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Das "Watschen"-Konzert in Wien

Die musikalische Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts entzweite das Publikum in den europäischen Metropolen zutiefst. Bei einem Konzert in Wien am 31. März 1913 kam es zum Eklat. Das Konzert wurde zum damals "größten Skandal der Musikgeschichte".

Von Frieder Reininghaus | 31.03.2013
    Zwei Ereignisse des Jahres 1913 haben sich als Eckpfeiler der neueren Musikgeschichte ins kulturelle Bewusstsein eingeprägt: die Uraufführung von Waslaw Nijinskis Ballett Le Sacre du Printemps mit Musik von Igor Strawinsky in Paris und eine Veranstaltung in Wien, die als "Watschen"-Konzert in die Annalen einging. Auf dem von Arnold Schönberg dirigierten Programm des Wiener Konzert-Vereins, der späteren Wiener Symphoniker, standen am 31. März zunächst Anton Weberns Sechs Stücke für Orchester op. 6, bei denen bereits Unruhe und Unmutsbekundungen zu vernehmen waren. Zemlinskys Maeterlinck-Gesänge gingen dann ungestört über die Bühne. Nicht so Schönbergs Erste Kammer-Symphonie.

    Da gab es aus dem Publikum erneut laute Lacher und boshafte Rufe, danach wieder das Gegeneinander von begeistertem Applaus und Zischen bzw. Pfeifen – auch auf Haus-schlüsseln und vorsorglich mitgebrachten Pfeifchen. Die örtliche Presse wusste zu berichten:

    "Von allen Seiten wurde nun in wüsten Schreiereien Stellung genommen und schon in dieser unnatürlich langen Zwangspause gerieten die Gegner hart aneinander."

    Der Lärm eskalierte zum Handgemenge auf der zweiten Galerie, sodass die damals bei allen öffentlichen Veranstaltungen in Wien anwesende Polizei einschreiten musste. Nach einer temporären Beruhigung der Gemüter folgten zwei Altenberg-Lieder von Alban Berg.

    Die Unruhe schwoll wieder an. Mitten in Bergs op. 4, dessen Texte auf Ansichtskarten des nur partiell beliebten Wiener Autors und Kneipen-Originals Peter Altenberg fußten, forderte einer der Veranstalter vom Podium herab lautstark Ruhe, ein konservativer junger Arzt und Operettenkomponist vorn im Parkett schimpfte ihn einen "Lausbuben", worauf jener vom Podium sprang und den Zwischenrufer ohrfeigte. Der Zwicker fiel zu Boden. Dies geschah – wie Arthur Schnitzler in seinem Tagebuch notierte –

    "unter athemloser Stille der Anwesenden".

    Die "Watschen" entfachte dann einen derartigen Aufruhr, dass der Abbruch des Konzerts vor dem letzten Programmpunkt geboten schien. In der Zeitung las man damals:

    "Es war kein seltener Anblick, daß irgend ein Herr aus dem Publikum in atemloser Hast und mit affenartiger Behendigkeit über etliche Parkettreihen kletterte, um das Objekt sei-nes Zornes zu ohrfeigen".
    Die um Arnold Schönberg gescharte musikalische "Fortschrittspartei" feierte die Saal-schlacht als Sieg. Dieser "Skandal" verhalf ihr wie nichts anderes zum "Durchbruch" – zu internationaler Anerkennung.

    Bereits 1902 war es in Wien bei der ersten Aufführung des Streichsextetts Verklärte Nacht zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern der musikalischen Moderne gekommen. Sie hatten sich 1908 bei der Uraufführung von Schönbergs Zweitem Streichquartett im Boesendorf-Saal wiederholt. Aber die Ereignisse vom 31. März 1913 führten dazu, dass Schönberg von nun an als Märtyrer der Moderne glorifiziert wurde.

    Von heute aus betrachtet werfen die Konzert-Eklats allerdings die Frage auf, inwieweit sie vorsätzlich herbeigeführt, regelrecht "inszeniert" wurden, um die musikalische Moderne "durchzusetzen". Jedenfalls wuchs die Bedeutung der "Skandale" durch das im Nachgang der Events einsetzende publizistische Trommeln immens. Auch hier gilt die alte Erfahrung: Mythen pflegen den Tatsachen gegebenenfalls zu trotzen.