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Das Ultimatum

Bisher ist die 1933 in Dresden geborene Schriftstellerin Irene Ruttmann nur als Jugendbuchautorin in Erscheinung getreten. Mit vier historischen Romanen, in denen sie ihre jungen Leser in die Römerzeit, ins 17.Jahrundert und in die Goethe-Zeit führt. Die Stärke ihrer Bücher liegt darin, dass diese die authentische Schilderung verschiedenster Epochen mit einem spannenden, meist auch ein wenig geheimnisvollen Handlungsablauf verbinden. Nun hat die Autorin ihren ersten Roman für Erwachsene vorgelegt, sein Titel, "Das Ultimatum", verweist ebenfalls in die Vergangenheit. Sylvia Schwab hat "Das Ultimatum,, gelesen und mit Irene Ruttmann über ihr Buch gesprochen. Es gibt so viele Leute, die sagen, ich interessiere mich nicht für Politik. Und das ist ja auch begreiflich, aber man kann den Leuten gar nicht klar machen, dass, wenn man in einer Diktatur lebt, dann interessiert sich die Politik ja ständig für einen selbst. Deswegen muss man sich für Politik interessieren, weil die einen ja nicht in Ruhe lassen.

Sylvia Schwab |
    Irene Ruttmann weiß, wovon sie spricht. Denn es ist ganz unverschlüsselt ihre eigene Geschichte, die sie in ihrem ersten Roman erzählt. Historischer Hintergrund ist das Ultimatum, das die Sowjets im Herbst 1958 den Alliierten stellten: Sie sollten sich endlich aus West-Berlin zurückziehen, das dann zur sogenannten "freien Stadt" unter der Oberhoheit der DDR erklärt würde. Für die DDR-Bürger hätte die Erfüllung dieses Ultimatums bedeutet, dass West-Berlin als Sprungschanze in die Freiheit für immer verloren gewesen wäre. Was dann auf andere Weise geschah. Die Alliierten gingen nicht auf das Ultimatum ein und die DDR quittierte dies 1962 mit dem Mauerbau. Irene Ruttmann war von diese Ereignissen selbst betroffen, denn sie lebte Ende der fünfziger Jahre in Berlin, wo sie Sprachen, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften studierte:

    Was den politischen Hintergrund betrifft, die Zeitumstände und das Milieu, ... da war eigentlich die Intention, das sollte festgehalten werden. Das wollte ich festgehalten haben, um dieser Legende entgegenzuschreiben, dass man immer wieder hört, die ersten Jahre in der DDR die waren so offen, die hatten so einen Aufbauoptimismus. Und da wollte ich als Zeitzeuge dagegensetzen, dass es für viele Menschen durchaus so war, dass dieses Einschnüren der Freiheit ganz früh begann. Und das sollte an tausend Kleinigkeiten festgemacht werden, weil es an tausend Kleinigkeiten passierte.

    In eindringlichen Genrebildern schildert Irene Ruttman den eingeschnürten DDR-Alltag der späten fünfziger Jahre: Den heimlichen Transport eines Radios und das Abhören westlicher Sender, die magenschmerzende Angst beim Öffnen offizieller Briefe und das Zittern beim Kauf westlicher Waren, die Träume vom Messerschmitt-Kabinenroller und die Traumata beim Durchsuchtwerden durch das Zugbegleitpersonal der Bahn. Szenen, die komisch oder lächerlich wirken könnten, wenn sie nicht zugleich so gespenstisch wären.

    Es hat wahrscheinlich Zeitgenossen und Kommilitonen von uns gegeben, die diese Bedrängungen, die wir gespürt haben, nicht gespürt haben. In jeder Diktatur gibt es ja Leute, die keine Bedrängung spüren und die anderen, die die Bedrängung spüren. Und in dem Moment, wo man das lesen wollte, was nicht gewünscht oder verboten war, da stieß man ja immer an die Mauern. Oder in dem Moment, wo man bei einer Versammlung eine andere Meinung laut äußern wollte, weil man ja eine andere Meinung hatte, da stieß man wieder an die Mauern oder musste Angst haben.

    Wie das funktionierte, was sie "die innere Goldwaage,, nennt, aber auch, wie trotz allem. Vertrauen, Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Liebe möglich sind, das schildert Irene Ruttmann in einem ganz schnörkellosen und doch sehr eindringlichen Ton und auf unspektakuläre Weise. Die zerstörte Stadt Berlin wird in ihren sinnlichen Schilderungen unmittelbar sichtbar, spürbar, anfaßbar. Wie auch die Kommilitonen, Vermieter oder Familienmitglieder alle ein knapp gezeichnetes, aber unverwechselbares Gesicht besitzen. Zugleich leuchtet aber auch eine feine Ironie durch viele Zeilen, manchmal auch ein unverhohlener Spott, der von dem inneren Abstand und der geistigen Immunität der Protagonisten zeugt. Und neben - oder besser zwischen - den vielen kleinen und großen historischen Ereignissen erzählt die Autorin die zarte und zugleich große Liebesgeschichte zwischen Jenny und Robert.

    Das ist mir so ganz unbewusst praktisch aus der Feder geflossen weil das ja wohl der Kern war. Das ist gar nicht so bewusst in den Mittelpunkt gestellt worden. Bewusst in den Mittelpunkt gestellt worden ist diese Zeitzeugenschaft... und das Plädoyer für die Freiheit, auch wenn es hart ist und auch wenn es Verlust der Heimat, der Freunde, der Familie bedeutet . Aber weil das die Mitte des Lebens war, ist die Mitte des Lebens... auf ganz natürliche Weise als Mitte des Romans gestaltet worden.

    Werden solche literarischen Erinnerungen meistens aus distanzierter Rückschau gehalten, so ist Jenny, die Ich-Erzählerin, ganz nah dran am Geschehen. In drei Schüben schreibt sie ihre Geschichte auf, am Schluss werden - was die Spannung erhöht - Erleben und Erzählen fast eins. Denn es ist ja ihre eigene riskante Fluchtgeschichte, die sie da erzählt. Was Jenny besonders schwer fällt, ist die Trennung von ihrer Mutter, die sie möglicherweise nie wieder sehen wird. Tröstlich sind da die Briefe der Madame de Sevigne aus dem 17. Jahrhundert an ihre weit entfernt lebende Tochter, die Jenny in ihre Erzählung einmontiert. Sie hat diese Briefe in der Uni-Bibliothek entdeckt und heimlich mit nach Hause genommen. Hier findet sie manche Parallele zu ihren eigenen Gefühlen und Erlebnissen. Und hier schreibt Irene Ruttmann ganz privat, ganz persönlich.

    Das ist vielleicht schon eine Bewältigung gewesen, weil man da vieles mit sich herumgetragen hat, von der Ablösung oder ob man der Mutter gerecht geworden ist, oder ob man sich vielleicht zu wenig oder zu spät abgenabelt hat. Das sind ja so allgemeine menschliche Sachen, die viele Mutter-Töchter-Beziehungen kennzeichnen. Da könnte man vielleicht sagen, da ist etwas bewältigt worden.

    Es verwundert nicht, dass Jenny neben den persönlichen auch politische Parallelen zwischen dem feudalen System der Madame de Sevigne und dem Sozialismus der DDR findet: die Zensur, die fehlende Meinungsfreiheit, die absolute Kluft zwischen Herrschern und Beherrschten und die Unterdrückung einzelner gesellschaftlicher Gruppen. So bilden die Briefe der französischen Adligen eine Art Kulisse für Jenny s Erlebnisse, wie überhaupt Bücher, aber auch Bilder und Theaterstücke, eine besondere Funktion haben in diesem Roman. Sie verschönern und vertiefen den kargen, oft düsteren DDR-Alltag, regen die Phantasie an, weisen in ferne Länder und machen Mut, die geheimen Träume in die Wirklichkeit umzusetzen. Und so steht am Ende von Irene Ruttmanns erstem Roman Jenny s und Roberts Entschluss, die DDR für immer zu verlassen.

    Die unmittelbare Gegenwart rückt näher. Einmal sagt ja die Protagonistin so ähnlich wie: Bis jetzt waren wir Zuschauer, aber langsam werden wir Darsteller in dem Stück. Wer weiß, wie's ausgeht.