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Das Verschwinden der Heimat. Zur Gefühlslage der Nation

Autor: Mut oder Sinn für Marketing? "Das Verschwinden der Heimat" hat der Journalist und Fernsehautor Martin Hecht seinen Essay genannt, und der Titel zielt auf einen reizbaren Punkt deutscher Befindlichkeiten. Denn er ist geeignet, die Alarmglocken schrillen zu lassen und seinen Autor ins Gespräch zu bringen: "Heimat" hat abgedankt in Deutschland, und wer andeutet, ihren Untergang nicht laut feiern zu wollen, macht sich aus gutem Grund verdächtig. Denn spätestens seit dem braunen Geraune vom "Lebensraum" und der brachialen Vereinnahmung liebgewordener Bilder lässt sich von "Heimat" im Ton der Unschuld nicht mehr sprechen - zu viel Völkisches, Demagogisches, Mörderisches haftet an dem Begriff. All dies wird Martin Hecht bei der Wahl eines zugkräftigen Titels bedacht haben. Einen zynischen Ausverkauf politischer Kultur wird man ihm trotzdem nicht vorwerfen können. Denn längst ist die wohlbegründete Heimat-Skepsis zum wohlfeilen Topos verkommen, pflegen die Heimatverächter eine Gesinnungsarroganz, die dem angeblichen Revanchismus der Heimatfreunde an Militanz nicht nachsteht. Die Verleugnung der Heimat, so Hecht,

Kersten Knipp |
    Zitator: "erstarrte zu einem intellektuellem Dogma, das nicht minder radikal war als dasjenige, das noch unkritisch Heimat verherrlichte"

    Autor: und er fährt fort:

    Zitator: "Die kritische Haltung, die hinter dem Schleier der Heimat die Fratze des Faschismus enthüllte, der Intoleranz und der Unfreiheit, hat sich durchgesezt. Doch sie hat nicht nur großkotzige Heimatmythen zerstört, die dazu da waren, Herrschaftsansprüche zu legitimieren, sondern sie hat auch das Thema als solches tabuisiert. Weil sie sich als Träger einer schädlichen Ideologie entlarvt hat, einer für allerlei Zwecke instrumentalisierbaren darüber hinaus, weil allerorten "Missbrauch" winkt, (...) ist der Haß auf Heimat en vogue. Sie ist Teil der Tugendtyrannei, die man political correctness nennt. Nur Unverbesserliche wollen davon nicht die Finger lassen."

    Autor: Durch diese selbstgefällige Ausweitung der Tabuzone schadete die kritische Vernunft am meisten sich selbst. Denn sie kann weder erkennen noch verhindern, dass die Deutschen ein nach wie vor äußerst inniges Verhältniss zu ihrer Heimat haben - das sich zudem in zweifacher Weise äußert: in Formeln plumper Anbetung einerseits, andererseits durch verkrampfte Verleugnung, durch den gutgemeinten, aber leider missglückten Aufbruch in die Moderne. Aber wer als Analytiker die Bindung zur Heimat ernst nimmt, statt sie bloß zu verdammen, dem winkt als Lohn seiner unzeitgemäßen Betrachtungen ein faszinierender Einblick in das gewaltige Psychodrama des bundesrepublikanischen Alltagslebens. Und wirklich, nichts Geringeres strebt Hecht mit seinem Essay an als

    Zitator: "eine Expedition ins Innere der deutschen Seele".

    Autor: Die Blickrichtung stimmt. Denn Heimat, so eine alte Binsenwahrheit, findet der Mensch am ehesten noch in sich selbst:

    Zitator: "Heimat zu haben, ist ein Gemütszustand, und genauso, keine zu haben."

    Autor: Und wenn vorhergehende Generationen den gegenwärtigen eines voraushaben, dann das stille Glück sanft dösender Unbewusstheit:

    Zitator: "Die alte Heimat war wie ein ruhiger, tiefer Schlaf. Ein vielleicht unfreier Zustand ohne Individualität, dafür mehr oder weniger wohlige Gefangenheit und glückliche Unverantwortlichkeit: Wer schläft, sündigt nicht. Wer diese Heimat hatte, der fühlte sie nicht."

    Autor: Als ahnten sie dies, arbeiten die Deutschen verbissen an der Re-Infantilisierung ihres Gemüts. Unbegrenzt sind ihre kompensatorischen Phantasien, unerschöpflich ihr Repertoire ausgleichender Ticks, Spleens und Albernheiten. In zahllosen Ritualen suchen sie den Exodus zu verarbeiten, in tausend kleinen Verrücktheiten ertränkt eine ganze Nation ihren Schmerz - und mit ausgeprägtem Sinn für die Faszination des Peinlichen führt Hecht seine Leser durch die zahllosen Gänge der gesamtdeutschen Villa Kunterbunt. Deren bekannteste Festsääle heißen "Kommödienstadl", "Volkstümliche Hitparade" und ähnlich. Die Lust auf Stimmung ist hier latent vorhanden; aber schon die eigentümlich verkrampfte Miene manchen Gastes deutet es an: Vor laufenden Kameras entspannt zu schunkeln, ist eine reife zivilisatorische Leistung, zu erbringen nur durch den unbedingten Willen zum Kitsch, durch eine Anhäufung von Strohballen, Mohnblumen, Kutschrädern in einer Dichte, die selbst einen Ganghofer neidvoll erblassen ließe. Heimliches Zentrum dieser gestellten Welt aber ist der Moderator:

    Zitator: "Die Volkstümelei kann die Kühle, gegen die sie sich wendet, nicht durchbrechen, da auch die eigene Gemütlichkeit wiederum nur eine inszenierte, folkloristisch inszenierte ist. Der Job des Moderator ist es, genau diesen Umstand vergessen zu machen (...) Sein wichtigstes Talent ist es, einzuheizen. (...) Denn der Weg in die inszenierte Heimat führt nur über die hohen Hürden der inneren Peinlichkeit, und es braucht einen, der diese erst einmal umstößt. (...) Das Sensorium für ein falsches, nur eingeredetes Gemüt ist dabei sehr empfindlich, so daß die Volkstümelei nur funktioniert, wenn über höchste Frequenz manipuliert und alle Dramaturgie eingesetzt wird, den künstlichen Beigeschmack zu übertünchen."

    Autor: Und trotzdem: Wirklich behaglich fühlt man sich hier nicht. Die echte Gaudi steigt darum anderswo, etwa in der intimen Öffentlichkeit der Weinfeste und Schützenzelte. Erst hier bricht sich die Heimatliebe freie Bahn, zwischen Arschkniff und Alkohol arriviert sie zum trauten Hort des Menschlich-Allzumenschlichen - oder eben, in anderer Lesart:

    Zitator: " Zur Projektionsfläche des Dreisten und Unverschämten im menschlichen Gehabe, des Distanzlosen, Gemeinen und Ungehobelten, des Ungepflegten und Ungewaschenen, des Lauten und Gewalttätigen, die allesamt als Insignien eines gesunden, natürlichen Verhältnisses des Menschen zu sich und seiner Umwelt wiedererstehen".

    Autor: Bis hierhin, könnte man Hecht vorwerfen, hat er sich allzu leichte Gegner ausgewählt. Aber auch der Abschied aus dem bodenständigen Elend zeugt von stupender Stillosigkeit, auch die Flucht vor der Heimat endet in tiefster ästhetischer Provinz. Denn im Wirtschaftswunderland sind die Insignien der Weltläufigkeit seit jeher allzu einfach zu haben: Das schmiedeeiserne Gartentor und die matt leuchtenden Marmorputten zeugen von "Geschmack", der weiße Steinway-Flügel von "Kultur". Dass diese "gediegene" Eleganz ihrer Zeit hoffnungslos hinterher war: man brauchte es nicht zu wissen. Allerdings: Mit dem Anschluss an den Weltgeist hapert es auch heute. "Global" will jetzt die Heimat sein, und vornehmster Nachweis der kosmopolitischen Existenz ist ihren Bewohnern der endgültige Triumph über den unlängst noch akuten Mangel an Fitness-,Wellness-, Sonnenstudios; oder auch der neue "California Pub" im Zentrum von Wanne-Eickel. Wie polyglott die Heimat ist, lässt sich im übrigen der Fachpresse entnehmen:

    Zitator: "Wenn die PR-Lady und der Sony-Manager telephonieren,",

    Autor: bejubelt der Redakteur eines Lifestylemagazins ein Vorzeigepärchen der neuen Zeiten,

    Zitator: "dann meistens auf Englisch: das geht schneller."

    Autor: Das hat was. Da möchte man sein Englisch im Abendkurs der Volkshochschule glatt selbst noch mal auffrischen. Deutschland, ein Tollhaus. Beikommen will Hecht dem nationalen Narrenspiel mit einem vornehmen Begriff der klassischen Moderne: dem Individualismus. Denn der, so Hecht,

    Zitator: "ist keinesfalls gescheitert, er ist vielmehr ein unvollendetes Projekt. Der modernen Gesellschaft kann er eine neue Form der Heimatlichkeit geben, (...) eine neue Heimat, die den alten Zwang und die unfreiheitliche Enge überwindet."

    Autor: Schade nur, dass Hecht diesen Individualismus über 200 Seiten lang konsequent ausgeblendet hat. So schrieb er zwar ein Buch voll trauriger Wahrheiten, aber zum Glück auch nur halber Wahrheiten. Denn Deutschland kennt sehr wohl eine individualistische Tradition jenseits von Schützenzelt und Karneval. Es ist Zeit, daß Hecht sie zur Kenntnis nimmt.