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Das wahre Paris, das längst vergangene Paris

Eric Hazan, der 1936 geborene Ex-Chirurg und Jetzt-Verleger, unternimmt in seinem ersten Buch als Autor eine minutiöse Vermessung des urbanen Terrains von Paris, bei der, wie der Untitel zu Recht ankündigt, kein Schritt vergebens ist. "Die Erfindung von Paris" liest sich wie ein historischer Roman, spannend wie ein Karl May aus Kindertagen.

Von Jürgen Ritte | 09.07.2006
    Als sich der Ende der Siebzigerjahre des jüngst vergangenen Jahrhunderts - was schon eine Weile her ist - der Wiener Journalist und Schriftsteller Hermann Schreiber, der einigen Lesern vielleicht noch als Autor eines hübschen und lesenswerten Buches über die Geschichte der französischen Hauptstadt in Erinnerung sein mag, wieder einmal auf den Weg nach Paris machte, unterbrach er seine Reise in der elsässischen Stadt Zabern, auf Französisch: Saverne, denn damals waren die Wege noch lang und das Fliegen teuer. Nach dem Abendessen kam Herr Schreiber mit seinem Hotelier ins Gespräch, welch selbiger als junger Bursche sein Handwerk in Paris gelernt hatte. Und als nun dieser vermutlich sehr freundliche Hotelier vom Reiseziel seines Gastes erfuhr, da muss er ihn mit einem mitleidvollen Augenaufschlag angeblickt haben. "Ach, Paris", so beschied er ihm, "da ist schon lange nichts mehr los." Da habe er, Schreiber, sich wohl ein gutes halbes Jahrhundert zu spät auf den Weg gemacht ; das wahre Paris, das sei das Paris der Dreißigerjahre gewesen.

    Dass es in der Zwischenzeit ein Paris der - späten - Vierziger- und Fünfzigerjahre gegeben hatte, mit vorzugsweise existenzialischen Philosophen in den Cafés und Jazzclubs in den Kellern rund um Saint-Germain, ein Paris der Sechziger- und Siebzigerjahre mit einer veritablen Studentenrevolte und allerlei politischer und kultureller Agitation im Quartier Latin, das konnte dem guten Mann auch im fernen Zabern nicht entgangen sein. Aber das war eben nicht das wahre Paris, das stets ein längst vergangenes Paris ist.

    Jedem Neuankömmling in dieser großen, bunten und lärmigen Stadt ergeht es wie Herrn Schreiber. Er braucht nur anzukommen und zu staunen, bald stellt sich, unaufgefordert zumeist, ein freundlicher Cicerone, ein hilfsbereiter Reiseführer ein, dessen wichtigste Aufgabe genau darin zu bestehen scheint, dem Neuling mit einem Ausdruck des größten Bedauerns, mit dem Ausdruck einer gewissen Melancholie auch, der Melancholie des Wissenden, der schon bessere Zeiten erlebt hat, zu erklären, dass er, der "Neue" - leider, leider - zu spät gekommen sei. Paris sei schon lange nicht mehr Paris, das wahre Paris sei unwiederbringlich verloren. Hier, gleich um die Ecke, da gab's vor fünfzehn Jahren noch einen echten Pferdemetzger, jetzt lernen dort um die Mittagszeit die Sekretärinnen, wie man Sushis mit Stäbchen isst. Die kleine Buchhandlung an Saint-Germain-des-Prés? Aus und vorbei !

    Stattdessen: eine luxuriöse Modeboutique. Ganz zu schweigen von den Hallen, die es längst nicht mehr gibt (und der ominösen Zwiebelsuppe morgens um vier), den Weindepots am Quai de Bercy, den Huren in der pittoresken Rue Saint-Denis usw. - Das Echte und Authentische ist stets das Vergangene, das Untergegangene. Und so begibt sich der verspätet Angekommene vertrauensvoll in die Obhut seines freundlichen Cicerones, der ihm verspricht, ihn in die letzten Schlupfwinkel und Refugien des Alten, des Wahren und somit wirklich Schönen zu führen: in das Bistro, wo der Patron nur Schweine aus eigener Schlachtung verwurstet und selbstgebrannten Schnaps anbietet, in das Viertel, wo die letzten echten Armen und Arbeiter von Paris leben, in die Schreinerwerkstatt, wo noch Fischleim aus Neufundland verwendet wird... Mit ihrem stets alerten, wenn auch nicht immer restlos überzeugenden Gespür fürs verkaufsfördernde Argument sind Pariser Ladenbesitzer gerade in den angesagten Vierteln inzwischen dazu übergegangen, sich selbst historische Tiefe - und damit "Echtheit" - zu attestieren: "Maison fondée en 1991", auf deutsch etwa: "Seit 1991" (oder wahlweise '96, '95, '87), prangt in schnörkeligem, erhabenem und/oder goldenem Schriftzug unter dem Firmennamen des teuren Restaurants, der Edel-Patisserie oder einfach nur der Boutique.

    Früher waren hundert, hundertfünfzig oder vielleicht sogar zweihundert Jahre fortdauernder Existenz Ausweis für Solidität und Seriosität eines Unternehmens, heute scheinen zehn, fünfzehn Jahre zu reichen. Das Wissen um die Schnelllebigkeit der Stadt und das zunehmend kürzer werdende Gedächtnis ihrer Bewohner und Besucher hat offenbar dafür gesorgt, dass eine der kostbarsten Substanzen des modernen Tourismus', der zeitgenössischen Immobilienmaklerei und, als Ursache des Ganzen, des heutigen Lebensgefühls, das heißt: des Unwohlseins in der Gegenwart, inzwischen billiger zu haben ist als früher: wir sprechen von der kostbaren Substanz der Patina. Gegen Aufpreis ist diese in den einschlägigen Möbelwerkstätten des Pariser Faubourg Saint-Antoine jederzeit zu haben: Louis XV, Louis XVI, Wurmstich, Rost, blindfleckige Spiegel, alles ist auf Anfrage herstellbar und disponibel. Je moderner und schnelllebiger Zeiten, desto größer ist das Bedürfnis nach Patina. Walter Serner, eine der schärfsten deutschsprachigen Intelligenzen des 20. Jahrhunderts, schrieb darüber bereits anlässlich eines Paris-Besuchs unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg:

    " Die Patina, in deren melancholischem Zug Romantiker und Sentimentale am meisten sich gefallen, beweist im allgemeinen nur die nicht gerade überwältigende Tatsache, dass etwas vor vielen Jahren bereits von anderen gesehen oder auch benützt wurde. Für Denkmäler, Kirchen, Schlösser und Paläste ist sie zweifellos als Sinnbild zeitlicher Distanz der Erinnerung an Längstvergangenes wertvoll und nur der Gedanke, dass sie einmal fehlte, peinlich. Für Wohn- und Nutzbauten aber erscheint sie stets als das, was sie in Wirklichkeit ist: als das Ergebnis jahrhundertelanger Unsauberkeit, die auf die Fassade zu beschränken unmöglich sein mag. In Paris jedoch, das meist verfloht, verwanzt und verschmutzt ist, bleibt, selbst wenn diese Eigenschaften fortfielen, noch der betrübliche Zustand, der, um auf der Treppe einem Entgegenkommenden erfolgreich auszuweichen, zur Rückkehr bis zur nächsten Etage zwingt, und, um den Rock sich anzuziehen, zum Öffnen des Fensters. Das ist vielleicht romantisch. Sicher aber auf Dauer so unerträglich wie manches, das diese Stadt an modernen Einrichtungen sich geleistet hat: die Autobusse und Trams machen einen überstattlichen Radau [... ] und die Gepflogenheit, der Straßencafés das Trottoir mit Sägespänen zu bestreuen, um den Gästen das freie Ausspucken zu erleichtern, kann durch ihr vermutliches Alter so wenig einnehmen wie die Gepflogenheit der Kellner, den Wein mit dem Daumen im Flaschenhals zu kredenzen."

    Walter Serner zeigt sich schon Anfang des Jahrhunderts immun gegen alle Art von folkloristischer Machenschaft im Namen des Alten, indem er die Patina als das dekonstruiert und desavouiert, was sie damals schon war: nicht mehr als Dreck, als unsaubere Wohnverhältnisse. Ganz zu schweigen vom Daumen im Flaschenhals und der Spucke auf dem Boden. Und uns Nachgeborenen dämmert, dass jenseits der sechziger, der fünfziger und der Dreißigerjahre auch das Paris vor hundert Jahren schon nicht mehr ganz das wahre gewesen sein kann. Ein Befund, den wir, weitere fünfzig Jahre zurück, jetzt sind wir in der Mitte des 19. Jahrhunderts, auch schon bei Charles Baudelaire, dem Dichter der Blumen des Bösen finden: "Das alte Paris", seufzte er in dem Victor Hugo gewidmeten Gedicht "Der Schwan", "ist nicht mehr (die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach ! als das Herz eines Sterblichen." - Le vieux Paris n'est plus (la forme d'une ville/Change plus vite, hélas !, que le cœur d'un mortel." Immer schon wechselte die Gestalt dieser Stadt rascher als die Herzen ihrer sterblichen Bewohner und Besucher. Die sentimentale Entwicklung des Menschen hält mit der urbanen nicht Schritt. Stadtmenschen wie der Wiener Karl Kraus, der von seiner Metropole verlangte, dass sie effizient zu funktionieren habe, "gemütlich" sei er schließlich selber, bilden die Ausnahme. Die Zeit, in der Baudelaire schrieb und lebte, war die Zeit, da Paris, wie Walter Benjamin, der Zeitgenosse von Karl Kraus und Walter Serner, rückblickend dekretierte, zur Hauptstadt des 19. Jahrhunderts und damit der Moderne wurde. Es war die Zeit der Passagen, die Zeit der "Hausmannisierung", da ganze Teile der mittelalterlichen Stadt und ihrer Befestigungen der Öffnung der großen Boulevards geopfert wurden, da jene Wohnhäuser und Fassaden entstanden, die bis heute das Erscheinungsbild von Paris entscheidend prägen. Der Eingriff war brutaler als hundert Jahre später der von Staatspräsident Pompidou verfügte Abriss der berühmten Hallen in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts - welcher noch heute jedem Pariser, auch solchen, die die Hallen nie gesehen haben, das Herz bluten lässt und der jüngst Eingang fand in ein "Lexikon der französischen Kulturpolitik" unter dem Stichwort:

    Staatlicher Vandalismus. Ja, die Form einer Stadt ändert sich rascher als das Herz der Menschen, und übrig bleibt jene Nostalgie, mit der wir uns im alten Europa den großen Städten nähern. Eine gefährliche Nostalgie, die eine zunehmende Musealisierung der Stadtzentren zur Folge hat.

    Das Paris, das Walter Serner kannte, ist uns heute aus frühen Photographien vertraut, wie uns auch das Paris der Fünfzigerjahre aus - inzwischen zu Höchstpreisen versteigerten - Photographien von Doisneau oder Brassaï bekannt ist. Der Blick, den wir darauf werfen, ist der nicht ganz unschuldige Blick des Nostalgikers: Wir erfreuen uns an der pittoresken Qualität des Einfachen, des Armen, das wir - wie der menschenfreundliche Völkerkundler auf der Suche nach dem "guten Wilden" - für das Echte halten. Vor allem aber: Wir erfreuen uns, wir, die wir dauerhaft oder nur vorübergehend in Paris wohnen , an der Aura des "Es war einmal". Der Pariser, ganz gleich ob Tourist, Zugereister oder einheimischer Müßiggänger, flaniert, sofern er die Zeit dazu hat, durch die realen und imaginären Kulissen eines großen Historiendramas. Und zur besseren Orientierung zeigen die Pariser Hauswände an, welcher Akt, welche Szene gerade gespielt wird: "Hier lebte, hier wohnte, hier starb ; hier stand ; hier fiel im Kampf um die Befreiung." Weit über 2000 Gedenktafeln zieren die Fassaden dieser Stadt, soviel wie in keiner anderen vergleichbaren Metropole. Hinzu kommt die ganz eigentümliche Poesie von Straßennamen, die auf Sedimente noch vor der Geschichte zu verweisen scheinen, auf die Zeit der Märchen und Legenden: Da ist die Rue du puits de l'Ermite, die Straße zum - längst versiegten - Eremitenbrunnen. Oder die Rue du chemin vert. Die Straße des grünen Wegs. Was hat es damit auf sich, oder mit dem Holzschwert in der Rue de l'épée de bois? Oder mit dem Eisenkessel in der Rue du Pot de Fer? - Den meisten Parisern freilich ist diese Poesie nur in der unterirdischen Abstraktion des Métro-Plans gegenwärtig, wenn sie alltäglich die Stationen einer historischen Geographie abfahren, die sie von der Republik über Voltaire zur Nation bringt, von Austerlitz über Babylon zur Rennbahn von Auteuil, oder von den Invaliden über den Heiligen Lazarus zu den französischen Königsgräbern in Saint-Denis. Mit der Métro durchfährt der werktätige Mensch alltäglich einen Imaginationsraum, in den sich allmählich auch seine Biographie einschreibt - wie vor einigen Jahren schon der französische Ethnologe Marc Augé in einem schönen Erinnerungsbuch, entzündet an den Metrostationen seiner Kindheit, seiner Jugend, seines Alters, festhielt. Und damit sind wir nun endlich, nach Umwegen über Zabern, kurzen Streifzügen durch Pariser Straßen mit sonderbaren Namen und mehrmaligem Umsteigen in der Métro, angelangt bei Eric Hazan und seinem in jeder Hinsicht großen Buch über die "Erfindung von Paris". Auch Eric Hazan spricht, bei aller historisch-literarischen Gelehrsamkeit, mit der dieser Parisführer aufwartet, zunächst von einer ganz persönlichen Geographie dieser Stadt, von einer "Psychogeographie", die er an seinem untrüglichen Gespür für die Grenzen zwischen den verschiedenen Pariser Quartiers, den verschiedenen Stadtvierteln festmacht - Grenzen, die Übergänge von einer historischen Schicht zur anderen, von einem Jahresring zum anderen markieren:

    " Wer den Boulevard Beaumarchais überquert und zur Rue Amelot hinabgeht, weiß, dass er das Marais verlässt und in das Quartier de la Bastille kommt. Wer das Standbild Dantons hinter sich lässt und an der großen Mauer hinter der Ecole de médecine entlanggeht, weiß, dass er Saint-Germain-des-Prés verlässt und das Quartier Latin betritt. Die Grenzen zwischen den Pariser Quartiers sind oft mit dieser geradezu chirurgischen Präzision gezogen. Sie sind markiert durch Monumente - die Rotunde von La Villette, den Löwen von Denfert-Rochereau, die Porte Saint-Denis - oder auch durch Auffälligkeiten im Gelände - das steile Abfallen des Hügels von Chaillot zur Ebene von Auteuil hin, die Schneisen der FernStraßen nach Deutschland und Flandern zwischen La Goutte-d'Or und den Buttes-Chaumont - und manchmal auch durch große Verkehrsadern, für die der Boulevard de Rochechouart und der Boulevard de Clichy extreme Beispiele sind, denn sie bilden einen so markanten Einschnitt zwischen Montmartre und Nouvelle-Athènes, dass sich auf beiden Seiten weniger zwei Quartiers gegenüberliegen als vielmehr zwei unterschiedliche Welten [...] Die Übergänge von einem Quartier zum anderen können aber auch eher fließend sein wie beispielsweise die Gegend, in der sich um die Rue de Sèvres Missionsgebäude und Klöster ballen (die alten Taxifahrer nennen sie den Vatikan) und die man durchqueren muss, um von Saint-Germain-des-Prés nach Montparnasse zu gelangen. Oder auch die Straßen, die hinter dem Jardin du Luxembourg den Raum zwischen Quartier Latin und Montparnasse (...) füllen (...). Schon Balzac bemerkte am Ende von Ferragus über den "Raum zwischen dem Südgitter des Jardin du Luxembourg und dem Nordgitter des Observatoriums": "Dieser Raum ist farblos, nüchtern, ohne Eigenart. In der Tat, dort ist Paris nicht mehr Paris und ist doch immer noch Paris. Jener Ort hat gleichzeitig von allem etwas an sich: von einem Platze, von der Straße, vom Boulevard, von der Festung, von den Anlagen und Alleen, von der Landstraße, von der Provinz, von der Hauptstadt - und doch nichts von alledem, er ist eine Einöde.""

    Der Leser von Eric Hazans Erfindung - und Erkundung - von Paris sollte sich bei der Lektüre in jedem Falle einen vernünftigen Stadtplan neben das Buch legen - und eine historische Karte, vorzugsweise aus dem 19. Jahrhundert, an die Wand hängen. Denn Hazans minutiöse Vermessung des urbanen Terrains, bei der, wie der Untitel zu Recht ankündigt, "kein Schritt vergebens" ist, liest sich wie ein historischer Roman, spannend wie ein Karl May aus Kindertagen, bei dem das begleitende Blättern im Weltatlas zur aufregenden Lektüre wurde. Wie im eben gehörten Zitat aus der Einleitung des Buches bereits angeklungen, spaziert Hazan nur ungern durch das reale, das gegenwärtige Paris. Insofern gehört auch er zu den Nostalgikern, die die Erfindung der großen Stadt nicht den Urbanisten und Architekten gutschreiben, sondern den Schriftstellern, und hier immer wieder Balzac. In seinem Kopf - und bald schon in dem des Lesers - dröhnt es nur so von literarischen Reminiszenzen, die ihn aus der Welt des realen, des heutigen Paris ins imaginäre Paris vor der großen Modernisierung entführen. Sein Paris, ist ein Paris, wie es in alten Romanen einmal war, und ein Paris, wie es vielleicht einmal hätte werden können, denn bei seinen Gängen durch die verschiedenen Quartiers liest er der Geographie der Stadt auch die Geschichte der - gescheiterten - Revolutionen und Aufstände ab: 1830, 1848, und immer wieder die blutig niedergeschlagene Kommune von 1871. Mit der Niederschlagung der Aufstände wurden oftmals auch die Viertel ausradiert, aus denen die Aufständischen sich rekrutierten. Und so liest sich Hazans Buch über weite Strecken wie eine melancholische Ästhetik des Widerstands. Die Rose dieses Widerstands ist längst verblüht, was uns bleibt, ist der Name dieser Rose - und die sentimentale Geographie einer Stadt. Walter Serner hat diesen Umstand vor neunzig Jahren etwas hemdsärmeliger formuliert: "Die andauernde Liebe zur Vergangenheit ist meist nur die unglückliche zur Gegenwart." Begleiten wir Eric Hazan noch ein Stück auf seinen melancholischen Spaziergängen:

    " Für Diderot, für Camille Desmoulins war es ganz einfach, vom Palais Royal in die Tuilerien zu gelangen. Dreißig Jahre später mussten Géricault (...) oder Stendhal bereits die Rue de Rivoli, die große neue Verkehrsachse des Quartiers, überqueren, doch sie hatten noch nicht die Avenue de l'Opéra zu bewältigen und brauchten auch nicht den gewaltigen Block des unter Napoléon III. erweiterten Louvre zu umgehen. (...). Es bestand eine direkte Verbindung, allerdings nur beinahe, denn man musste ein Quartier durchqueren, das - was im Zentrum von Paris einmalig ist - verschwunden war, ohne die geringsten Spuren hinterlassen zu haben - nicht einmal in der Erinnerung der Pariser: das Quartier Le Carrousel.

    Die Strophe in Baudelaires "Der Schwan": "Dort erstreckte sich vormals eine Menagerie" ist nicht etwa eine bloße dichterische Vision wie der Albatros. Alfred Delvau, der flanierende Chronist des Zweiten Kaiserreichs, erinnert sich: "Einst hatte sie Charme, die Place du Carrousel (...). Sie war charmant wie die Unordnung und pittoresk wie Ruinen ! Sie war wie ein Wald, mit ihrem unentwirrbaren Durcheinander von Bretterverschlägen und Lehmbuden, bevölkert mit jeder Menge Kleingewerbe. Ich streifte oft durch das Gewirr dieser Karawanserai, durch ein Labyrinth aus Brettern und das Zick-Zack der Läden, und bald war ich mit dieser ganzen Welt vertraut: Menschen und Tiere, Kaninchen und Papageien, Gemälde und Rokoko-Ornamente" (...) In der Rue Saint-Nicaise feuerten am 24. Dezember 1800 royalistische Verschwörer eine Höllenmaschine ab, als der Erste Konsul Napoleon auf seinem Weg von den Tuilerien zur Oper in der Rue de Richelieu vorbeikam.

    Das Attentat, das acht Menschenleben kostete, läutete das Ende des Quartier du Carrousel ein. Bonaparte war sich nun bewusst, welche Gefahr es bedeutete, solche Räuberhöhlen in der Nähe seines Schlosses zu haben.

    Deshalb ließ er die beschädigten Häuser abreißen - und einige andere gleich mit. Später gab er den Befehl, die Buden und Bretterzäune zu beseitigen (...), um dort den Arc de Triomphe du Carrousel erreichten zu lassen (...). Das heutige Carrousel ist eine staubige Steppe zwischen der Pyramide des Louvre und den Gittern des Jardin des Tuileries, über die der unaufhörliche Strom des Autoverkehrs fließt, der - welch eine sonderbare Idee - als EinbahnStraße einen Kreisverkehr umfahren muss. Und ein Tunnel führt unter dem Platz hindurch, dessen Betonzufahrten dem Ganzen den letzten Schliff geben. Da der Triumphbogen in der Mitte dieser Wüste sinnlos geworden war, kam man auf den Gedanken, ihn mit den Tuileriengärten und den Flügeln des Louvre [von] Napoléon III. durch kleine, fächerförmige Grünanlagen zu verbinden, über denen Köpfe oder Hintern der dicken Frauen von Maillol auftauchen: Es gibt eine bombastische Gartenkunst wie es eine bombastische Malerei gibt. Glücklicherweise blieben einige sehr schöne Kastanien erhalten, die im Sommer den fliegenden Händlern, die um den Bogen von Percier und Fontaine herum Eis und Postkarten anbieten, etwas Schatten spenden."

    Es sind solch wohltuende Schattenflecken, die Hazans Buch auf das nicht immer leicht zu lebende Paris von heute werfen. Damit auch der moderne Reisende sich beim nächsten Paris-Aufenthalt in solch schattige Orte flüchten kann, wünscht man ihm rasch eine handliche Taschenbuchausgabe von Eric Hazans persönlichem Reiseführer.

    Eric Hazan: "Die Erfindung von Paris.
    Kein Schritt ist vergebens"
    (Ammann Verlag)