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Das Umstellformat

Die sogenannte Euthanasie von Geisteskranken in der Zeit des Nationalsozialismus ist bis heute ein Thema, das zwar nicht verdrängt wird, aber dennoch in seiner ganzen Dimension kaum im öffentlichen Bewusstsein präsent ist. Ab Herbst 1939 wurden zehntausende nach der NS-Ideologie "lebensunwerte" Erwachsene und Kinder von Ärzten vergast oder dem Hungertod ausgesetzt. Die "Aktion T4", benannt nach der Berliner "Euthanasien-Zentrale in der Tiergartenstr. 4, begann im Osten mit fahrbaren Gaskammern, die zur Tarnung die Aufschrift "Kaisers Kaffee-Geschäft" trugen. Im August 1941 verfügte Hitler das offizielle Ende der Mordaktion, unter anderem deshalb, weil sie für Unruhe in der Bevölkerung sorgte, obwohl das Mitgefühl mit den Stigmatisierten denkbar schwach ausgeprägt war. Die sogenannte wilde Euthanasie riss jedoch bis Kriegsende nicht ab, und die beteiligten Ärzte blieben oft noch Jahrzehnte im Dienst.

Katrin Hillgruber | 05.02.2003
    Diesen nüchternen historischen Fakten stellt die Autorin und Psychiaterin Melitta Breznik in ihrem dritten Buch ein persönliches Schicksal gegenüber: das der schizophrenen B. S. - eine Frau, geboren 1896, von der wir nur drei Dinge erfahren: die Initialen ihres Namens, dass sie in Frankfurt am Main gelebt hat und die Großmutter der Ich-Erzählerin war. Melitta Breznik obduziert als Schriftstellerin bevorzugt Erinnerungen. Ihr Debüt "Nachtdienst" von 1995 setzte in der weiß gefliesten Pathologie eines steirischen Krankenhauses ein, mit der Autopsie des Vaters der Erzählerin. Distanziert ruhte der Blick der von weit her angereisten Ärztin auf der Kindheitslandschaft wie auf den Eingeweiden des Toten, Auch in "Das Umstellformat" steht eine Patientin im Vordergrund, und auch ihr kann sich die Erzählerin nur noch obduzierend annähern.

    Die bis dahin unauffällige Hausfrau und Mutter B.S. erscheint im August 1935 aufgelöst beim Dauerdienst der Frankfurter Staatspolizei. In ihrer Paranoia meint sie, die Beamten auf gefährliche Machenschaften einer geheimen Instanz aufmerksam machen zu müssen. Dabei prägt sie ein ungeheuerliches Wort: das "Umstellformat". Dieser Ausdruck entzieht sich einer logischen Deutung, wodurch er um so vielsagender und bedrohlicher wirkt. Auch der protokollarisch anmutende, kühle Text bietet keine Erklärung an.

    Die Vokabel vom "Umstellformat" lässt sich nicht nur auf eine "Gleisänderung" im Leben der Kranken, sondern ebenso auf die Umstellung des öffentlichen Lebens ab 1933, auf den Paradigmenwechsei durch die Diktatur anwenden. Das "Umstellformat" wird so zum heimlich-unheimlichen Zentrum der spröden Erzählung. Dieses eine Wort macht ihr Geheimnis aus. wenn aus dem Polizeiprotokoll zitiert wird: "Durch Augenhypnose habe das Umstellformat zuerst sie und dann die anderen, die sich als Ärzte und Schwestern ausgaben, in die Gewalt genommen. Frau S. begann wild zu gestikulieren und behauptete, sie habe ein Ferngespräch, das Umstellformat sage, ihr Mann könne sie vergessen, sie würde hier nicht mehr herauskommen."

    An dieser Stelle kommt B. S-- zum Zeitpunkt des Krankheitsausbruchs 39 Jahre alt, das einzige Mal mit ihrer symbolträchtigen Vision als Subjekt zu Wort. Anschließend verschwindet sie, wie von ihr vorhergesagt, mit der Diagnose "paranoide Schizophrenie" endgültig hinter Anstaltsmauern. Sie wird zur Aktennotiz vier verschiedener Kliniken in Hessen und schließlich 1943 zum staatlichen Mordopfer- Die Rechnung für die anonyme Urnenbestattung ging an die Hinterbliebenen.

    Gut sechzig Jahre später machen sich Tochter und Enkelin, eine Psychiaterin, von Österreich nach Deutschland auf, um ein verdrängtes Lebensende zu rekonstruieren. Bezeichnenderweise ist die erste Station ihrer Reise das Nürnberger Reichsparteitagsgelände. Sie stellen sich einer Schuld oder zumindest einem Versäumnis ~ B.S.' Tochter träumt von der singenden Mutter, ein Traum, der sie nicht schlafeil lässt. Als Kontrast und Ergänzung entwirft Melitta Breznik eine nicht ganz schlüssige Binnenhandlung; Die Erzählerin erinnert sich an ihre Zeit als Austauschschülerin in Norwegen. Sie fährt dorthin und nimmt die Gespräche mit dem Vater der Gastfamilie wieder auf. Er war einst als Sympathisant der deutschen Besatzer verfemt worden.

    Diese zweifache Vergangenheitsbewältigung ist sehr vordergründig, ja schematisch gestaltet. Sorgsam werden Gefühle ausgespart, so dass sie zu einer immer größeren Leerstelle anwachsen. Ihre stärksten Momente hat die erdenschwere Moritat, wenn sie sich Bilder und Szenen gestattet: eine Photographie der Großmutter im zerknitterten Anstaltshemd mit der Aufschrift "Klinik, Abteilung K" etwa, oder ein Erlebnis der Enkelin aus der eigenen beruflichen Praxis: Hinter der Panzerglasscheibe der psychiatrischen Ambulanz beobachtet die Erzählerin eine verwirrte junge Frau. Mit einem Mal hört sie sich selbst "Umstellformat" sagen. Dieser Begriff entfaltet einen beunruhigenden sprachlichen Mehrwert, eine Sogwirkung. Dennoch kann ein Wort keine ganze Erzählung tragen, sei sie auch noch so redlich und thematisch ehrenwert.