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Das System Nordkorea in ganzer Perfektion und Perversion

"Ich hatte nicht gelernt, dass ich bei der Hinrichtung meiner Mutter weinen muss", erzählt der Protagonist in Marc Wieses Dokumentarfilm "Camp 14" über Internierungslager in Nordkorea. Für den Filmemacher treiben die Lager das Wesen des nordkoreanischen Regimes auf die Spitze.

Marc Wiese im Gespräch mit Michael Köhler | 06.04.2013
    Michael Köhler: Das Regime – wir hören es täglich in den Nachrichten - in Pjöngjang verschärft den Ton, könne für die Sicherheit ausländischer Botschaften nicht garantieren und werde zum 101. Geburtstag des Gründers Kim Il Sung eine Mittelstreckenrakete starten, die aber vermutlich ins Wasser fällt, wie Experten vermuten. In Analysen, Kommentaren, Einschätzungen von Diplomaten, Entsandten, Beschäftigten von Stiftungen aus Südkorea hört man, das sei alles nur rhetorisches Säbelrasseln des Nordens, die Technik unausgereift, man blase außenpolitisch die Backen auf, um von der innenpolitischen Not abzulenken. Selbst Russland und China werden vor den Kopf gestoßen. Ich habe den Filmregisseur Marc Wiese gefragt, ein Dokumentarfilm-Regisseur, der über die nordkoreanischen Internierungslager gedreht hat, der Film ist gerade in den Kinos noch zu sehen. Was ist Ihr Film "Camp 14: Total Control Zone", ein Film, der Korea anders zeigt?

    Marc Wiese: Na ja, diese Camps oder Internierungslager sind sicherlich das ganze auf die Spitze getrieben. Damit meine ich, in einem Lager ist es für die Häftlinge unmöglich, irgendetwas zu tun, was nicht reglementiert, kontrolliert oder befohlen worden ist. Sie können sich da nicht bewegen, ohne dass die Wärter bestimmen, in welcher Anzahl von Häftlingen sie in einer Gruppe laufen. Es wird genau festgelegt, wann sie laufen dürfen, wie sie laufen dürfen. Es finden wöchentlich öffentliche Hinrichtungen statt in den Lagern und die Auswahl der Opfer ist völlig willkürlich. Die geringsten Vergehen reichen, um irgendwie als Opfer so einer Hinrichtung zu enden.

    Und diese Lager zeigen dieses System Nordkorea in der Perfektion, sage ich mal, in der ganzen Perversion auch. Man muss im Auge behalten, dass 200 bis 250.000 Menschen in diesen Lagern sitzen. In den letzten 20 Jahren sind 500.000 darin gestorben, und das bei einer Bevölkerungszahl von rund 25 Millionen. Das ist schon eine sehr hohe Zahl.
    Die Menschen wissen das. Es reicht das geringste Vergehen, um ins Lager zu kommen. Ich nenne mal zwei Beispiele: Sie sitzen auf einer Parkbank in Nordkorea und es ist kalt und Sie benutzen eine Zeitung als Kissen, sage ich mal, und in dieser Zeitung ist ein Foto vom geliebten Führer. Das reicht. Wenn das jemand sieht und meldet, gehen Sie ins Lager.

    Köhler: Herr Wiese, aus dem, was Sie bisher geschildert haben, Denunziation ist an der Tagesordnung, ein Menschenleben zählt nichts, diese Lager sind so groß wie eine Stadt, legen Sie damit, auch nach dem, was Sie gerade gesagt haben, so ein bisschen nahe, im Grunde ist der ganze Staat ein Lager?

    Wiese: Ja schon! Nur die Lager sind halt krasser, die Lager sind schlimmer, die Überwachung ist viel, viel engmaschiger. Zwei Beispiele: Mein Protagonist ist in einem Lager geboren worden.

    Köhler: Das ist dieser Shin Dong-hyuk?

    Wiese: Ja. Shin Dong-hyuk ist in einem Lager geboren worden. Hintergrund ist eine Drei-Generationen-Regel. Wenn jemand verurteilt wird, weil er beispielsweise versucht hat, aus dem Land zu fliehen oder Ähnliches, werden drei Generationen verurteilt, auch die Ungeborenen. Das führte dazu, dass er vom Tag seiner Geburt an ein schuldiger Mensch war, ein politischer Häftling, in einem Lager, wo Sie nie entlassen werden. Es gibt auch Lager, wo es nach drei, fünf oder sieben Jahren Entlassungen gibt. In Camp 14, wo Shin war, gibt es keine Entlassungen.

    Köhler: Herr Wiese, haben Sie eine Erklärung für diesen Kontrollwahn in einer Welt, die sich auch medientechnisch eigentlich gar nicht mehr abschotten lässt, für diese Feindseligkeit gegenüber Menschenrechten, Menschenwürde oder auch Menschenrechtsaktivisten?

    Wiese: Also in einem Punkt möchte ich Ihnen widersprechen. Ich finde es faszinierend, inwieweit es Nordkorea gelingt, sich medientechnisch gerade abzuschotten: Einfach, indem sie keinem unabhängigen Journalisten gestatten, dort zu recherchieren und zu arbeiten. Als der neue Diktator Kim Jong Un angetreten ist, hat er die komplette erste Garde der militärischen Führung, alles Vertraute seines Vaters gewesen, die hat er komplett entfernt. Man weiß nicht, wo diese 30 Generäle sich jetzt befinden. Man weiß nicht, sind sie im Lager, sind sie getötet worden. Noch weniger weiß man, warum hat er das getan und was bedeutet das wirklich für den Kurs des Landes. Das ist jetzt nur ein einziges Beispiel. Dieses Problem haben Sie beim Thema Nordkorea eigentlich mit allem. Es gibt keine harten Informationen, deswegen gehen ja diese ganzen Spekulationsblasen los, wie auch in Ihrer Einleitung richtig geschildert: Es gibt jetzt diese Provokation und niemand weiß, wie muss ich das eigentlich einordnen.

    Köhler: Ist auch der Bevölkerung so etwas wie Begriffe von Verantwortung, Familie, Menschenwürde und Menschenaktivismus fremd, oder ist das eine Sache, die wirklich ausschließlich vom Regime, vom Diktator aus ausgeht?

    Wiese: Ja das muss man unterscheiden. In den Lagern ist es völlig fremd. In den Lagern dürfen Familien nicht zusammenleben und sämtliche Familienwerte, sämtliche menschlichen Werte, wie wir sie kennen, sind völlig unbekannt. Da gibt es ein sehr krasses Beispiel für: Mein Protagonist Shin Dong-hyuk musste miterleben, da war er 14, wie seine Mutter und sein Bruder vor seinen Augen öffentlich hingerichtet wurden, und er sagte dann, ja aber ich habe da nicht geweint, weil die hatten Fehler gemacht, die hatten versucht zu fliehen und sie wurden dafür bestraft und das war richtig, und sagt dann den Satz, ich hatte nicht gelernt, dass man bei der öffentlichen Hinrichtung seiner Mutter weinen muss.

    Köhler: Das sagt der Dokumentarfilmer Marc Wiese über das Lagersystem, den Verlust der Menschenwürde und den Kontrollstaat Nordkorea. Sein Film heißt "Camp 14".


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.