchhof: Nochmals: Der Staat ist hoch verschuldet. Er wird sich bloß durch Steuersenkungen jetzt nicht weiter beschweren können. Der richtige Ansatz ist Abbau der Steuervergünstigungen, der Lenkungstatbestände, der Ausnahmetatbestände. Dann gewinnt man ein hohes Finanzvolumen und dann wird man dieses aufkommensneutral an die Allgemeinheit der Steuerpflichtigen zurückgeben, vor allem zur Entlastung der Kleineinkommen beim Konsum, bei der Umsatzsteuer, und natürlich auch durch höhere Freibeträge – das ist das wichtigste – für die kleinen Einkommen bei der Einkommenssteuer.
Müller: Jetzt haben wir, Herr Kirchhof, darüber geredet, dass es generell aus Ihrer Sicht zu einer umfassenden Steuerreform mit neuen Prioritäten und Schwergewichten kommen muss.
Kirchhof: Ja.
Müller: Wir sind auf der anderen Seite von der jetzigen Situation ausgegangen. Das heißt, was kann man jetzt tun, was kann man in dieser Situation der Rezession tun. Haben Sie dort einen Vorschlag?
Kirchhof: Ich verweise immer wieder darauf, nichts überstürzt zu tun. Wir haben ein fundamentales Problem im Einkommens- und Körperschaftssteuerrecht. Der Mensch in Deutschland weiß nicht mehr, was sich steuerlich gehört. Wir haben keine Grundsatzwertung mehr, etwa was der ehrliche Kaufmann, was der anständige Bürger zu tun hat. Das liegt daran: Wir haben eine solche Fülle von Durchbrechungen und Systemwidrigkeiten, Ausnahmetatbeständen im Steuerrecht, dass jeder meint, wenn das Steuerrecht von ihm eine Leistung fordert, eine Geldzahlung, er solle der ausweichen. Normalerweise akzeptieren wir ein Gesetz, wenn es uns sagt, wir sollen im Straßenverkehr uns ordentlich benehmen, wir sollen im Umweltrecht uns anständig benehmen. Dann sagen wir jawohl, das gehört sich, das tun wir. Wenn im Steuerrecht eine Forderung kommt, gehen wir zum Steuerberater und fragen, kann ich das nicht vermeiden. Wir beobachten sogar mit großem Staunen, dass es Menschen gibt, die wirtschaftlich sehr erfolgreich sind, die so erfolgreich sind, dass sie sich ihr Leben ökonomisch angenehm gestalten können.
Müller: Also der Zumwinkel-Effekt.
Kirchhof: Ich würde den Namen Zumwinkel nicht nennen, weil da zunächst einmal die Unschuldsvermutung gilt. Ein Mensch in Deutschland ist unschuldig, bis der Strafrichter gesprochen hat. Aber meine Überlegungen gehen natürlich in diese Richtung. – Also Menschen, die niemals um Geld zu erzielen einen Banküberfall machen würden. Das kommt überhaupt nicht in Betracht. Darüber denken die nie nach, weil sich das nicht gehört.
Müller: Was ja auch nicht schlecht ist.
Kirchhof: Was sehr gut ist. – Aber sie sind bereit, die Allgemeinheit zu schädigen, denn wenn der eine seine Steuern nicht zahlt, muss der andere mehr bezahlen - das sind wir alle – durch die steuerliche Illegalität, durch die strafbare Steuerhinterziehung mit dem Risiko des Freiheitsentzuges. Da wird deutlich: Das Steuerrecht hat seine innere Autorität verloren, und das ist das Kernproblem unserer ganzen Debatte.
Müller: Das heißt, Herr Kirchhof, die Steuermoral ist deshalb so schlecht, weil unser Steuersystem so schlecht ist?
Kirchhof: So ist es. Damit entschuldige ich nichts, sondern ich weise nur auf die Gründe hin. Das Grundprinzip lautet gerade auch im Strafrecht, dass jeder, der möglicherweise straffällig werden würde, im Vorhinein das Gesetz lesen kann und dem Gesetz entnehmen kann, was der Staat von ihm erwartet. Wenn wir dieses Verfassungsprinzip – darf ich das noch sagen – auf die Steuerhinterziehung anwenden, wird der Bürger vielfach im Gesetz das, was der Staat von ihm erwartet, nicht lesen können, weil er es nicht versteht.
Müller: Ohne zu ausführlich zu werden, Herr Kirchhof, gehen wir doch noch einmal ganz kurz auf die Genese ein. Warum ist das alles so gekommen? Warum ist das Steuerland Deutschland ein Land mit Ausnahmetatbeständen?
Kirchhof: Es gibt zwei Gründe. Einmal unmittelbar nach dem Krieg von 1946 bis '51 haben uns die Alliierten gezwungen, Spitzensteuersätze von 95 Prozent zu erheben. Das war ein Unding. Da kann keine Wirtschaft florieren, schon gar nicht eine kriegszerstörte Wirtschaft. Also musste man Ausnahmetatbestände machen, so viel, dass nur noch das halbe Einkommen steuerbar ist, und 95 Prozent auf das halbe Einkommen sind 47,5, dann wird das erträglich. Aber seit 1951 hätte der Gesetzgeber diese Torheit, an der wir noch heute leiden, überhöhte Steuersätze und löchrige Bemessungsgrundlagen, beenden können. Und dann hat er entdeckt: Man kann durch Steuern steuern. Ich kann durch höhere Steuern den Menschen veranlassen, etwas nicht zu tun, und durch niedrige Steuern den Menschen veranlassen, etwas zu tun, was der Staat will. Damit ist im Grunde der fundamentale Fehler in dieses Steuerrecht hinein gekommen. Es ist nicht mehr nur Finanzierungsinstrument, sondern es ist Lenkungsinstrument.
Müller: Wenn Sie das, Herr Kirchhof, so skizzieren – Sie haben jetzt von den 50er Jahren geredet, ein ganz, ganz hoher Spitzensteuersatz -, können wir in diesem Punkt Oskar Lafontaine folgen, der da sagt, die Reichen bezahlen in Deutschland zu wenig Steuern?
Kirchhof: Das Problem, dass die Reichen zu wenig Steuern zahlen, liegt nicht im Steuersatz, sondern liegt in der Bemessungsgrundlage. Wenn ich mich arm rechnen kann, weil das Einkommen als Tatbestand löchrig ist, dann kann ich natürlich 45 Prozent zahlen, denn 0 x 45 ist 0. Dann kommt es auf den Steuersatz gar nicht mehr an. Das Problem liegt darin, dass die Steuerlast wieder unausweichlich wird. Wer in Deutschland unter Nutzung dieses Systems unseres Vertragsrechts, unseres Währungsrechts, unserer gut ausgebildeten Arbeitskräfte, unserer Kaufkraft Einkommen erzielt hat, soll einen maßvollen Teil dieses erzielten Einkommens - nach meiner Vorstellung ein Viertel – unausweichlich verlässlich an diese Rechtsgemeinschaft zurückgeben, damit diese auch noch in Zukunft finanzierbar ist.
Müller: Kurz und knapp wäre das ein klares Ja auf meine Frage?
Kirchhof: Das wäre ein klares Ja im Hinblick auf die Ausweichtatbestände, nicht im Hinblick auf den Steuersatz. Da ist diese Regelung, Abgeltungssteuer 25 Prozent, wohl gemerkt für Einkünfte aus Kapitalvermögen, nur eine Richtungsweisung. Wenn bei Kapitalvermögen 25 Prozent reichen, dann können wir bei Arbeitseinkommen nicht 45 verlangen. Wir sind dort auf einem guten Weg, allerdings erst die erste Hälfte des Weges gegangen.
Müller: Der Heidelberger Finanz- und Steuerrechtler Professor Paul Kirchhof bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch.
Kirchhof: Bitte schön.
Dirk Müller: Oskar Lafontaine vor gut einer Stunde hier im Deutschlandfunk. – Darüber sprechen wollen wir nun mit dem Heidelberger Finanz- und Steuerrechtler Professor Paul Kirchhof. Guten Morgen!
Paul Kirchhof: Schönen guten Morgen.
Müller: Herr Kirchhof, können Sie nun die Linkspartei wählen?
Kirchhof: Ich glaube nicht, weil wir doch deutlicher fragen müssen, was dieser Staat, der hoch verschuldet ist mit mehr als 1,5 Billionen Euro, sich tatsächlich leisten kann. Richtig ist, dass wir diejenigen, die kleine Einkommen haben, deswegen in gegenwärtigen Zeiten sich besonders schwer tun, mittelfristig entlasten müssen. Da wäre der erste Weg die Umsatzsteuer, denn diese Umsatzsteuer trifft selbst denjenigen, der so wenig Einkommen im Jahr hat, dass wir ihn in der Einkommenssteuer ganz verschonen. Der Bettler und der Millionär zahlen dieselben 19 Prozent Umsatzsteuer, weil sie in der Anonymität des Marktes bleiben.
Da, meine ich, wäre eine große Aufgabe. – Das zweite, was ja gegenwärtig zu Recht sehr im Gespräch ist, ist ein Familiensplitting, die Entlastung der Familien, die normalerweise von einem oder anderthalb Einkommen der Eltern leben, mit mehreren Kindern. Und dann würden wir eine Regelung einführen, ähnlich dem gegenwärtigen Ehegattensplitting, die berücksichtigt, dass von diesem einen Einkommen sagen wir einmal drei, vier oder fünf Personen leben müssen, dass das also ein großer Unterschied ist gegenüber dem Alleinstehenden, der eben alleine von demselben Einkommen lebt.
Müller: Für mich, Herr Kirchhof, war der erste Punkt, den Sie genannt haben, jetzt auf die Schnelle zumindest widersprüchlich. Sie haben gesagt, wir haben einen großen Schuldenberg. 1.500 Milliarden haben Sie da genannt, 1,5 Billionen. Auf der anderen Seite fordern Sie Steuersenkungen. Wenn man die Steuern senkt, muss der Schuldenberg doch noch wachsen?
Kirchhof: Das ist gerade nicht der Fall. Wir haben eine einmalige Chance der Finanzierung, nämlich des Abbaus der vielen Privilegien, die das Einkommens- und Körperschaftssteuerrecht verfremdet. Wenn wir etwa gegenwärtig die Abgeltungssteuer einführen, einfacher Steuersatz 25 Prozent für alle bei ganz einfacher Bemessungsgrundlage ...
Müller: Was Sie richtig finden?
Kirchhof: ... , was ich richtig, sehr richtig finde, gleichzeitig aber Ausnahmen vorsehen für bestimmte Fonds, wo man dann doch noch die Erträge und die Veräußerungsgewinne steuerfrei empfangen kann, dann ist das ein großer Fehler.
Müller: Ist das passiert, weil man doch vor der Lobby wieder eingeknickt ist?
Kirchhof: Das kann ich nicht beurteilen. Ich beobachte nur, dass wir Hunderte von Ausnahmen von Privilegientatbeständen haben. Die Versicherungsgeschäfte sind heute vielfach Steuergeschäfte, die Bankgeschäfte sind Steuergeschäfte, der Schiffsbau wird in der Tonnagebesteuerung begünstigt und so fort. Das sind alles Fehlleitungen von Kapital. Der normale Bürger würde, wenn er alleine nach ökonomischer Vernunft handelte, so nicht investieren.
Müller: Wie viel Geld, Herr Kirchhof, kommt denn da zusammen?
Kirchhof: Na ja, das sind viele Milliarden. Es gibt ja ganz prägnante Berechnungen. Das sind sehr viele Milliarden und wir müssen die Entlastungsproblematik mit der Privilegienproblematik verbinden. Dann haben wir zwei Effekte: Die Fehlleitungen, die durch die Steueranreize stattfinden, der Staat verlockt durch Steueranreize den Menschen zu einem wirtschaftlichen Verhalten, das er aus eigener Vernunft so nicht wählen würde, das ist das eine Problem. Also er verlockt sie vielfach in die wirtschaftliche Unvernunft. Wenn wir dieses beseitigen würden, hätten wir schon einen Großteil der steuerlichen Verfremdungen vernünftigen Wirtschaftens beendet. Und wenn dann gleichzeitig, weil die Privilegien entfallen, der Staat mehr Geld einnimmt, dann gewinnt er ein Finanzierungspotenzial, um eben etwa bei der Umsatzsteuer, etwa beim Familiensplitting dort zu entlasten, wo es am dringendsten notwendig ist. Das allerdings braucht Zeit und deswegen habe ich Verständnis dafür, dass in der gegenwärtigen Diskussion gesagt wird, nun wollen wir nichts überstürzen, lasst uns das gut vorbereiten, damit das nun auch wirklich eine gute Reform wird.
Müller: Aber haben wir, Herr Kirchhof, denn im Moment in dieser jetzigen Situation - immer mehr Branchen werden auch in diese Krise hineingezogen – tatsächlich noch Zeit?
Kirchhof: Die Steuerreform ist dringend notwendig. Nur eine überstürzte schlechte Steuerreform würde wieder Anlass geben, dass die Menschen ihr Kapital falsch einsetzen, dass sie ihr Verhalten sozusagen nach Steueranreiz bemessen statt nach ökonomischer Einsicht, und das würde unsere Krise erschweren, nicht erleichtern.
Müller: Also ist das richtig, wenn die Kanzlerin die ruhige Hand fährt?
Kirchhof: Es ist im Moment richtig, dass die Kanzlerin die ruhige Hand fährt, parallel mit der sorgfältigen und zielstrebigen Vorbereitung einer beachtlichen Grundlagenreform.
Müller: Aber was würden Sie als Finanzminister jetzt initiieren, um schnell zu handeln, einen Weg aus der Finanzkrise und Wirtschaftskrise zu finden? Steuersenkungen, ad hoc Steuersenkungen, wäre das möglich innerhalb der nächsten zwei, drei Monate?
Kirchhof: Nochmals: Der Staat ist hoch verschuldet. Er wird sich bloß durch Steuersenkungen jetzt nicht weiter beschweren können. Der richtige Ansatz ist Abbau der Steuervergünstigungen, der Lenkungstatbestände, der Ausnahmetatbestände. Dann gewinnt man ein hohes Finanzvolumen und dann wird man dieses aufkommensneutral an die Allgemeinheit der Steuerpflichtigen zurückgeben, vor allem zur Entlastung der Kleineinkommen beim Konsum, bei der Umsatzsteuer, und natürlich auch durch höhere Freibeträge – das ist das wichtigste – für die kleinen Einkommen bei der Einkommenssteuer.
Müller: Jetzt haben wir, Herr Kirchhof, darüber geredet, dass es generell aus Ihrer Sicht zu einer umfassenden Steuerreform mit neuen Prioritäten und Schwergewichten kommen muss.
Kirchhof: Ja.
Müller: Wir sind auf der anderen Seite von der jetzigen Situation ausgegangen. Das heißt, was kann man jetzt tun, was kann man in dieser Situation der Rezession tun. Haben Sie dort einen Vorschlag?
Kirchhof: Ich verweise immer wieder darauf, nichts überstürzt zu tun. Wir haben ein fundamentales Problem im Einkommens- und Körperschaftssteuerrecht. Der Mensch in Deutschland weiß nicht mehr, was sich steuerlich gehört. Wir haben keine Grundsatzwertung mehr, etwa was der ehrliche Kaufmann, was der anständige Bürger zu tun hat. Das liegt daran: Wir haben eine solche Fülle von Durchbrechungen und Systemwidrigkeiten, Ausnahmetatbeständen im Steuerrecht, dass jeder meint, wenn das Steuerrecht von ihm eine Leistung fordert, eine Geldzahlung, er solle der ausweichen. Normalerweise akzeptieren wir ein Gesetz, wenn es uns sagt, wir sollen im Straßenverkehr uns ordentlich benehmen, wir sollen im Umweltrecht uns anständig benehmen. Dann sagen wir jawohl, das gehört sich, das tun wir. Wenn im Steuerrecht eine Forderung kommt, gehen wir zum Steuerberater und fragen, kann ich das nicht vermeiden. Wir beobachten sogar mit großem Staunen, dass es Menschen gibt, die wirtschaftlich sehr erfolgreich sind, die so erfolgreich sind, dass sie sich ihr Leben ökonomisch angenehm gestalten können.
Müller: Also der Zumwinkel-Effekt.
Kirchhof: Ich würde den Namen Zumwinkel nicht nennen, weil da zunächst einmal die Unschuldsvermutung gilt. Ein Mensch in Deutschland ist unschuldig, bis der Strafrichter gesprochen hat. Aber meine Überlegungen gehen natürlich in diese Richtung. – Also Menschen, die niemals um Geld zu erzielen einen Banküberfall machen würden. Das kommt überhaupt nicht in Betracht. Darüber denken die nie nach, weil sich das nicht gehört.
Müller: Was ja auch nicht schlecht ist.
Kirchhof: Was sehr gut ist. – Aber sie sind bereit, die Allgemeinheit zu schädigen, denn wenn der eine seine Steuern nicht zahlt, muss der andere mehr bezahlen - das sind wir alle – durch die steuerliche Illegalität, durch die strafbare Steuerhinterziehung mit dem Risiko des Freiheitsentzuges. Da wird deutlich: Das Steuerrecht hat seine innere Autorität verloren, und das ist das Kernproblem unserer ganzen Debatte.
Müller: Das heißt, Herr Kirchhof, die Steuermoral ist deshalb so schlecht, weil unser Steuersystem so schlecht ist?
Kirchhof: So ist es. Damit entschuldige ich nichts, sondern ich weise nur auf die Gründe hin. Das Grundprinzip lautet gerade auch im Strafrecht, dass jeder, der möglicherweise straffällig werden würde, im Vorhinein das Gesetz lesen kann und dem Gesetz entnehmen kann, was der Staat von ihm erwartet. Wenn wir dieses Verfassungsprinzip – darf ich das noch sagen – auf die Steuerhinterziehung anwenden, wird der Bürger vielfach im Gesetz das, was der Staat von ihm erwartet, nicht lesen können, weil er es nicht versteht.
Müller: Ohne zu ausführlich zu werden, Herr Kirchhof, gehen wir doch noch einmal ganz kurz auf die Genese ein. Warum ist das alles so gekommen? Warum ist das Steuerland Deutschland ein Land mit Ausnahmetatbeständen?
Kirchhof: Es gibt zwei Gründe. Einmal unmittelbar nach dem Krieg von 1946 bis '51 haben uns die Alliierten gezwungen, Spitzensteuersätze von 95 Prozent zu erheben. Das war ein Unding. Da kann keine Wirtschaft florieren, schon gar nicht eine kriegszerstörte Wirtschaft. Also musste man Ausnahmetatbestände machen, so viel, dass nur noch das halbe Einkommen steuerbar ist, und 95 Prozent auf das halbe Einkommen sind 47,5, dann wird das erträglich. Aber seit 1951 hätte der Gesetzgeber diese Torheit, an der wir noch heute leiden, überhöhte Steuersätze und löchrige Bemessungsgrundlagen, beenden können. Und dann hat er entdeckt: Man kann durch Steuern steuern. Ich kann durch höhere Steuern den Menschen veranlassen, etwas nicht zu tun, und durch niedrige Steuern den Menschen veranlassen, etwas zu tun, was der Staat will. Damit ist im Grunde der fundamentale Fehler in dieses Steuerrecht hinein gekommen. Es ist nicht mehr nur Finanzierungsinstrument, sondern es ist Lenkungsinstrument.
Müller: Wenn Sie das, Herr Kirchhof, so skizzieren – Sie haben jetzt von den 50er Jahren geredet, ein ganz, ganz hoher Spitzensteuersatz -, können wir in diesem Punkt Oskar Lafontaine folgen, der da sagt, die Reichen bezahlen in Deutschland zu wenig Steuern?
Kirchhof: Das Problem, dass die Reichen zu wenig Steuern zahlen, liegt nicht im Steuersatz, sondern liegt in der Bemessungsgrundlage. Wenn ich mich arm rechnen kann, weil das Einkommen als Tatbestand löchrig ist, dann kann ich natürlich 45 Prozent zahlen, denn 0 x 45 ist 0. Dann kommt es auf den Steuersatz gar nicht mehr an. Das Problem liegt darin, dass die Steuerlast wieder unausweichlich wird. Wer in Deutschland unter Nutzung dieses Systems unseres Vertragsrechts, unseres Währungsrechts, unserer gut ausgebildeten Arbeitskräfte, unserer Kaufkraft Einkommen erzielt hat, soll einen maßvollen Teil dieses erzielten Einkommens - nach meiner Vorstellung ein Viertel – unausweichlich verlässlich an diese Rechtsgemeinschaft zurückgeben, damit diese auch noch in Zukunft finanzierbar ist.
Müller: Kurz und knapp wäre das ein klares Ja auf meine Frage?
Kirchhof: Das wäre ein klares Ja im Hinblick auf die Ausweichtatbestände, nicht im Hinblick auf den Steuersatz. Da ist diese Regelung, Abgeltungssteuer 25 Prozent, wohl gemerkt für Einkünfte aus Kapitalvermögen, nur eine Richtungsweisung. Wenn bei Kapitalvermögen 25 Prozent reichen, dann können wir bei Arbeitseinkommen nicht 45 verlangen. Wir sind dort auf einem guten Weg, allerdings erst die erste Hälfte des Weges gegangen.
Müller: Der Heidelberger Finanz- und Steuerrechtler Professor Paul Kirchhof bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch.
Kirchhof: Bitte schön.