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Das Unsichtbare sichtbar machen

Anna und Bernhard Blume, geboren 1937, konstruieren mit ihren großformatigen schwarz-weißen Fotoserien seltsame Welten - inszenierte Fotografie, oft reduziert, verfremdet und komisch. Der erste umfassende Auftritt des Fotografenpaars ist die Ausstellung "Reine Vernunft", die vom 4. April an im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen ist.

Von Carsten Probst |
    Wer sich eine lebhafte Vorstellung davon machen will, wie das totale Chaos aussieht, stelle sich die Welt des westdeutschen Kleinbürgers in den 60erJahren vor, die zwangsweise mit der Abstraktion konfrontiert wird. Es dürfte kaum etwas geben, das virtuell so wenig zusammengehört und damit ist klar, dass es auch niemals zusammenwachsen wird. Schon die russischen Konstruktivisten der 1920er Jahre, und manch andere mehr, sind immer sehr schnell mit Versuchen gescheitert, Ideenkunst für die Massen zu machen. Aber Anna und Bernhard Blume gehen eben dahin, wo es wirklich wehtut, sie glauben an die Vermittlung, sie hören nicht auf, das "Milljö" des kleinen Mannes fröhlich mit dem Odem des selbsternannten künstlerischen Weltgeistes zu vermischen, und zwar so buchstäblich und penetrant, dass aus der ständigen, knirschenden und funkensprühenden Reibung eine eigene Kunstform erwachsen ist. In gewisser Weise nehmen dabei beide Lebenswelten Schaden, und das dürfte auch das Ziel der fotografischen Kunst der beiden gebürtigen Rheinländer sein. Zerstörung des vermeintlich Niederen durch das vermeintlich Erhabene und umgekehrt.

    Die dralle Lebenswelt rund um den deutschen Mittagstisch gerät aus den Fugen, implodiert und explodiert, die Protagonisten, oft die beiden Blumes selbst, erscheinen gewandet in Küchenkitteln und Sonntagsanzug und meist im freien Fall, überwältigt von einer verselbständigten Dingwelt, in der es nichts mehr gibt, dass nach Halt bietet. Der bare Fortschritt eben. Die Kamera wirbelt und verzerrt und türmt unaufhaltsam immer neue Konstruktionen auf, die der Elementarwelt der Abstraktion entstammen, Quadrate und Winkel, Kreise und Triangel, dynamische Linien und typografische Muster. Aber es ist eben nicht mehr die Welt der strengen Formgesetze, sondern nur noch ihre Ironie, der lachhafte Anblick eines Denkmals kurz vor dem Zerbrechen.

    Dass die beiden Blumes ihre Retrospektive in Berlin "Reine Vernunft" genannt haben, ist natürlich ein Witz in Anspielung auf das bekannteste unter all den ungelesenen und unverstandenen Büchern des deutschen Bildungsschatzes. Aber es ist ein weiser Witz. Bernhard Blume, der einst selbst einmal Philosophie studierte, formuliert es so: "Die reine Vernunft ist als reine Vernunft ungenießbar." Wahrscheinlich ist ohnehin alles Reine ungenießbar, aber die Sehnsucht der Deutschen nach Reinheit war gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verständlicherweise besonders groß. Darauf spielt die große und berühmte Serie der "Ödipalen Komplexionen" vom Ende der siebziger Jahre an, die Bernhard Blume mit seiner Mutter auf und um eine Wohnzimmercouch zeigt. Die Couch wird zum Ritualort einer Beziehungstherapie, mit der der ganze Wahnsinn quasi erst beginnt. Mutter und Sohn geraten völlig ausser Rand und Band, purzeln über die Möbel und die Möbel über sie, die Ordnung begräbt sie und sie begraben die Ordnung. Anarchie und Auslöschung gehen Hand in Hand. Von hier aus ist nicht weit zu den bekannten Serien, deren Titel immer schon alles sagen: "Küchenkoller", "Trautes Heim", "Vasenekstase", "Mahlzeit". Der deutsche Wald beginnt sich zu wehren gegen die Sonntagsspaziergänger und krallt sie in abstrakten Linien fest, die auf den jüngeren, digitalen Fotoserien als weiße Styroporelemente wiederkehren, die die beiden Darsteller als Bruchstücke einstiger reiner Lehren heimsuchen und malträtieren.

    Anna und Bernhard Blume, die beiden gewitzten Bilddenker, wissen nur zu gut um das Problem der Vermittlung, von dem Kant hinsichtlich des alten Widerspruchs zwischen Verstandes- und Gefühlswelt sprach. Kant setzte auf eine höhere Macht der Vernunft. Die Blumes aber zeigen, was hinten rauskommt - insbesondere in einer zerstörten Kultur. Gäbe es so etwas wie eine Fotografie als Denkmal: Die Blumes hätten es erschaffen für die deutsche Nachkriegskultur. Das Chaos als höchst realistische Bestandsaufnahme, und eine Fotografie, die das Unsichtbare sichtbar macht, die reine Leere eben, einer wundersamen Transzendenz des Skurrilen.