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Das Stottercamp am Steinhuder Meer

Endlich angstfrei sprechen, fragen oder streiten: Schon zum elften Mal bietet das Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität in Hannover eine Intensivtherapie für stotternde Jugendliche und junge Erwachsene an. Sie treffen sich am Steinhuder Meer in Niedersachsen.

Von Anke-Martina Witt |
    Bevor die Gruppentherapie an diesem Nachmittag beginnen kann, müssen erst einmal Stühle gerückt werden. Die Teilnehmer brauchen Platz für kleine Rollenspiele. Sie sollen lernen sich durchzusetzen. Der Leiter des Camps – Rolf-Walter Bindel erklärt ihnen die Aufgabe:

    "So, jetzt kann es im Alltag einen Widerspruch geben. Und da kann es sein, dass eine Person redet und eine andere Person setzt sehr früh ein und redet dagegen vielleicht sehr energisch dagegen und da geht’s darum, dass ihr trotz dieser Situation eure Mitteilung formuliert, ihr müsst euch ausdrücken."

    In dem Rollenspiel werden nun typische Alltagssituationen nachgestellt: Ein Vater streitet sich etwa mit seiner Tochter über ihr unaufgeräumtes Zimmer. Der 20-jährige Jonathan und seine Partnerin nehmen die Herausforderung an:

    "Da hinten stehen Essensreste, alte Wäsche. / Ich esse das noch. / Das will ich sehen, wie du das noch isst und der Schrank. Der quillt völlig über vor schmutziger Wäsche, das geht doch nicht." (Gelächter)

    Energisch die eigene Meinung zu vertreten und spontane Einfälle zu äußern, das ist das Ziel dieser Übung. Außerdem sollen die Stotterer lernen, Gestik und Mimik einzusetzen, denn auch da haben viele Probleme, sagt Bindel:

    "Sie haben das Selbstbild von sich, dass sie eben nicht Konversation führen können. Sie verhalten sich insofern sehr zurückgezogen, wollen nicht in den Vordergrund treten und haben auch kein Selbstvertrauen, dass sie eventuell vor einer Gruppe etwa darstellen können, so dass auch die ganze Ausdrucksweise, auch Körperhaltung, Blickkontakt alles, sehr zurückgenommen, sehr ausweichend sind."

    In dem zehntägigen Camp wird all diesen Punkten gearbeitet. So stehen neben Atem, Sprech- und Artikulationsübungen auch Hörspiel- oder Theaterworkshops auf dem Programm; beim Yoga lernen die Teilnehmer zu entspannen und ihren Körper besser wahrzunehmen:

    "Je mehr wir die diversen Stellen spüren und wahrnehmen, die bei Stotter-Momenten betroffen sind, umso besser können wir einerseits die Entspannung aufrecht erhalten und umso schnell können wir andererseits mögliche Blockaden lösen und weiteratmen"

    Die Anforderungen an die Stotterer werden jeden Tag größer: Zum Abschluss müssen sie nicht nur vor den anderen Seminarteilnehmern bestehen, sondern sogar vor Fremden. Sie sollen etwa auf der Straße Passanten ansprechen oder im Freibad anrufen, um nach den Preisen zu fragen.

    Wirklich Feierabend haben Therapeuten und Patienten dabei während der zehn Tage kaum - allerdings sei das ein großer Vorteil des Camps:

    "In den Therapien geht es ziemlich geregelt zu und außerhalb der Therapiezeit, wenn es also in Freizeit und Spiele geht, dann treten auf einmal wieder viel deutlichere Symptome auf. Und das kann man wiederum diagnostizieren und man kann die Person dann auch darin wieder stützen."

    Diese Betreuung - auch nach den eigentlichen Therapiesitzungen - übernehmen zum Teil Studierende aus dem Bereich Sprachpädagogik und -therapie der Leibniz Universität. Eine von ihnen ist die 25-jährige Mareike. Hier im Camp könne sie die Theorie aus dem Studium direkt anwenden; zudem übe der Umgang mit den Teilnehmern für ihren späteren Beruf als Lehrerin:

    "Wie belastbar bin ich, wie flexibel kann ich sein, an wie viel kann ich gleichzeitig denken. Aber genauso - was kann ich anderen für Hilfestellung geben und wie wirkt mein Typ unterstützend auf andere."

    Die intensive Behandlung hat auch Jonathan aus Heidelberg überzeugt. Er stottert, seitdem er vier Jahre alt ist. Bisherige Therapien brachten keinen Erfolg. Seit vier Jahren kommt er nun extra wegen des Camps ans Steinhuder Meer. Und seit dem ersten Besuch hat sich schon eine Menge getan:

    "Es fällt mir jetzt leichter, das umzusetzen. Also vor vier Jahren musste ich mich darauf noch extrem konzentrieren. Und konnte demnach auch bei der Stimme nicht wirklich variieren, sondern hab' dann halt mehr oder weniger in der gleichen Stimmlage gesprochen und das fällt mir jetzt leichter."

    Dank des Sommercamps habe sich seine Atemtechnik schon erheblich verbessert; nun wolle er an seinem starren Kiefer arbeiten. Das Ziel ist klar:

    "Also ich hoffe natürlich, dass sich das soweit bessert, dass ich nicht wiederzukommen brauche. Natürlich wäre ein normaler Urlaub entspannender und schöner. Aber wenn ich nächstes Jahr das Gefühl haben würde und die Zeit es zulässt, dann würd' ich auch wieder herkommen, denk' ich."