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Das Verschwinden der Arbeit

Arbeit ist machbar, das muss auch Frank-Jürgen Weise unerschütterlich verkünden - bevor er Anfang nächsten Monats wieder mit sorgenvollem Blick den Pegelstand der Misere durchgibt. Der da lautet: vier Millionen. Mehr als vier Millionen Deutsche haben weiterhin keinen Job. Wird immer weniger menschliche Arbeitskraft gebraucht, wie der US-Erfolgsautor Jeremy Rifkin behauptet? Geht den Industrienationen die Arbeit aus, weil Computer schneller, billiger und besser arbeiten? Eine andere These stellen die Völkerkundler Gunther Hirschfelder und Birgit Huber auf. Arbeit verschwindet nicht, sie wird nur anders - geht weg vom festen Arbeitsverhältnis zum virtuellen und zur Projektarbeit. Arbeit und Freizeit verschmelzen, jeder wird sein eigener Unternehmer.

Rezensentin: Birgit Becker |
    Der von Gunther Hirschfelder, Lehrstuhlinhaber am Volkskundlichen Seminar der Universität Bonn, in Zusammenarbeit mit Birgit Huber herausgegebene Band fasst die Ergebnisse einer im Jahr 2002 veranstalteten Tagung zusammen. Wie es solchen Tagungs- oder Seminar-Zusammenfassungen eigen ist, lesen sie sich nicht als Geschichte mit dickem roten Faden. 23 Beiträge verschiedener Autorinnen und Autoren knüpfen die verschiedensten Fäden, die unter dem Oberbegriff "Neue Medien und Arbeitswelt" eher locker zusammengebunden werden.

    Auf eine enge thematische Eingrenzung wird verzichtet. Hirschfelder und Huber belassen es dabei, ihren Untersuchungsgegenstand in Beispielen zu umreißen. Es gehe um Phänomene, die mit Schlagworten wie "Virtuelle Unternehmen, Organisationsübergreifende Netzwerke oder Arbeitsnetze" umschrieben würden. Derartige Arbeitsformen, so heißt es, werden in der Consulting-Branche vermutet, in der Informationstechnologie und in der Medienproduktion. Auch das E-Learning, die computergestützte Weiterbildung, zählt zum breit gefassten Untersuchungsgegenstand. Immerhin so breit gefasst ist der, dass den Herausgebern doch der eine oder andere editorische Lapsus unterläuft. So sucht der Leser vergebens nach einer in der Einleitung dargestellten vierstufigen Schwerpunktsetzung des Bandes; das Inhaltsverzeichnis weist lediglich drei Schwerpunktkapitel auf.

    Mängel wie diese macht der Band aber durch Gründlichkeit an anderer Stelle wett. So liefert Herausgeber Hirschfelder dem Leser einen umfassenden Einstimmungstext zu den historischen Dimensionen des Themas Arbeit und seiner Behandlung durch die Volkskunde - oder "Europäische Ethnologie", wie sich die Fachrichtung neuerdings selber lieber nennt. Hirschfelders Begründung für solche Gründlichkeit:

    Die gegenwärtige Situation der Arbeitskulturen ist nur verständlich, wenn die Faktoren, die zu dieser Situation geführt haben, bekannt sind, denn sie dominieren die Arbeitskulturen, auch wenn sie den Beteiligten häufig nicht bewusst sind.

    Beispiel: Bei der Berufswahl, so meint Hirschfelder, spielen Faktoren wie gesellschaftliches Ansehen beziehungsweise Prestige eine maßgebliche Rolle. Aber:

    Während die Rangfolge zur Zeit der Vormoderne relativ klar definiert war, führt die Struktur der heutigen Patchworkgesellschaft zu Verwirrungen. Wer steht oben? Sind Sozialprestige oder Einkommen die maßgeblichen Parameter?

    Hirschfelder zeichnet in einem Abriss den Bedeutungswandel der Arbeit nach. Bei aller Dynamik macht er als Konstante allerdings aus, dass Arbeit meist in einem Spannungsverhältnis gestanden habe: zwischen der ursprünglichen Bedeutung des Wortes im Sinne von 'Mühsal' und Denkmustern, die Arbeit in positiven Zusammenhängen interpretierten. Für das neuzeitliche Denken schließlich, so Hirschfelder, sei Arbeit zum gesellschaftlichen Grundbegriff geworden - bis hin zur Überhöhung des Arbeitsbegriffes im Zuge der industriellen Revolution. Von ideologischer Überhöhung der Arbeit geht Hirschfelder auch für das 20. Jahrhundert aus; er schließt sich Erichs Fromms Schlagwort von der "Industriellen Religion" an. Bereits im Eingangskapitel gibt der Herausgeber damit eine im Grundtenor kritische Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Informationszeitalters vor. Diese kritische Einstellung wird - wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung - von der Mehrzahl der Textbeiträge geteilt. Zumindest eint die Autoren eine gewisse Bereitschaft, alle gängigen Heilsversprechen oder Mythen des Informationszeitalters auf den Prüfstand zu stellen. Annette Henniger etwa konstatiert in ihrer Untersuchung "Local Heroes im globalen Informationszeitraum":

    Im Gegensatz zu der Annahme, dass Globalisierung und die zunehmende Verbreitung von Informationstechnologien zu einer Auflösung des Raumes führen werden, schließe ich mich der Auffassung an, dass der lokalen Einbettung von Unternehmen auch in einer scheinbar so virtuellen Branche wie der Software-Industrie eine zentrale Bedeutung für den Unternehmenserfolg zukommt.

    Einen Entzauberungsbeitrag aus ganz anderer Perspektive liefert Anke Bahl. Sie hat die computergestützten Weiterbildungsprogramme zweier Großunternehmen betrachtet. Aus diesen E-Learning-Projekten - computergestütztem, also 'elektronischem' Lernen - zieht sie das folgende Fazit:

    Die anfängliche Euphorie im Bildungssektor hat sich mittlerweile deutlich abgekühlt, so dass das E nun eher für Ernüchterung steht. Allmählich setzt sich die Einsicht durch, dass die erfolgreiche Einführung von E-Learning in der betrieblichen Bildung von weitaus mehr Faktoren abhängt als beispielsweise von der Installation einer technisch aufwendigen Plattform. Abgesehen davon, dass es vielfach an geeigneten Inhalten, dem so genannten Content, mangelt, zeigt sich, dass das alleinige Bereitstellen von Lerninhalten nicht ausreicht, um Mitarbeiter für das selbstständige Lernen am PC zu motivieren.

    Überhaupt erweist sich der Mensch von bemerkenswertem Beharrungsvermögen in seinen Eigenschaften und Vorlieben - auch oder vielleicht auch erst recht im virtuellen Umfeld. Eine Fallstudie, die Michaela Goll in einer Beratungsgesellschaft mit 12 vernetzten Mitarbeitern erstellte, zeigt die virtuellen Kollegen doch als sehr real agierende Personen. Da wird via E-Mail übertrieben geschmeichelt, wenn der eine den anderen Mitarbeiter um einen Gefallen angeht; da werden Kritik und Mahnungen in einen Ironiemantel gehüllt, um ihnen die Spitze zu nehmen; da wird Verärgerung, wenn sie sich an einen hierarchisch Gleichberechtigten richtet, nur verklausuliert zum Ausdruck gebracht.

    Und schließlich - normaler geht's kaum mehr in der künstlichen Welt der Bits und Bytes: Golls Untersuchung zeigt auf, dass auch in E-Mails Humor hierarchischen Spielregeln unterliegt. Den wochenendlichen Aufmunterungswitz via E-Mail unter den Mitarbeitern zu verbreiten, ist natürlich Chefsache. Wie in jeder normalen, realen Konferenz - auch da ist es ja in der Regel nicht irgendwer, sondern der Chef, der bestimmt, wann und wie viel gelacht werden darf.

    Besonders authentisch wirkt die Untersuchung von Goll, weil sie in ihrem Beitrag übers "Scherzen, Jammern und Klönen im Netz" Ausschnitte ihres untersuchten E-Mail-Verkehrs in faksimilierter Form wiedergibt. An Stellen wie diesen zeigt die Volkskunde - oder moderner: Europäische Ethnologie - ihre Stärken. Dass eine konkrete Betrachtungsweise einerseits - das berühmte "ins Feld gehen" der Volkskundler - und die Beschäftigung ausgerechnet mit virtuellen Räumen andererseits für den Ethnographen keine Gegensatzpaare sein müssen, reflektiert der von Hirschfelder und Huber herausgegebene Band an etlichen Stellen. Und damit sind just die Passagen bezeichnet, bei denen der Tagungsbericht sich wohl vor allem an ein Fachpublikum aus Sozial- und Kulturwissenschaftlern richtet. Für ein normales Leserpublikum wird die Kost an diesen Stellen eher schwer verdaulich, da sich die Volkskundler in der Nabelschau üben. Das aber ist verzeihlich; die mehr als 500 Seiten bieten dennoch genug an Interessantem und Spannendem.

    Und manchmal gelingt es ja auch, einen Fachdiskurs so zu drehen und zu wenden, dass er auch für Leser außerhalb des Fachs einiges zu bieten hat. Die Autoren Andreas Wittel und Götz Bachmann etwa beginnen ihren Beitrag so:

    Es folgt ein Bericht über die Vorbereitungsphase eines Forschungsprojektes, das lange in den Startlöchern verharrte und entweder ohne Knall und Pistolenschuss wieder zurück in Richtung Umkleidekabinen geht oder schließlich doch noch beginnt.

    Aus einem Forschungsprojekt über interaktives Fernsehen basteln die Autoren eine Feldstudie zum Thema: Weshalb ein Forschungsprojekt über interaktives Fernsehen nicht zustande kam. So macht man aus wissenschaftlicher Not eine Tugend - und die ist in diesem Fall durchaus lesenswert.

    Birgit Becker las für uns den Sammelband der Ethnologen Gunther Hirschfelder/Birgit Huber (Hg.): Die Virtualisierung der Arbeit, Campus, Frankfurt a.M. 2004, 480 Seiten, 39,90 Euro.