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Das verhängnisvolle Stillhalten des Vatikans

1965 erschien Saul Friedländers "Pius XII. und das Dritte Reich" auf deutsch. Jetzt hat es der Autor in einer Neuauflage umfangreich ergänzt. Denn die historische Forschung hat zu neuen Erkenntnissen geführt und die Diskussion über die Rolle von Papst Pius XII. im Zweiten Weltkrieg hält bis heute an.

Von Thomas Moser | 21.02.2011
    Welche Informationen hatte der Vatikan unter Pius XII. über den Holocaust und warum schwieg er? Das ist die zentrale Frage der Dokumentation von Saul Friedländer. Dass der Vatikan von der Ermordung der Juden wusste, gilt – auch durch diese Arbeit – als belegt. Die Diskussion um die Gründe für sein Stillhalten dauert an. Pius XII., mit bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli, bestieg am 12. März 1939 den Papstthron. Drei Tage später besetzte die deutsche Wehrmacht die Tschechoslowakei – der Krieg begann. Vom Vatikan kam kein Protest. – Kommentar Friedländers:

    Von Anfang an befindet sich der Papst in einem dramatischen Dilemma: Bei seinem Bestreben, die Interessen der Kirche in Deutschland zu wahren, und seinem Wunsch, an der Erhaltung des Friedens mitzuwirken, erblickt er keinen anderen Ausweg als eine extreme Versöhnungspolitik gegenüber dem Reich.
    Die Nazis herrschten in Deutschland bereits seit sechs Jahren, und obwohl auch Christen verfolgt wurden, hielt der Vatikanstaat die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich unverändert aufrecht. Als sich die nationalsozialistischen Verfolgungen in Osteuropa, vor allem in Polen, fortsetzten, blieb er bei seiner Politik des Appeasement. Und als schließlich die Ermordung der europäischen Juden organisiert wurde, dasselbe – Zurückhaltung, selbst auf der Ebene der Diplomatie. – Zitat:

    Der Heilige Vater besitzt bis ins Einzelne gehende Informationen über die Vorgänge in den besetzten Gebieten. – Er sprach: "Wir müssen alles tun, was in unseren Kräften steht, um das Volk Israel zu retten. Aber jeder Schritt muss mit großer Klugheit vorausberechnet werden, denn ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass unsere Bemühungen zu umgekehrten Folgen führen und den Tod noch weiterer Juden verursachen."
    Das Zitat stammt aus einer Unterredung des Vatikanvertreters in Palästina mit einem Großrabbiner vom September 1944.

    Friedländers Dokumentation zeigt, dass das Stillhalten des Vatikans beim Holocaust das Ende einer verhängnisvollen Entwicklung war. Erst setzte sich die Kirche nicht für verfolgte Priester in Deutschland ein, dann tat sie es nicht, als Priester in Polen in Bedrängnis gerieten und dann erst recht nicht mehr, als Juden verfolgt wurden. Das erste Schweigen zog das zweite Schweigen nach sich und mit jedem Schweigen mehr, beraubte sich der Vatikan seiner eigenen Möglichkeiten. Die Dokumentation macht die hinderliche Doppelstruktur der katholischen Kirche deutlich – national und international. Im Zweiten Weltkrieg kämpften Katholiken gegen Katholiken, Deutsche gegen Polen; waren Katholiken an faschistischen Regimes beteiligt, wie in Kroatien, oder attackierten Hitler, wie die katholische Kirche in den USA. Und selbst innerhalb eines Landes gab es noch Unterschiede: In Deutschland waren Katholiken sowohl Gegner des Nationalsozialismus als auch dessen Befürworter. Friedländer beschreibt die politische Positionsbestimmung Pius XII. während der Kriegsjahre so:

    Es ging darum, die Interessen der Kirche zu verteidigen. - Da Katholiken auf allen Seiten kämpften, sollte strikte Neutralität gewahrt bleiben.
    Die Dokumentation zeigt, welche Funktion der Antisemitismus sowohl aufseiten der Nazis, als auch aufseiten der Kirche hatte. Den einen dienten die Juden als Ablenkung von ihrer Unterdrückungsherrschaft, den anderen als Mittel, ihren eigenen Kopf zu retten. Dem Antikommunismus kam eine ähnliche Funktion zu. Die Nazis legitimierten damit ihre Eroberungspolitik im Osten. Und der Vatikan unterstützte Deutschlands Krieg gegen die Sowjetunion gar, weil er darin einen Widerstand gegen den "gottlosen" Kommunismus sah. Der Antikommunismus konnte dabei auch mit dem Antisemitismus zusammenfallen, so, wenn vom "Judäo-Bolschewismus" die Rede war.

    Friedländers Studie belegt aber auch, dass den Nationalsozialisten die Haltung des Papstes nicht egal war, dass sie Interesse an seinem Schweigen hatten. Was wiederum bedeutet, dass er durchaus Wirkungsmöglichkeiten gehabt hätte. In der jetzt erschienenen Neuauflage geht der Historiker der Frage nach, worin die Haltung des Vatikans und die von Pius XII. zum Nationalsozialismus und zum Holocaust wurzelt. Er macht eine religiös-ideologische Tradition aus, die sich bereits unter Pius X. Anfang des 20. Jahrhunderts gegen Modernismus, Liberalismus und Sozialismus wandte und auch antisemitisch war. Die Kirche lehnte zwar den rassischen Antisemitismus ab, kritisierte aber das – angebliche – Eindringen von Juden in die christliche Gesellschaft. Pius XII., damals noch Eugenio Pacelli, arbeitete seit 1901 in der vatikanischen Bürokratie und war ein Mann Pius X.: 1917 Nuntius in München, von 1920 bis 1929 Nuntius in Berlin und ab 1930 Kardinalstaatssekretär bei Pius XI. Auch von Pacelli selber seien "judenfeindliche Kommentare" belegt, so Friedländer. Beherrschendes Leitmotiv des Papstes sei aber vor allem dessen Antikommunismus gewesen. Die "Neubewertung", die der Historiker vornimmt, bezieht sich auch auf das Gebilde des Vatikans. Der ist für ihn weniger eine moralische Instanz, als eine "politische Institution", die ihre Entscheidungen dementsprechend unter dem Gesichtspunkt der Zweckrationalität fällte. Doch die Frage dahinter, die Friedländer mehr interessiert, ist:

    War die Passivität der großen Mehrheit durch die Passivität der obersten Autorität der Kirche, des Papstes selbst, beeinflusst?
    "Wahrscheinlich", antwortet er knapp, was man als Understatement werten kann. Sein Fazit ist ähnlich unbestimmt wie hintersinnig. Saul Friedländer:

    Was wir nicht wissen, ist, ob für Pius XII. das Schicksal der Juden Europas eine schwerwiegende Krisensituation und ein quälendes Dilemma darstellte oder ob es für ihn nur ein Randproblem war, welches das christliche Gewissen nicht herausforderte.
    Die Dokumentation über das Verhältnis des Vatikans zur Hitlerdiktatur ist von einer Machart, wie man sie unter Historikern nur selten findet. Saul Friedländer geht wie bei der Beweisaufnahme in einem Gerichtsprozess vor: Fragestellung, Nachweis, ein Geschichtsprozess könnte man sagen. Das Buch dokumentiert nebenbei auch die verschleiernde Sprache der Diplomatie. So, wenn aus der Massenvernichtung Maßnahmen werden.

    Saul Friedländer: "Pius XII und das Dritte Reich. Eine Dokumentation". Erschienen in der Beck'schen Reihe, 231 Seiten für 14 Euro und 95 Cent, ISBN: 978-3-406-61681-5.