"Wir sehen vielmehr im ‚Genie' eine therapeutische Erfindung, die uns da vor bewahrt, in einer Welt ohne Jenseits an Gleichheit zu sterben.
Und einige Seiten weiter imitiert sie die pathetische Sprache eines Michel Foucault, der einmal das deleuzianische Zeitalter prophezeite:
Das nächste Jahrhundert wird weiblich sein, zum Besten oder zum Schlimmsten. Das weibliche Genie, wie es uns hier erscheint, lässt hoffen: Es gibt eine Chance, dass es nicht zum Schlimmsten wird.
Erstaunlich genug, dass die weiteren 350 Seiten gar nicht mehr das "weibliche Genie" behandeln. Nur an einer einzigen Stelle lesen wir erstaunt, dass Hannah Arendt den "Geniekult" verachtet, da sich in ihm die Degradierung des Menschen in der Warengesellschaft offenbare. Wenn also nicht das Genie Hannah Arendt ausdrückliches Thema dieses Buches ist worum geht es dann? Und überhaupt müsste die Meßlatte von Kristevas Monographie ziemlich hochgesteckt sein, bedenkt man die Flut der Publikationen, die sich allein im deutschen Sprachraum mit Arendt beschäftigten. Doch Kristeva blendet diese Rezeption völlig aus und beschränkt sich einzig und allein auf französische und amerikanische Veröffentlichungen. Dies mag noch lange nicht tragisch sein. Doch es fragt sich sehr, ob das Bild, das uns Kristeva von der deutschamerikanischen Philosophin vermittelt, wirklich die investierten Mühen lohnt. Denn was die nietzscheanische Grundierung von Arendts Philosophie betrifft, so ist die Einsicht in die Affinität von Denken und Leben, von Denken und Praxis nicht gerade neu. Auch andere Autoren haben diesen Strang deutlich hervorgehoben. Doch zum Glück verlässt die Feministin und Psychoanalytikerin Kristeva hin und wieder diesen Argumentationsrahmen. Dann kommt sie beispielsweise auf einige Episoden zu sprechen, die sie zu längeren Kommentaren reizen müssten. Aber auch hier sieht sich der Leser enttäuscht. Sicherlich war er nicht darauf gefaßt, von der Heidegger und Jaspers Schülerin Klischees aus dem patriarchalistischen Gedankengut des 19. Jahrhunderts zu vernehmen. 1950 schrieb sie nämlich ihrem zweiten Ehemann, dem Psychoanalytiker Heinrich Blücher, folgende herzerfrischend naive Zeilen:
Glaub mir, mein Herz, die Weiber können nur in der Ehe leben.
Julia Kristeva belässt es bei dem Zitat. Eine Demontage des "weiblichen Genies" Hannah Arendt hat sie nicht im Sinn. Dabei hätte Kristeva darauf verweisen können, dass zu dieser Zeit immerhin schon Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht erschienen war. Liest man allerdings zwischen den Zeilen, dann lässt sich vermuten, dass Arendts offenkundiges Desinteresse am Feminismus mit einer Verachtung der Psychoanalyse zusammenhängt. Kristeva berichtet über das Eheverhältnis:
Heinrich Blücher war überaus vielseitig und einfallsreich. (...) Er rühmte sich, eine depressive Hysterikerin ohne irgendeine Interpretation geheilt zu haben: Er hatte einfach das Bett, von dem die Kranke sich angeblich nicht erheben konnte, mit Kerosin übergossen und angezündet. Ebenso wirksam gelang es Blücher, wie es scheint, die berühmten morgendlichen Melancholien von Hannah zu heilen, die einst ihre Mutter in Angst versetzten: Er achtete überhaupt nicht auf sie und schlief skrupellos weiter.
Dieses skrupellose Verhalten führt Kristeva zu der abschließenden Bemerkung:
Wie man weiß, hat Hannah Arendt die Psychoanalyse zeit ihres Lebens verachtet.
Sicherlich hätte der Leser gerne mehr über die Gründe dieser Verachtung erfahren. Doch erst gegen Ende des Buches kommt Kristeva auf die "Arendtsche Abwehr" zu sprechen. Dort liest er, dass der Körper in Arendts politologischem Gedankengebäude gar nicht vorkommt. Man mag darin den platonischen Einschlag im Denken der Philosophin vermuten. Denn sie grenzt deutlich alles Physiologische vom Bereich des öffentlichen Handelns ab. Nicht den biologischen Körper, sondern den bios theoretikós den denkenden und handelnden Menschen , stellt Arendt ins Zentrum ihrer Wissenschaft. Deswegen verurteilt sie Psychologie und Psychoanalyse, die nach ihrer Meinung bei den "immerdar sich verändernden Stimmungen, dem Auf und Nieder unseres Seelenlebens" stehenbleiben. Wen wundert's, dass sie unter diesen Umständen die "Ergebnisse und Entdeckungen der Psychoanalyse" wie sie einräumt "weder [als] besonders anziehend noch an sich besonders bedeutungsvoll" betrachtet. Natürlich erwartet der Leser bei dieser Ausgrenzung das schärfste Veto durch die Psychoanalytikerin Julia Kristeva. Doch es bleibt beim folgenden Kommentar:
Es sei daran erinnert, dass ihre Abneigung, die Singularitäten des Körpers und der Psyche in Betracht zu ziehen, Arendt dazu führt, die sadomasochistischen Anteile der Gewalterfahrung nicht zur Kenntnis zu nehmen, insbesondere im Fall der politischen Gewalt, die ebensowohl den Totalitarismus wie Bewegungen der modernen Linken begleitet.
Bedeutsam sind also nicht allein die lesbaren Inhalte von Arendts politischer Philosophie, sondern auch die weißen Flecken. All das, was ihre historische Analyse ausspart. Arendt hätte von Erich Fromm - einem anderen deutschen Amerika-Exilanten - erfahren können, dass autoritäre Strukturen der Nährboden für den sadistischen Charakter sind. Nämlich für den Willen, absolute und uneingeschränkte Herrschaft über ein lebendes Wesen auszuüben, ihm unbeschränkt Schmerzen zuzufügen. Fromm sah darin die Triebstruktur des Nationalsozialismus. Doch diesen sozialpsychologischen Erklärungsansatz blendete Hannah Arendt völlig aus. Und was waren für sie die Wurzeln des Totalitarismus? In ihrem 1951 in New York erschienenen Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hat sie dieses Thema ausführlich behandelt. Es mag überraschen, dass Julia Kristeva der Autorin zugesteht, mit diesem Kardinalwerk "eine politische Psychologie der totalitären Vermassung" begründet zu haben:
"Arendt entwickelt (...) eine politische Psychologie der totalitären Vermassung und zeigt, wie der psychische Raum der den totalitären Regimes unterworfenen Menschen zerstört wird.
Hannah Arendt weist nach, dass die Tendenzen, die schließlich im 20. Jahrhundert zu den todbringenden Institutionen des Totalitarismus führten, schon lange zuvor erkennbar waren: Durch die wirtschaftliche Krise, die Entleerung der Religion, die kolonialistische Herrenmentalität; und schließlich durch den täglich erfahrbaren Rassenhaß und die Verweigerung sozialer Gleichheit für Minderheiten, speziell für die Juden. Von dieser Krisensituation profitierten die großen Diktatoren des letzten Jahrhunderts. Sie profitierten vom "Verlust der gemeinsamen Welt", von einer so Arendt "unorganisierten, unstrukturierten Masse verzweifelter und haßerfüllter Individuen" (S. 219). Diese orientierungslose Masse fiel ihnen wie eine reife Frucht zu, sie war ein formbares Material ihrer größenwahnsinnigen Phantasmen. So konstruierten die neuen Herrscher eine "fiktive Welt", geprägt von der Unfehlbarkeit des Führers, der "Rassenauslese" und der "Diktatur des Proletariats":
"Den sozialistischen und nationalistischen Ideologien fügt die totalitäre Propaganda die Rhetorik einer ‚unfehlbaren Voraussage' hinzu, die zu diesem Zweck Wissenschaftlichkeit und Prophetie miteinander verbindet (...). Sie fabriziert auf diese Weise eine ideologische Irrealität, die sich allerdings mit allen Trümpfen der logischen Folgerichtigkeit schmückt: (...) [Dabei] wird eine angeblich stimmige Welt konstruiert, die sich als paranoisches Delirium offenbart, das darauf abzielt, die Atomisierung und die sozialen Depressionen zu kompensieren. Die Wissenschaft wird in höchstem Maße zur Herstellung dieser Ideologien herangezogen (...). Ihr Produkt ist eine Stimmigkeit, die ‚durch keine Tatsächlichkeit mehr gestört werden kann'. Kurz, das derart von Arendt ausgelotete Universum ist dem Wahn verwandt.
Natürlich ist dies nicht die Sprache Arendts, der das psychoanalytische Vokabular suspekt ist. Lieber beschreibt sie den Totalitarismus als ein System, in dem die Erfahrung von Selbst und Welt zugrunde geht. Der politische Raum und damit jede Form von Öffentlichkeit, von demokratischer Politik ist zerstört. Was bleibt, ist die unentrinnbare Welt der Einsamkeit, der Entwurzelung, der Vermassung. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft heißt es: Die Menschen werden als soziale und politische Wesen ausgeschaltet. Das Handeln im öffentlichen Raum für Aristoteles die "höchste Möglichkeit des menschlichen Wesens" (S. 120) wird erstickt. Dies geschieht um so leichter als der Mensch auf seine bloße Natur, auf das Material der Herrschaftsausübung reduziert wird. Was bleibt, sind "lebende Leichname", die sich besser ins Gefüge des Systems einordnen lassen.
Hannah Arendt setzt dieser Analyse die Ethik der Aufklärung entgegen: Der Mensch ist niemals bloßes Mittel, er ist Zweck. Auch ist er nicht einfach Naturwesen, denn seine Freiheit gestattet es ihm, das Gegebensein der Welt zu transzendieren. Deswegen sieht Arendt den citoyen in der Tradition des Zarathustra: als "Überwinder", als "wilder guter freier Sturmgeist", beseelt von "großer Hoffnung". Ebenso die Treue zur Erde als Heilmittel gegen politische Phantasmen jeglicher couleur verdankt sie Zarathustra. Doch Julia Kristeva macht deutlich, dass für Arendt nicht nur diese nietzscheanische Filiation gilt. Als Verteidiger des lebendigen Denkens, als unentwegter Aufklärer galt ihr Lessing:
Seine Haltung zur Welt war weder positiv noch negativ, sondern radikal kritisch und, was die Öffentlichkeit anlangte, durchaus revolutionär; aber sie blieb der Welt verpflichtet.
Hannah Arendt untersucht mit dem Instrumentarium der politischen Wissenschaft die Menschheitstragödien des 20. Jahrhunderts. Aber die ethischen Postulate entstammen der Aufklärung und der Lebensphilosophie Nietzsches. Gerade in dieser Tradition möchte Kristeva die deutschamerikanische Philosophin sehen:
"Hannah Arendt ist auf ihre Weise vielleicht die einzige Philosophin des 20. Jahrhunderts, die diese Philosophie des Lebens als spezifisch politische Philosophie verwirklicht hat.
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft avancierte schon kurz nach Erscheinen zum Kultbuch der politischen Theorie. Doch an dem Werk schieden sich die Geister. Den Linken missfiel die problematische Analogie zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus; die Konservativen nahmen Anstoß an der scheinbar neutralen Position gegenüber dem polarisierenden Denken des Kalten Krieges; und die Politologen verurteilten den journalistischen, literarischen und philosophischen Stil der Autorin. Julia Kristeva übersieht diese Mésalliancen, diese Zweckbündnisse, die allesamt gegen die Autorin gerichtet waren. Aber sie vergisst nicht, jenes Buch zu erwähnen, das in der Nachkriegszeit mehr Abwehrreaktionen als jedes andere ausgelöst hat. Das sogar zu dem Versuch führte, die Verfasserin aus der Gemeinschaft der amerikanischen Juden zu "exkommunizieren". Das Buch erschien 1963 mit dem Titel Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen und es dauerte ganze drei Jahre, bis sich die hitzige Aufwallung langsam beruhigte. In ihrer Monographie rekapituliert Kristeva diesen heute kaum noch nachvollziehbaren Tumult: Im Mai 1960 wird Eichmann, der ehemalige Leiter des Judenreferats, in Buenos Aires vom israelischen Geheimdienst gekidnappt und nach Israel verschleppt. Ein Jahr später beginnt sein Prozeß, an dem Hannah Arendt als Reporterin des New Yorker teilnimmt. Die Artikel erscheinen zunächst als Zeitungsserie, später in Buchform. Spätestens jetzt entsteht der Skandal, der mehr und mehr eskaliert. Die Deutschen nahmen Arendt ihre abfälligen Bemerkungen über die Judenräte übel, die nach ihrer Ansicht mit dem Nazi-Regime paktierten. Die israelischen Kritiker empörten sich über ihren Stil und ihre vermeintliche "Herzlosigkeit". Doch nirgends waren die Gemüter erhitzter als in Amerika. Ein ganzer Trupp von Experten, die teilweise aus Israel eingeflogen wurden, reisten durchs Land und verunglimpfte Hannah Arendt als eine "von Selbsthass erfüllte Jüdin". Es half nichts, dass sie erklärte, einzig als Gesellschaftskritikerin, Exilierte, Zeugin und Überlebende "finsterer Zeiten" habe sie an dem Prozeß teilgenommen:
Ich möchte den moralischen Zusammenbruch, den die Nazis in den europäischen Gesellschaften auslösten, in seinem ganzen Ausmaß erkunden.
Und was entdeckte Hannah Arendt während des Eichmann-Prozesses? Einen blutrünstigen Schlächter? Einen machtgierigen Antisemiten? Keineswegs. Ihrem Ehemann Heinrich Blücher schrieb sie, er sei "nicht einmal unheimlich". Außerdem hätte er Schnupfen. Dieser "Hanswurst" nieste ständig in seinem Glaskasten. Es mag den Anschein haben, als verfiel Arendt einem "physiognomischen Trugschluss". In einem Fernseh-Interview mit Günter Gaus gestand sie aber:
"Ich habe sein Polizeiverhör, 3.600 Seiten, gelesen und sehr genau gelesen. Und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; aber laut! (...) Ich würde wahrscheinlich noch drei Minuten vor dem sicheren Tod lachen.
Ihre Schilderungen in Eichmann in Jerusalem treffen sich durchaus mit Erich Fromms Analysen über den kalten, bürokratischen Charakter. Fromm, der sich ebenfalls mit dem Prozess beschäftigte, sah in Eichmann einen Menschen, getrieben von übermäßigem Ordnungssinn und gepeinigt von den unkalkulierbaren Ereignissen des Lebens. In den Worten Hannah Arendts liest sich dies als völliges Unvermögen, an einer lebendigen Kommunikation teilzunehmen:
"Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, dass diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Das heißt, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.
Arendts Reportage über den Eichmann-Prozess war nicht ihre einzige Einmischung in die Angelegenheiten des jungen israelischen Staates. Julia Kristeva erläutert ausführlich, wie sehr sie vor der Gründung Israels mit ihrem Jude-Sein, mit der jüdischen Politik und vor allem mit dem Zionismus gerungen hat: Weder ging es ihr darum, mit dem Kult eines Volkes zu verschmelzen noch in irgendeiner Identität zu erstarren. Deswegen schrieb sie erbost an Gershom Scholem:
"Ich finde es störend, dass sie schreiben: ‚Ich betrachte sie als eine Tochter unseres Volkes, ganz und gar, und nichts anderes.' Die Wahrheit ist, dass ich nie behauptet habe, etwas anderes, noch eine andere, als ich bin, zu sein, ich habe nicht einmal die Versuchung dazu empfunden.
Kristeva erinnert an Hannah Arendts Argumente gegen einen jüdischen Staat in Palästina. Liest man heute diese Artikel, die mittlerweile schon über 50 Jahre alt sind, wird klar, wie triftig und brisant sie geblieben sind. So konstatierte Arendt eine wachsende Belagerungsmentalität bei den palästinensischen Juden: ‚Wir gegen die feindliche Welt'. Sie fürchtete die Konsequenzen eines rassistischen jüdischen Chauvinismus. Diese Entwicklungen waren für sie nicht durch die deutschjüdische Katastrophe gerechtfertigt. Nur durch die Emanzipation von der Vergangenheit könnten Juden lernen, als ein Volk unter anderen zu leben, und damit eine Zukunft haben. Mit diesen Thesen war natürlich der Konflikt mit den Zionisten, vor allem mit Gershom Scholem vorgeprägt. Julia Kristeva ist klar, dass die jüdische Philosophin zwischen den Mühlsteinen der großen Politik zusehends zerrieben wurde. Aber Kristeva gefällt das trotzige "I don't fit", das sie dem Zionisten Scholem entgegenhält:
"I don't fit", "Ich bin unabhängig (...), ich gehöre keinerlei Organisation an und (...) ich spreche immer nur in meinem eigenen Namen (...). Ich habe großes Vertrauen zu dem, was Lessing Selbstdenken nennt, das meiner Ansicht nach niemals ersetzt werden kann, weder durch Ideologie noch durch öffentliche Meinung noch durch ‚Überzeugung'.