Seit 600 Jahren lebten die Vorfahren von Irma Fischer in Neudek, einer überwiegend von Deutschen bewohnten Kleinstadt in der Nähe von Karlsbad. Ihr Großvater war nach dem Ersten Weltkrieg fast zwei Jahrzehnte Bürgermeister von Neudek. Ihr Vater, Kranführer von Beruf, war von 1928 bis 1937 arbeitslos. Die Familie sympathisierte mit den Sozialdemokraten und Kommunisten - wie viele in Neudek, bis sich Mitte der 30er Jahre immer mehr Sudetendeutsche der sogenannten Henlein-Bewegung anschlossen und - wie es hieß - "heim ins Reich" wollten.
Konrad Henlein hatte 1933 die SdP, die Sudetendeutsche Partei gegründet, eine autoritär-nationalistische Vereinigung, die zunehmend von Berlin aus gelenkt und finanziert wurde.
Nach dem Einmarsch der Wehrmacht ins Sudetenland wurde Irma Fischers Mutter bespuckt, weil sie nicht "Heil Hitler", sondern weiterhin "Grüß Gott" sagte. Der Großvater wurde von der Gestapo verhaftet und war, als er endlich freikam, verrückt geworden.
Die Geschichte der Irma Fischer ist eine von vielen Biografien, die die tschechisch-deutsche Publizistin Alena Wagnerova für ihr Buch über die "anderen Deutschen aus den Sudeten" gesammelt hat. Die Herausgeberin hat ihre Geschichten aufgezeichnet, sie gibt den Menschen eine Stimme.
"Diese Antifaschisten, die standen wirklich auf dem Vorposten der tschechoslowakischen Demokratie und haben dann die Folgen für ihren Widerstand gegen ihre Landsleute, die sich der Henlein-Bewegung angeschlossen hatten, die hatten harte Konsequenzen zu erleben gehabt: KZs, Verprügeln, starke Diskriminierung."
Die Familie von Maria Halke bewirtschaftete seit dem Dreißigjährigen Krieg einen Bauernhof im Sudetenland. Die Regierungen und Herrscher wechselten, aber die Menschen seien geblieben, erzählte sie der Autorin, bis der radikale Nationalismus der Henlein-Anhänger immer mehr Landsleute erfasst hätte. Der Vater galt nunmehr als Verräter, weil er sich weigerte, der SdP beizutreten.
"Daraufhin kam eine Meute aus dem Dorf, hat den Hof mit Steinen und Schlamm beworfen, die Fensterscheiben ausgeschlagen, so dass Otto Halke den ganzen Krieg das Haus nicht verlassen hat."
Unter den Sudetendeutschen bildeten die aktiven Henleingegner, ob Sozialdemokraten, Kommunisten oder Katholiken, eine Minderheit von fünf bis zehn Prozent, insgesamt etwa 130.000 Personen. Über 20.000 wurden verhaftet und in Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppt. Hunderte kamen ums Leben.
Aber alle diese Opfer zählten nach Ende des Krieges nicht. Die überlebenden Hitler-Gegner mussten feststellen, dass sie als Deutsche in der Tschechoslowakei nach 1945 keine Zukunft hatten. Neben den fast drei Millionen Sudentendeutschen, die unter zum Teil grauenhaften Umständen vertrieben wurden, zählten auch rund 80.000 Sozialdemokraten und etwa 50.000 Kommunisten zu den Leidtragenden. Sie wurden gezwungen, mit sogenannten Antifa-Transporten in den Westen zu fahren beziehungsweise in Zügen, die zum Teil mit Blumen und Stalin-Porträts geschmückt waren, in die Sowjetische Besatzungszone auszureisen. Alena Wagnerova:
"Sie mussten nicht diese weißen Binden tragen, sie trugen rote Binden als Antifaschisten und sie hatten schon in den meisten Gemeinden bessere Lebensbedingungen. Es gab natürlich auch Übergriffe."
Eine Demokratin hat nichts zu fürchten, dachte Helga Graf, als nach Kriegsende die sogenannten tschechischen Revolutionsgarden im Sudetengebiet auftauchten und ein Schreckensregime errichteten. Doch die Tschechen bedeuteten ihr, das spiele keine Rolle. Sie sei Deutsche und müsse weg. In der Nachkriegszeit schenkte man dem Schicksal der sudetendeutschen Hitlergegner wenig Aufmerksamkeit. In der DDR galten sie offiziell als Umsiedler. Von "Verlust der Heimat" oder "Unrecht" zu sprechen war tabu. Und in der Bundesrepublik prägte die konservative Landsmannschaft das Bild der Sudetendeutschen.
"Im Grunde genommen waren das Menschen, die sich richtig verhielten und das immer teuer bezahlten."
Die sudetendeutschen Hitler-Gegner erlebten innerhalb einer Dekade zwei historische Niederlagen: 1938 als Antifaschisten und 1945 als Deutsche. Erst im Jahr 2005 entschuldigte sich die tschechische Regierung für die lange Missachtung und sprach ihnen ihre tiefe Anerkennung aus.
Warum mussten Kommunisten und Sozialdemokraten, die sich - anders als die Henlein-Anhänger - zum tschechoslowakischen Staat bekannt hatten, ihre angestammte Heimat verlassen? Warum wurden sie mit den Nationalsozialisten in einen Topf geworfen? Darauf gibt Alena Wagnerovas Buch keine Antwort.
Eine plausible Erklärung bietet hingegen der Düsseldorfer Historiker Detelf Brandes in seiner akribischen Darstellung des Krisenjahres 1938. Seine durch zahlreiche Quellen belegte These: Um die katastrophale Entwicklung der Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen zu verstehen, müsse man sich die Ereignisse des Jahres 1938 genau ansehen.
Brandes zeichnet das Bild einer wirtschaftlich schwachen Region mit extrem hoher Arbeitslosigkeit, in der die Henlein-Bewegung mit dem Deutschen Reich im Rücken sich zur alles beherrschenden Kraft aufschwingen konnte: Politische Beobachter, die 1938 das Sudetenland bereisten, berichteten entsetzt, in vielen Gegenden sehe es so aus, als ob man im Dritten Reich lebe:
In den Betrieben regiert der Terror, auf den Straßen wird "Sieg Heil" gerufen. Die SdP stellt Wachen vor tschechischen Geschäften auf, um die Deutschen vom Kauf abzuschrecken. Die SdP-Anhänger drohen Tschechen und demokratischen Deutschen, dass für jeden schon ein Baum ausgesucht sei, an dem sie hängen werden. Die Sicherheitsorgane sind machtlos und scheuen sich, überhaupt irgendwie einzugreifen.
Die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Ende des Krieges war nach Ansicht von Detlef Brandes nicht allein eine Folge der brutalen nationalsozialistischen Besatzungspolitik, sondern vor allem eine Reaktion auf die Konfrontation zwischen Deutschen und Tschechen in der Vorkriegszeit. Die Erfahrungen der Jahre 1935 bis 1938 hätten die Mehrheit der Tschechen davon abgehalten, noch einmal mit den Sudetendeutschen in einem Staat zusammenleben zu wollen.
Brandes, der ausgiebig und detailliert aus dem umfangreichen Quellenmaterial zitiert, hat mit seiner wissenschaftlichen Studie vor allem akademische Leser vor Augen. Alena Wagnerova hingegen wendet sich mit den eindrücklichen, leicht lesbaren Erinnerungen der sudetendeutschen "Antifaschisten" an ein breites Publikum. Trotz einiger pathetischer Passagen sind es bemerkenswerte Lebensberichte. Viele fühlen sich heute nach wie vor dem Land verbunden, aus dem sie vor mehr als einem halben Jahrhundert vertrieben wurden.
"Was für mich sehr bewegend war, dass Otto Halke beziehungsweise die Familie mitgenommen hat Bleistifte, mit denen der Otto Halke den tschechoslowakischen Präsidenten Masaryk 1934 gewählt hat. Und als ich gefragt habe, warum haben Sie gerade das mitgenommen, schaute mich Frau Halke an und sagte, aber das war doch auch unser Staat, die Tschechoslowakei."
Alena Wagnerova (Hrg.): Helden der Hoffnung
Die anderen Deutschen aus den Sudeten 1935-1989
Aufbau-Verlag, Berlin 2008, 272 Seiten, 24,95 Euro
Detlef Brandes: Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938
Oldenbourg Verlag, München 2008, 399 Seiten, 39,80 Euro
Konrad Henlein hatte 1933 die SdP, die Sudetendeutsche Partei gegründet, eine autoritär-nationalistische Vereinigung, die zunehmend von Berlin aus gelenkt und finanziert wurde.
Nach dem Einmarsch der Wehrmacht ins Sudetenland wurde Irma Fischers Mutter bespuckt, weil sie nicht "Heil Hitler", sondern weiterhin "Grüß Gott" sagte. Der Großvater wurde von der Gestapo verhaftet und war, als er endlich freikam, verrückt geworden.
Die Geschichte der Irma Fischer ist eine von vielen Biografien, die die tschechisch-deutsche Publizistin Alena Wagnerova für ihr Buch über die "anderen Deutschen aus den Sudeten" gesammelt hat. Die Herausgeberin hat ihre Geschichten aufgezeichnet, sie gibt den Menschen eine Stimme.
"Diese Antifaschisten, die standen wirklich auf dem Vorposten der tschechoslowakischen Demokratie und haben dann die Folgen für ihren Widerstand gegen ihre Landsleute, die sich der Henlein-Bewegung angeschlossen hatten, die hatten harte Konsequenzen zu erleben gehabt: KZs, Verprügeln, starke Diskriminierung."
Die Familie von Maria Halke bewirtschaftete seit dem Dreißigjährigen Krieg einen Bauernhof im Sudetenland. Die Regierungen und Herrscher wechselten, aber die Menschen seien geblieben, erzählte sie der Autorin, bis der radikale Nationalismus der Henlein-Anhänger immer mehr Landsleute erfasst hätte. Der Vater galt nunmehr als Verräter, weil er sich weigerte, der SdP beizutreten.
"Daraufhin kam eine Meute aus dem Dorf, hat den Hof mit Steinen und Schlamm beworfen, die Fensterscheiben ausgeschlagen, so dass Otto Halke den ganzen Krieg das Haus nicht verlassen hat."
Unter den Sudetendeutschen bildeten die aktiven Henleingegner, ob Sozialdemokraten, Kommunisten oder Katholiken, eine Minderheit von fünf bis zehn Prozent, insgesamt etwa 130.000 Personen. Über 20.000 wurden verhaftet und in Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppt. Hunderte kamen ums Leben.
Aber alle diese Opfer zählten nach Ende des Krieges nicht. Die überlebenden Hitler-Gegner mussten feststellen, dass sie als Deutsche in der Tschechoslowakei nach 1945 keine Zukunft hatten. Neben den fast drei Millionen Sudentendeutschen, die unter zum Teil grauenhaften Umständen vertrieben wurden, zählten auch rund 80.000 Sozialdemokraten und etwa 50.000 Kommunisten zu den Leidtragenden. Sie wurden gezwungen, mit sogenannten Antifa-Transporten in den Westen zu fahren beziehungsweise in Zügen, die zum Teil mit Blumen und Stalin-Porträts geschmückt waren, in die Sowjetische Besatzungszone auszureisen. Alena Wagnerova:
"Sie mussten nicht diese weißen Binden tragen, sie trugen rote Binden als Antifaschisten und sie hatten schon in den meisten Gemeinden bessere Lebensbedingungen. Es gab natürlich auch Übergriffe."
Eine Demokratin hat nichts zu fürchten, dachte Helga Graf, als nach Kriegsende die sogenannten tschechischen Revolutionsgarden im Sudetengebiet auftauchten und ein Schreckensregime errichteten. Doch die Tschechen bedeuteten ihr, das spiele keine Rolle. Sie sei Deutsche und müsse weg. In der Nachkriegszeit schenkte man dem Schicksal der sudetendeutschen Hitlergegner wenig Aufmerksamkeit. In der DDR galten sie offiziell als Umsiedler. Von "Verlust der Heimat" oder "Unrecht" zu sprechen war tabu. Und in der Bundesrepublik prägte die konservative Landsmannschaft das Bild der Sudetendeutschen.
"Im Grunde genommen waren das Menschen, die sich richtig verhielten und das immer teuer bezahlten."
Die sudetendeutschen Hitler-Gegner erlebten innerhalb einer Dekade zwei historische Niederlagen: 1938 als Antifaschisten und 1945 als Deutsche. Erst im Jahr 2005 entschuldigte sich die tschechische Regierung für die lange Missachtung und sprach ihnen ihre tiefe Anerkennung aus.
Warum mussten Kommunisten und Sozialdemokraten, die sich - anders als die Henlein-Anhänger - zum tschechoslowakischen Staat bekannt hatten, ihre angestammte Heimat verlassen? Warum wurden sie mit den Nationalsozialisten in einen Topf geworfen? Darauf gibt Alena Wagnerovas Buch keine Antwort.
Eine plausible Erklärung bietet hingegen der Düsseldorfer Historiker Detelf Brandes in seiner akribischen Darstellung des Krisenjahres 1938. Seine durch zahlreiche Quellen belegte These: Um die katastrophale Entwicklung der Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen zu verstehen, müsse man sich die Ereignisse des Jahres 1938 genau ansehen.
Brandes zeichnet das Bild einer wirtschaftlich schwachen Region mit extrem hoher Arbeitslosigkeit, in der die Henlein-Bewegung mit dem Deutschen Reich im Rücken sich zur alles beherrschenden Kraft aufschwingen konnte: Politische Beobachter, die 1938 das Sudetenland bereisten, berichteten entsetzt, in vielen Gegenden sehe es so aus, als ob man im Dritten Reich lebe:
In den Betrieben regiert der Terror, auf den Straßen wird "Sieg Heil" gerufen. Die SdP stellt Wachen vor tschechischen Geschäften auf, um die Deutschen vom Kauf abzuschrecken. Die SdP-Anhänger drohen Tschechen und demokratischen Deutschen, dass für jeden schon ein Baum ausgesucht sei, an dem sie hängen werden. Die Sicherheitsorgane sind machtlos und scheuen sich, überhaupt irgendwie einzugreifen.
Die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Ende des Krieges war nach Ansicht von Detlef Brandes nicht allein eine Folge der brutalen nationalsozialistischen Besatzungspolitik, sondern vor allem eine Reaktion auf die Konfrontation zwischen Deutschen und Tschechen in der Vorkriegszeit. Die Erfahrungen der Jahre 1935 bis 1938 hätten die Mehrheit der Tschechen davon abgehalten, noch einmal mit den Sudetendeutschen in einem Staat zusammenleben zu wollen.
Brandes, der ausgiebig und detailliert aus dem umfangreichen Quellenmaterial zitiert, hat mit seiner wissenschaftlichen Studie vor allem akademische Leser vor Augen. Alena Wagnerova hingegen wendet sich mit den eindrücklichen, leicht lesbaren Erinnerungen der sudetendeutschen "Antifaschisten" an ein breites Publikum. Trotz einiger pathetischer Passagen sind es bemerkenswerte Lebensberichte. Viele fühlen sich heute nach wie vor dem Land verbunden, aus dem sie vor mehr als einem halben Jahrhundert vertrieben wurden.
"Was für mich sehr bewegend war, dass Otto Halke beziehungsweise die Familie mitgenommen hat Bleistifte, mit denen der Otto Halke den tschechoslowakischen Präsidenten Masaryk 1934 gewählt hat. Und als ich gefragt habe, warum haben Sie gerade das mitgenommen, schaute mich Frau Halke an und sagte, aber das war doch auch unser Staat, die Tschechoslowakei."
Alena Wagnerova (Hrg.): Helden der Hoffnung
Die anderen Deutschen aus den Sudeten 1935-1989
Aufbau-Verlag, Berlin 2008, 272 Seiten, 24,95 Euro
Detlef Brandes: Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938
Oldenbourg Verlag, München 2008, 399 Seiten, 39,80 Euro