Donnerstag, 18. April 2024

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"Das war Begeisterung für de Gaulle"

Auf sämtlichen Stationen seiner Deutschlandreise vor 50 Jahren hatte Charles de Gaulle für die deutsch-französische Aussöhnung geworben. Hermann Kusterer hat ihm im September 1962 begleitet. Der heute 85 Jahre alte Dolmetscher des französischen Präsidenten erinnert sich.

Hermann Kusterer im Gespräch mit Andreas Noll | 21.09.2012
    Andreas Noll: Herr Kusterer, wie haben Sie den Besuch de Gaulles damals in Ludwigsburg persönlich erlebt?

    Hermann Kusterer: Ja, der Tag in Ludwigsburg war die Krönung eines historischen Auftritts, der sich über sechs Tage erstreckt hatte. Und Ludwigsburg ragt dadurch hervor, dass de Gaulle dort eine unwahrscheinlich inhaltsreiche Rede gehalten hat – völlig frei, also ohne Souffleur, ohne Manuskript. Ich meine, das musste er sich alles memorieren, das alles nach sechs Tagen, in denen er insgesamt etwa zwölf Reden gehalten hat, zwölf große Reden gehalten hat, von denen sechs in deutscher Sprache waren. Allein diese geistige Anstrengung, oder was er da an Absichtsbekundungen eingebracht hat – sehr schön war dann nachher auch die Fahrt zum Flughafen mit Adenauer im Auto, wo die beiden ganz still beisammensaßen und eigentlich gar nicht mehr sprachen miteinander, weil sie waren beide erschöpft und glücklich und zufrieden, wie zwei Familienoberhäupter, die gerade die Enkel zusammen gegeben haben.

    Noll: Woher kam aus Ihrer Sicht die Begeisterung der Menschen damals in Ludwigsburg, aber auch auf den anderen Stationen seiner Reise?

    Kusterer: Es war spontan. Ich kann es nicht erklären, aber es war so. Kein Mensch hatte damit gerechnet. In Bonn hat es natürlich angefangen, aber da war der Marktplatz, der ganze Marktplatz war voll bis in die Seitenstraßen hinein – die ganze Straße am Hof bis runter an der Universität entlang, da sah man noch nicht mal auf den Balkon, auf dem er stand. Das war alles dicht gedrängt, die Menschen waren zusammengeströmt. Und das noch größere Wunder war ja Hamburg – Hamburg, wo man ihm erstens mal schon abgeraten hatte, überhaupt nach Hamburg zu gehen, weil Hamburg ist, nach Übersee ausgerichtet, nach England ausgerichtet, was hat Hamburg schon mit Frankreich im Sinn sozusagen. Man hat ihm also davon abgeraten, er wollte trotzdem hin, aber man hat also – beispielsweise fuhren wir vom Flughafen zum Rathaus mit geschlossenem Verdeck, sonst war überall das Verdeck offen, und es war auch ihm verwehrt worden, eine öffentliche Ansprache zu halten, eine Ansprache an die Bevölkerung: Nein, nein, ach, da kommt keiner und so weiter und so fort. Und da waren wir da oben im Rathaus, Eintragung ins Goldene Buch, und dann gingen wir durch den Flur im zweiten Stock, glaube ich war es, also weit oben, und dann kam da plötzlich ein dumpfes Geräusch von der Straße herauf, und irgendjemand sagte: Das kann nicht sein, das ist ein Wunder. Und de Gaulle hat gemerkt, was da los war, dass da nämlich sich unten eine große Menschenmenge versammelt hatte, die schrien: Vive de Gaulle! Vive de Gaulle! Die ganze Menge. Er ging dann zu einem Fenster, und es war ein Jubelschrei von da unten, das kann man sich nicht vorstellen, als er am Fenster erschien. Er hatte die Arme weit ausgebreitet, hat seine ganze Lungenkraft zusammengesammelt und runtergebrüllt: Es lebe Hamburg! Es lebe Deutschland! Es lebe unsere deutsch-französische Freundschaft! Das war Hamburg, wo man ihm alles verwehrt hat, gesagt hat: Ach, da kommt ja keiner, das interessiert keinen.

    Noll: War das Begeisterung für de Gaulle, für Frankreich oder für Europa?

    Kusterer: Das war Begeisterung für de Gaulle und dafür, dass uns ein ehemaliger Feind – das darf man ja nicht vergessen –, der uns bis aufs Blut bekämpft hatte im Krieg, natürlich, uns nicht nur die Freundeshand bot, sondern uns auch unsere Selbstachtung wiedergab mit dem Ausruf in Bonn schon:

    "Wenn ich Ihre Kundgebungen höre, empfinde ich noch stärker als zuvor die Würdigung und das Vertrauen, das ich für Ihr großes Volk – jawohl, für das große deutsche Volk – hege!"

    Und dies hat er ja auch hier in Ludwigsburg sehr deutlich gemacht, was er, es gibt da einen Satz in der ja langen Rede, die er dann schließlich nur noch mit letzter Anstrengung überhaupt vor uns über die Bühne brachte, aber wo er die Jugend beglückwünscht, dass sie junge Deutsche sind. Das heißt, Kinder eines großen Volkes, das in der Vergangenheit viel Unheil gestiftet hat, das aber auch große wissenschaftliche Werke hervorgebracht hat, und künstlerische und geistige und philosophische Werke – also Begeisterung, ja, für eine große Persönlichkeit und natürlich für das Volk, dem er angehört, und natürlich auch der Freundschaft, die eben auch über Frankreich hinaus ja ganz Europa erfasst.

    Noll: Sie haben bis auf das erste Treffen alle Begegnungen von de Gaulle und Adenauer gedolmetscht. Wie schwierig war die Annäherung dieser beiden Staatsmänner so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg?

    Kusterer: Sie war zunächst ganz schwierig in der ersten Begegnung, bei der ich nicht dabei war, in Colombey. Adenauer ist mit größten Bedenken nach Colombey gefahren, er war sich ziemlich klar darüber, dass er mit diesem Mann überhaupt nicht klarkommen würde – und er fand eben eine ganz andere Persönlichkeit vor. Das war das Wunder von Colombey. Und von da ab war es zwischen den beiden nicht mehr schwierig. Die Atmosphäre, die ich da fand zwischen de Gaulle und Adenauer, habe ich eigentlich nirgends sonst wiedergefunden.

    Noll: De Gaulle selbst hat über Sie gesagt: Sie verstehen den Kern meiner Gedanken, und wenn Sie sie übersetzen, bringen Sie sie manchmal noch besser zum Ausdruck. Können Sie sich vorstellen, was de Gaulle von der Europäischen Union, von Europa im Jahre 2012 halten würde?

    Kusterer: Zu viel, zu viele, zu schnell - würde ich meinen. Für ihn war es wichtig, zunächst mal, dass Europa der Sechs zu bauen, weil die sind miteinander ganz eng geistig verwandt. Er hat sich immer gegen den Beitritt Englands gewandt, weil England nicht europäisch sei und denke. Und es ist eben keine Vertiefung geschehen, sondern es ist ausgeweitet worden auf Teufel komm raus, und nun ist es ein Sammelsurium, von dem niemand mehr so recht weiß, was es eigentlich ist.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.