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Das Tohoku-Beben und die Erdbebenforschung

Seismologie. - Auf Erdbebenrisikokarten kategorisiert man die Wahrscheinlichkeit seismischer Aktivitäten. In Japan ist spätestens nach dem Tohoku-Beben vom 11. März klar: Die Aussagekraft dieser Karten ist gering. Die Strategie bei der Erdbebenvorsorge muss sich daher grundlegend ändern.

Von Dagmar Röhrlich | 29.08.2011
    Die Gefahr war bekannt. Seit mehr als 20 Jahren haben etliche japanische Seismologen die Regierung vor den Folgen gewarnt, die ein starkes Seebeben samt großem Tsunami für die Kernkraftwerke des Landes haben könnte:

    "Trotzdem traten sofort nach dem Beben vom 11. März japanische Wissenschaftler im Fernsehen auf und erklärten, dass dieses Beben und der Tsunami nicht vorhersehbar gewesen wären. Demzufolge war es Schicksal und nicht menschliche Ignoranz, was dazu führte, dass der Tsunami das Kernkraftwerk zerstörte..."

    Robert Geller widerspricht dieser Sicht vehement. Unter "vorhersehbaren" Erdbeben, erklärt der Geophysiker von der University of Tokyo, verstünde man die Ereignisse, die in den Erdbebenrisikokarten verzeichnet sind. Um sie zu berechnen, nehmen die Modellierer an, dass jedes Gebiet sein charakteristisches Erdbeben besitzt:

    "Die Idee, dass sich Erdbeben wie ein Uhrwerk in mehr oder weniger gleichmäßigen Intervallen wiederholen, basiert auf der Annahme, dass sich in einem Gebiet tektonischer Stress aufbaut, der irgendwann ein kritisches Niveau überschreitet. Dann bebt die Erde, und der Zyklus wiederholt sich."

    Dieser Annahme zufolge gelten die südlich von Tokio gelegenen Gebiete Tokai, Tonankai und Nankai als Zonen mit höchstem Risiko, weil das große Beben lange überfällig ist:

    "Die roten Bereiche auf dieser Karte hier, das sind die Zonen, die die Regierung als gefährlich einstuft. Danach galt jedoch das Gebiet, im dem sich das Tohoku-Beben vom 11. März ereignet hat, als nicht gefährdet. Man rechnete nur mit Beben mit einer Magnitude von 7,5, aber es hatte dann die Magnitude 9."

    Allerdings hatte es schon länger Zweifel an der Aussagekraft dieser Risikokarten gegeben. Seit 1979 haben sich in Japan alle Erdbeben mit mehr als zehn Toten in Regionen ereignet, in denen die Wahrscheinlichkeit eines schweren Bebens als gering galt:

    "Wenn ihre Risikokarten ihnen zeigen, dass bestimmte Orte gefährlich sind und sich die Beben aber anderswo ereignen, stimmt irgendetwas nicht an der Hypothese, die den Karten zugrunde liegt. Der Fehler liegt darin, dass man annimmt, dass sich Erdbeben in einer Region nach Art eines Uhrwerks ereignen. Wissenschaftler der University of California in Los Angeles haben diese Hypothese widerlegt. Das Ergebnis ihrer statistischen Analyse: Man erzielt nur Zufallstreffer."

    Das Geschehen in der Erdkruste ist nicht vorhersehbar:

    "Es ist nicht so, als gäbe es in jeder Region isolierte Störungen, an denen sich ein- und dasselbe Beben einfach immer wieder ereignet. Wenn in einem Gebiet immer wieder Erdbeben auftreten, werden Energie und Stress jeweils neu verteilt, und das nächste Beben ereignet sich an einer anderen Störung und auf besondere Weise."

    Wenn man diese Einsicht ernst nimmt, müsste man die Strategie bei der Erdbebenvorsorge grundlegend ändern:

    "Aufgrund geologischer Erkenntnisse können wir nur sagen, dass es nach einem schweren Erdbeben an einem Ort irgendwann in der Zukunft ein ähnliches Beben an einem noch unbestimmten Ort geben in dieser Region wird."

    Soll heißen: Jeder muss sich auf das Unerwartete vorbereiten - und das gilt vor allem für kritische Strukturen wie Kernkraftwerke:

    "In der Gegend von Tohoku gab es in den vergangenen 3000 Jahren drei Beben und drei Tsunamis, die denen vom 11. März vergleichbar waren. Das Kernkraftwerk von Fukushima ist rund 50 Jahre alt. Das heißt: Die Wahrscheinlichkeit, dass es während seiner Laufzeit von einem schweren Tsunami getroffen wird, lag bei fünf Prozent. Das ist hoch genug, um beim Bau berücksichtigt zu werden."

    Auch wenn diese Fakten erst seit 1990 bekannt sind, wäre genügend Zeit geblieben, um den Schutzwall vor dem in seit dem Ende der 1960er-Jahren erbauten Kernkraftwerk zu erhöhen und die für die Notkühlsysteme lebenswichtigen Dieselgeneratoren weiter oben am Hang in Sicherheit zu bringen.

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