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Das wahre Leben

"Ich gehöre jetzt in die erste Reihe der Produktionsmechaniker. Ich begreife als erster das Neue und gebe es an meine Kameraden weiter. Es ist mir bestimmt, diejenigen hart zu bekämpfen, die sich mir in den Weg stellen. Es gibt keine Kraft oder Persönlichkeit, die sich mir widersetzen könnte. Meine Weltanschauung triumphiert. Mit Begeisterung spreche ich die Worte Kirows nach: "Unsere Arbeiterklasse hat das Schicksal unseres großen Vaterlandes fest in die Hand genommen.” Diese Stärke besteht in der Gerechtigkeit, genialen Weisheit, Lebenskraft der Klasse und ihres Gehirns, der Partei. Wir sind freie Menschen!”

Sonja Zekri |
    Die ganze verdrehte Romantik der Stalin-Zeit spricht aus diesen Zeilen: Der Rausch des Nie-Dagewesenen, pathetische Aufrichtigkeit, radikaler Voluntarismus, tiefe Dankbarkeit gegenüber der Partei und kaum versteckte Drohungen gegen sogenannte "Schädlinge”. Leonid Potjomkin, der Verfasser dieser Zeilen, ist das, was die Russen einen Enthusiasten nennen.

    Wir schreiben den März 1935. Der zitierte ruhmreiche Genosse Kirow ist bereits mehr als ein Jahr tot. Möglicherweise hat Stalin den einflußreichen Leningrader Parteiführer ermorden lassen, weil er einen Rivalen fürchtete, ganz genau weiß man das bis heute nicht. Ähnlich wie die Nazis den Reichstagsbrand nutzten, nutzte Stalin den Mord an Kirow als Rechtfertigung für blutige Abrechnungen. Kirows Tod war der Auftakt des "Großen Terrors”. In den sogenannten "Säuberungen” ließ Stalin fast die gesamte alte Garde der Bolschewiki vernichten, er zerstörte die Spitze der Roten Armee fast vollständig. Millionen Unschuldiger wurden ermordet oder verschwanden im Gulag.

    Im Tagebuch des Genossen Potjomkin lesen wir davon nicht ein Wort. Weder 1935, noch im Jahr davor oder danach. Denn Potjomkin ist ein neuer Mensch, ein Geschöpf Stalins. Als Kind mußte er stehlen, denn seine Familie war arm. Nun, als Student des Bergbau-Instituts, fliegt er auf den Flügeln der Industrialisierung hoch hinaus. Stalin verdankt er Bildung, Freunde und Anerkennung, die Mädchen beeindruckt er durch eine Lehrstunde in Dialektischem Materialismus. Der Technokrat Potjomkin - ein Aufsteiger, den die erlebte Not zum Opportunisten gemacht hat.

    Seit Mitte der achtziger Jahre haben die Herausgeber von "Das wahre Leben”, Veronique Garros, Thomas Lahusen und Natalija Korenewskaja, nicht veröffentlichte Tagebücher aus der Zeit des Großen Terrors aufgespürt. Zusammen mit Forschern aus Rußland, Frankreich und der Schweiz haben sie Hunderte von Archiven, Bibliotheken und privaten Nachlässen durchforstet. Unter dem Titel "Intimacy and Terror” veröffentlichten sie zehn der Tagebücher bereits vor drei Jahren in den Vereinigten Staaten. Für die deutsche Ausgabe wurden davon sechs Aufzeichnungen ausgewählt.

    Im Dezember 1937 feierte die Sowjetunion die Wahl zum Obersten Sowjet. Das propagandistische Getöse war gewaltig. Bereits morgens um sechs Uhr eilt die Hausfrau Galina Stange zur Wahl. Danach notiert sie: "Nachdem wir unsere Stimmen abgegeben hatten, gingen wir hinaus und gratulierten einander. Ich weiß nicht genau, warum ich plötzlich so ergriffen war, ich mußte sogar einen Augenblick lang mit den Tränen kämpfen. Wahrscheinlich deshalb, weil wir unter den allerersten Wählern dieser weltweit einzigartigen Wahl waren. Zu Hause unterhielten wir uns noch lange über unsere Erlebnisse.”

    Ihre sentimentale Hingabe erinnert an den hymnischen Stil Leonid Potjomkins. Eine ganz andere Tonart schlägt dagegen die Leningrader Puppentheater-Direktorin Ljubow Schaporina an: "Was für ein Unsinn. Auswählen heißt doch, eine Wahl zu haben. Wir hatten einen einzigen im voraus angekreuzten Namen. In der Kabine bekam ich einen Lachanfall wie in der Kindheit. Ich trat hinaus. Ich schlug den Mantelkragen bis zu den Augen hoch, es war unwahrscheinlich komisch. Es ist eine Schande, erwachsene Menschen in eine so dumme, peinliche Situation zu bringen. Wen täuschten wir denn? Wir alle lachten. Und diese Kabinen mit ihrem Feigenblatt aus rotem Kattun.”

    Diese widersprüchlichen Eindrücke desselben Ereignisses sind für die Tagebücher charakteristisch. Was die Aufzeichnungen an unterschiedlichen sozialen Prägungen, an historischem Bewußtsein und politischem Urteilsvermögen, an Mut und Empfindungstiefe offenbaren, ist so individuell wie ein Fingerabdruck. Natürlich gilt dies auch für den literarischen Anspruch. Der Stil reicht vom schlichten Wortschatz eines Bauern bis zu den kitschigen Manierismen eines Literaturfunktionärs. Es verblüfft, daß in den bleiernen dreißiger Jahren in der Sowjetunion eine solche Vielfalt, eine fast Bachtinsche "Polyphonie” an rivalisierenden Erfahrungen, Sprachen und Gewohnheiten, Gedanken und Geschichten herrschte.

    Die Puppentheater-Direktorin Schaporina verfolgte die Hexenjagd gegen Schostakowitsch und andere Leningrader Künstler aus nächster Nähe. Sie besuchte die Versammlungen, auf denen sich auch der Regisseur Meyerhold gegen den Vorwurf des "Formalismus” verteidigte, hörte als eine der ersten von der Ermordung seiner Frau. Ohnmächtig vor Wut und Ekel dokumentiert sie Kampagnen gegen Journalisten, Bühnenarbeiter, Schriftsteller und Musiker. Der Historiker Walter Laqueur hat zwar zu recht bemerkt, daß die Überlebenschancen eines Malers weit größer waren als die eines Generals. Doch die stolze und originelle Leningrader Künstlerszene war Stalin seit jeher verhaßt.

    In den Aufzeichnungen von Ljubow Schaporina mischen sich persönliche und politische Tragik. Den frühen Tod ihrer Tochter Aljona hat sie nie verwunden. Ohne zu zögern, nimmt sie die Töchter eines verhafteten Schriftstellers auf und gibt ihnen alle Zuneigung, die Aljona nicht mehr bekommen kann. Ljubow Schaporina reflektiert nicht nur die Angst, die sich pestartig ausbreitet. Sie ist eine der wenigen, die sich über die allmähliche Abstumpfung Rechenschaft ablegen: "In der Nacht wachte ich etwa um drei Uhr auf. Die Straßenbahnen fuhren noch nicht. Auf der Straße war es vollkommen still. Plötzlich hörte ich eine Salve. Und zehn Minuten später wieder. Das ging in Abständen von zehn, fünfzehn Minuten so. Ich öffnete das Fenster, horchte. Es war kein Geräusch von der Fabrik. Waren es Erschießungen? Das nennt sich Wahlkampagne. Und unser Bewußtsein ist so abgestumpft, daß die Eindrücke darüber hinweggleiten wie über eine lackierte Oberfläche. Daß wir eine ganze Nacht lang hören können, wie vermutlich unschuldige Menschen erschossen werden - und nicht den Verstand verlieren. Danach wieder einschlafen, als wäre nichts geschehen. Entsetzlich.”

    Passagen wie diese beziehen ihre Wirkung ebenso aus dem Inhalt wie aus der Unmittelbarkeit zum Geschehen. In den Tagebüchern erlebt der Leser nächtliche Erschießungen und Verrat, Versorgungsengpässe und Schauprozesse, Angst und Propagandahysterie in einer Eindringlichkeit, die nur die totale Subjektivität schaffen kann. Die zeitliche Nähe suggeriert eine Unverfälschtheit, die die Tagebücher ebenso von der "oral history” der Perestroika-Jahre unterscheidet wie von der Lagerliteratur, denn diese gab die Gulag-Erfahrungen oft erst nach Jahren wieder.

    Tagebücher bedeuteten für den Verfasser höchstes Risiko, denn in Verhören waren sie willkommenes Beweismaterial. Berühmt geworden sind die Bulgakow-Tagebücher. Der Geheimdienst hatte sie vor dem Verhör des Schriftstellers konfisziert. Nach seiner Freilassung bekam Bulgakow seine Aufzeichnungen wieder. Verbittert verbrannte er sie und schwor, keine Zeile mehr zu schreiben. Ironischerweise tauchten 1990 dennoch Bulgakow-Notizen auf: es waren die Kopien des Geheimdienstes.

    Die Angst vor Entdeckung ist in vielen der Tagebücher aus den dreißiger Jahren spürbar. Ljubow Schaporina hat zu ihren Schreibheften eine "Beziehung wie zu sehr lieben und ein wenig verbotenen Freunden.” Und der Student Stepan Podlubny notiert am 30. Mai 1936: "Heute ist kein gewöhnlicher Tag für mein Tagebuch. Ich habe es mit ins Grüne genommen, zum ersten Mal in den Jahren, seit es meine Tagebücher gibt. Gewöhnlich halte ich das Tagebuch streng zu Hause, hüte mich davor, es unter Leute zu bringen, damit es mir nicht weggeschnappt wird.”

    Daß diese Angst nicht aus der Luft gegriffen war, beweist das Schicksal des Bauern Andrej Arschilowski aus Tjumen. Arschilowski war kein Mann von großer Bildung, aber von kritischem Geist. Die Bolschewiki stuften seinen Hof als "Kulakenwirtschaft” ein, als klassenfeindlichen Großbauernhof. Er wurde zu Haft und Zwangsarbeit verurteilt. Nach seiner Freilassung 1936 findet er eine Stelle als Buchhalter in einem Sägewerk und kommt mit seiner Familie mehr schlecht als recht über die Runden. Bald amüsiert, bald verbittert, aber stets mit bemerkenswerter Klarheit und Distanz beschreibt er das stumpfe, dumpfe Dorfleben. Korruption und Willkür beherrschen den Alltag, und die kirchlichen Riten leben als Parteifeiern weiter. Zum Tode von Stalins Weggefährten Ordschonikidse etwa wird eine Trauerfeier im Sägewerk angeordnet. Arschilowski entlarvt sie als Groteske: "Interessant, wie so etwas abläuft. Eine Kundgebung nationaler Trauer sollte erschütternd sein, aber sie verlief ermüdend. Der Direktor wandte sich an die Versammlung: "Wer spricht jetzt, Genossen?” Lastendes Schweigen. "Keine Freiwilligen?” beharrte der Direktor und im Ton lag eine Drohung. Langsam und widerwillig traten zwei Parteigenossen unseres Werks auf, schlugen vor, anläßlich des Todes dieses standhaften Bolschewiken die Produktivität zu erhöhen. Scheschukow sprach von einer sozialistischen Kopeke, der sozialistischen Wandtafel. Er wäre sicher auch noch auf den sozialistischen Nagel zu sprechen gekommen. Warum kam niemandem in den Sinn, zu sagen, daß man als Reaktion auf den Tod vorschlagen müßte, die Gehälter der Werksobrigkeit zu reduzieren? Das wäre substantiell und würde die allgemeine Lage sicherlich bessern.” Arschilowski folgt einem Zwang zur Wahrheit, denn seine Tagebücher sind in der Welt voller Lügen und Propaganda der einzige Halt. Er schreibt ohne Rücksicht auf die Gefahr. Daß seine Aufzeichnungen schließlich eines der belastenden Dokumente werden, als man ihn verhaftet, war abzusehen. Am 5. September 1937 wird er erschossen.

    Daß die Tagebücher neben den politischen Beobachtungen Banalitäten im Übermaß enthalten, verwundert kaum. Auch unter Terror-Bedingungen stellt sich irgendwann Alltag ein. Und so erfährt der Leser viel über Ehestreitigkeiten, Ärger mit den Kindern, Vergnügungen und Träume. Das ganz normale, das "wahre” Leben.

    Die Zeit des Großen Terrors hat heute für westliche Wissenschaftler ihren monolithischen Charakter längst verloren. In den Jahren von Perestroika und Glasnost wurden die Archive geöffnet, russische Wissenschaftler stellten lang verbotene Fragen. Fast täglich wurden neue Enthüllungen und Geständnisse veröffentlicht. Die "oral history” erlebte einen nie dagewesenen Aufschwung.

    Trotzdem erstaunt die Erkenntnis, daß es Menschen gab, die sich dem System gänzlich verweigern konnten. Menschen wie Ignat Frolow. Der Bauer aus Kolomna in der Nähe von Moskau datiert seine Aufzeichnungen konsequent nach dem alten Julianischen Kalender, er war also nach der Gregorianischen Zeitrechnung der Bolschewiken stets 13 Tage zu spät dran.

    Frolow verweigerte sich nicht nur dem Kalender, sondern dem offiziellen Leben überhaupt. Sein Tagebuch enthält allein landwirtschaftliche Informationen, Angaben über Sonne, Regen und Windstärke, das Säen und Ernten, den Verkauf des Getreides, Geburten und Todesfälle von Mensch und Tier. Und so wird das, was er nicht schreibt, zum eigentlichen Gegenstand. Um dies zu verdeutlichen, konfrontieren die Herausgeber Frolows Aufzeichnungen mit Artikeln aus der Tageszeitung Iswestija. Am 12. Juni 1937 berichtet die Zeitung über den Schauprozeß gegen die Spitze der Roten Armee - eines der absurdesten Verbrechen Stalins: "Das Urteil des Gerichts stellt einen Akt der Humanität dar und schützt unsere Heimat und die fortschrittliche Menschheit vor den blutrünstigen Ungeheuern der bourgeoisen Spionage. Unser Land begrüßt heute mit Genugtuung das Gerichtsurteil. Tod durch Erschießen! So lautet das Urteil des Gerichts. Tod durch Erschießen! Das ist der Wille des Volkes.”

    Am selben Tag notiert Frolow in sein Tagebuch: "Ruhiges schönes Wetter, es ist heiß, und es weht ein ganz leichter Nordwind. Im Kolchos ist das Mistausbringen beendet, sie brennen die Zwiebelfelder ab und haben mit der Grasmahd an den Wegen und Feldrainen begonnen.”

    Während die Iswestija den ersten Direktflug nach Nordamerika bejubelt, schreibt Frolow über das Häufeln von Kartoffeln. Feiert das Blatt die Sportparade auf dem Roten Platz, notiert Frolow: "Heute ist der Tag der Apostel Peter und Paul”, als hätte es die Revolution nie gegeben. Die offizielle Deutung der Wirklichkeit und Frolows entrückte, fast mittelalterliche Bauernnotizen scheinen aus anderen Zeiten, anderen Welten zu stammen. Warum tut Frolow das? Ist es eine Art stiller Widerstand gegen die überhitzte Stimmung im Lande? Ist er abgeschnitten von den politischen Ereignissen in Moskau? Die Herausgeber haben darauf keine Antwort. Dennoch widerlegt das Tagebuch die Illusion vom totalen Zugriff des Staates auf seine Bürger, von der Omnipotenz des Repressionssystems, das den Menschen nur die Wahl ließ zwischen Anpassung und Widerstand.

    Die Konfrontation von Frolows Tagebuch mit den Iswestija-Artikeln ist einer der wenigen gestalterischen Eingriffe. Ansonsten haben Garros, Lahusen und Korenewskaja die Aufzeichnungen nur gekürzt und mit einer biographischen Skizze versehen. Fußnoten erklären Ereignisse, Personen und Zusammenhänge, die nicht jedem Leser geläufig sind. Abgesehen von einigen einleitenden Worten lassen die Herausgeber die Aufzeichnungen für sich selbst sprechen. Der Leser erhält kein fertig gedeutetes Sittenpanorama, sondern ein Mosaik, dessen Steine sich zu verschiedenen Mustern legen lassen. Viele Interpretationen sind möglich, viele Zugänge denkbar. Der Historiker findet eine Fülle von unveröffentlichtem Quellenmaterial vor. Für den wenig informierten Leser ist "Das wahre Leben” ein grandioses Werk über eine der dramatischsten Epochen dieses Jahrhunderts.

    Auch sechzig Jahre danach sind noch immer nicht alle Rätsel des Großen Terrors gelöst. Er war - zumindest in seinem letzten Stadium - ein Verbrechen ohne eindeutiges Motiv. Die Willkür und Irrationalität, mit der Stalin bald diese, bald jene Gruppe unter Beschuß nehmen ließ, unterscheidet ihn von Hitler oder Pol Pot, die ihre Verbrechen ideologisch begründeten und weit systematischer betrieben. Spezifisch für den stalinistischen Terror waren vor allem die Schauprozesse: gegen die Trotzkisten, gegen die Sinowjew-Kamenjew-Gruppe, gegen Radek, gegen die Generäle und so weiter. Selbst ausländische Schriftsteller wie Andre Gide oder Lion Feuchtwanger spielten die Prozesse herunter. Das erstaunt angesichts ihres bizarren Charakters. Denn fast alle Angeklagten gestanden Untaten, die sie weder nach den Gesetzen der Physik noch nach menschlicher Logik hätten vollbringen können. Der sogenannte "Schädling” war der teuflische Doppelgänger des gottgleichen Stalin. Wie tief die Dämonisierung angeblicher Spione in die Gesellschaft eingedrungen war, beweist eine Notiz Ljubow Schaporinas: "In jedem Volkskommissariat steht ein Verräter und Spion an der Spitze. Die Presse ist in der Hand von Verrätern und Spionen. Alles Parteimitglieder, die sämtliche Säuberungen überstanden haben. Harmlose Gemüter schickt man in die Verbannung, doch 15 Jahre lang lief Zersetzung, Verrat und Ausverkauf vor den Augen aller Tschekisten. Und all das, worüber bei dem Prozeß nicht gesprochen wurde. Das ist wahrscheinlich noch schlimmer.”

    Je länger der Terror andauerte, desto größer wurde die Gefahr für die Täter, selbst "gesäubert” zu werden. Ein solcher Fall war der Literaturfunktionär Wladimir Stawski. Seit Gorkis Tod 1936 war Stawski Generalsekretär des Schriftstellerverbandes. In dieser Position lieferte er so viele Autoren ans Messer, daß er den Beinamen "der Henker” erhielt. Sein prominentestes Opfer war Ossip Mandelstam. Neben Stawskis Aufzeichnungen findet der Leser den Brief, in dem Stawski den berüchtigten NKWD-Chef Jeschow um die "Lösung des Problems Mandelstam” bittet. Jeschow ließ Mandelstam verhaften. Der Dichter starb im Lager.

    Doch als Stawskis Gönner Jeschow 1938 gestürzt wird, bricht auch sein Imperium zusammen. Er verliert seinen Posten als Generalsekretär des Schriftstellerverbandes und muß sogar die Verhaftung fürchten. Stawski fängt ein neues Leben an, beginnt, selbst wieder zu schreiben. Er hat kein Talent. Seine Tagebuchnotizen schwelgen in kitschigen Natur-Beschreibungen und blinkenden Leninorden. Er will das Trinken und Rauchen aufgeben, weniger essen, mehr Sport treiben und tut nichts davon. In Panik versucht er, ein ZK-Mitglied zu erpressen. "Ich sagte ihm ganz offen, meine Stimmung ist schlecht. Im Schriftstellerverband schätzt man mich falsch ein. Glaub mir Petro, und denk daran: Noch ein, zwei Jahre - früher oder später kommt heraus, wie sie mich, den Stalinanhänger und Bolschewiken, vernichten wollten. Und auch, wer mich vernichten will. Wenn mich der Verband unterstützte, dann wäre das etwas ganz anderes.”

    Die Larmoyanz, mit der der abgehalfterte Funktionär seine Feigheit verdeckt, ist eine widerliche Lektüre, aber eine lohnende. Stawski war kein Einzelfall, sondern ein Prinzip. Sein Leben demonstriert, wie menschliche Schwäche unter Diktaturbedingungen zur Katastrophe führen kann.

    Rußland hat seine Stawskis nie verurteilt. Zehntausende williger Vollstrecker des großen Terrors wurden nie zur Verantwortung gezogen. Heute erlebt der Stalinismus - zumindest in gewissen Kreisen - ein fatales Come-Back. Sjuganow, Anpilow und andere rechte Rattenfänger beschwören die Nostalgie der frühen Jahre und fänden in "Das wahre Leben” überreiches Material. Die Hausfrau Galina Stange schreibt entzückt über die stalinistische Verfassung, die sonst so aufgeklärte Puppentheaterdirektorin Schaporina verfällt plötzlich in einen wütenden Antisemitismus und warnt vor einer jüdischen Unterwanderung der Partei.

    Rußlands Weg in die Demokratie ist mühsam, und eine der wichtigsten Aufgaben ist die Suche nach der eigenen Identität. Die Verklärung der Vergangenheit ist dabei ebenso irreführend wie die Illusion einer historischen Stunde Null. Das Erbe der Sowjetunion läßt sich nicht wegschieben. Auch nicht das Erbe einer so düsteren Zeit wie die der dreißiger Jahre. "Das wahre Leben” ist offen und komplex genug, um neue Zugänge zu wagen.