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Das Weiss im Auge des Feindes. Vier Liebesgeschichten

Was würden Sie tun, wenn Sie, mit dem Auto samt Kindern und Ehepartner unterwegs, am Straßenrand zwischen Apfelbäumen eine junge Anhalterin auftauchen sähen, den Rock über den Kopf gezogen, einen rosa Schlüpfer am Po, keine Schuhe an den Füßen? Anhalten und ins Auto einladen oder schnurstracks weiterfahren?

Hajo Steinert |
    Die meisten von uns würden wohl, Regen hin, Regen her, eher weiterfahren. In der Literatur freilich muß eine solche Erscheinung unbedingt hinein ins Gefährt - und sei darin noch so wenig Platz. Und wenn ein solche unerhörte Begebenheit am Anfang einer Erzählung von Keto von Waberer steht, dürfen wir Leser getrost davon ausgehen, daß in der Aufnahme jenes Geschöpfs am Straßenrand weniger ein Akt christlicher Nächstenliebe zum Ausdruck gebracht wird als vielmehr der Autorin Erzähllust, die dahin fahrenden Figuren der Geschichte fürderhin in eine rätselhafte Verstrickung zu schicken. Wer schon die früheren Erzählbände einer Autorin mit außerordentlichem Gespür für verblüffende Ausgangssituationen gelesen hat, weiß, daß die Verstrickungen, auf die sich Keto von Waberer am besten versteht, von erotischer Natur sind. Mit anderen Worten: Bei dem rosa Höschen wird es nicht bleiben.

    Die Anhalterin heißt Pola, ist eine obdachlose Schauspielerin und darf mit ins Hotel. Es ist Urlaub, Polas schwarzen Badeanzug anzuglotzen ist für die Ich-Erzählerin im Zahnspangenalter aufregender als in den Ausschnitt der älteren Schwester zu starren, wo sich - Keto von Waberer liebt den plastischen Vergleich - die Brustwarzen "wie zwei kleine Raketenspitzen" ausnehmen. Wenn endlich Pola der auf dem Handtuch liegenden Erzählerin den Rücken mit Sonnenöl einreibt, ahnt das Mädchen: das Leben wird schön. "Magic Moments" wird passenderweise am Abend im Radio gespielt. Magisch sind alle vier Liebesgeschichten in Keto von Waberers neuem Buch, magisch, rätselhaft, unspektakulär (trotz durchaus dramatischer Ereignisse) und auch ein bißchen sentimental. Finden sie doch ihren Stoff immer wieder in Erinnerungen an eine Zeit, da es nur Mädchen und keine 'Girlies' gab.

    Doch bleiben wir zunächst noch ein bißchen bei Pola, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreut, bis, ja, bis eines Tages ein Tanzfest stattfindet. Pola tanzt abwechselnd mit einem schneidigen Burschen namens Max, mit dem Vater der Ich-Erzählerin, und Max tanzt mir Lilli, der Schwester der Ich-Erzählerin, die staunend an den Ritualen des Partnertauschs der Erwachsenen teilnimmt, eine 'education sentimentale' Für sie ist das alles eine geheimnisvolles Spiel, ein undurchsichtiger Reigen, bis am Ende eine Leiche im Wasser schwimmt, romantisch dekoriert, ironisch versteht sich; Keto von Waberer treibt ein hintersinniges Spiel mit den altbewährten Motiven der Literaturgeschichte, gleichzeitig verneigt sie sich vor ihnen ehrerbietend.

    Ihre Texte sind raffinierte Gratwanderungen, alles Heimelige ist unheimlich, das Unheimliche gehört zum Alltag, und sei er noch so sonnig wie am schönsten Urlaubstag. Der Abgrund liegt bei jedem Schritt, den wir vorwärts tun, vor uns - das Abgründige gehört zum Alltag wie der Tod zum Leben. "Frau aus Lehm" ist der atmosphärisch betörendste Text des Bandes. Das Erzählen aus der Mädchenperspektive ohne jeden Anflug von Görenverherrlichung ist ihre Stärke.

    Was Keto von Waberer besonders auszeichnet ist ihr Blick fürs Detail. Die Absurditäten des Alltags liegen eher in den unscheinbaren, unbewußten Gesten als in den bewußten Strategien zur Bewältigung des erotischen Alltags. Erotik kann man sich nicht vornehmen, Erotik geschieht, das schreibt uns die Autorin ins Poesiealbum der Liebe. Abwarten, nicht drängen, kein schlechter Ratschlag im Zeitalter der schnell geöffneten Reißverschlüsse. Psychologisch subtil leuchtet sie den lächerlichen Alltag zwischen Liebenden, Ehepartnern, Mann und Frau aus, ohne sich als Analytikerin aufzuspielen. Aber jede Lächerlichkeit hat auch ihrer eigene Würde. Wie unverschämt über jedem ihrer Texte auch die Augen zwinkern, Keto von Waberer lacht niemanden aus. Gewinner gibt es bei ihr nie, alle sind Verlierer, verloren gibt sie allerdings keinen. Man sagt ihr gelegentlich einen bösen Blick vor allem auf die am Liebesspiel beteiligten Männer nach. Auf einzelne Texte in ihrem 1988er Erzählband "Der Schattenfreund" (immer noch ihr bester, ihr lustigster!) mag das zutreffen. Ziemlich täppisch läßt sie da die Männer an den begehrten Frauenkörpern herumwerken. Sofahelden, jeder einzelne Kerl, zappelnde Schreckgespenster.

    Doch im neuen Buch geht das Spiel der Geschlechter anders aus. Da ist es eher das Weib, das sich blamiert. Lydia zum Beispiel. Sie hat sich in der Titelerzählung "Das Weiss im Auge des Feindes" ausgerechnet ihren Chef, den reichlich zugeknöpften Dr. Zilch, in den Kopf gesetzt, will ihn verführen, eine harte Nuss. Unter ganz anderen Vorzeichen steht die 'amour fou' in "Der schwarze Reiter". Da gerät ein junger Mann in die leidenschaftlichen Fänge einer älteren Frau, deren Lebensgefährte auf geheimnisvolle Weise mir nichts dir nichts verschwunden ist. Hie wie dort gilt: Keto von Waberer denunziert keine ihrer durchweg, erst recht in ihren Schwächen, liebenswerten Figuren. Von daher mutet es etwas martialisch an, wenn der Verlag in seinem Klappentext mit einem "Schlachtfeld" der Liebe droht, auf dem es zu "Explosionen" komme, die Liebe sei eine "ebenso ekstatische wie zerstörerische Macht".

    Nein, es sind die leisen Töne, die Keto von Waberers Texte so bedrohlich für jedes wankelmütige Lesergemüt, sei es weiblich oder männlich, erscheinen lassen. In ihrer Erzählung "Der Pfeil der Diana" (zu finden in "Der Schattenfreund") sagt die Ich-Erzählerin: "Ich suche in allen Büchern nach Liebesgeschichten und dem Versprechen künftiger geheimnisvoller Begebenheiten." Hoffentlich wird Keto von Waberer bald wieder fündig. Ihre Liebesgeschichten machen süchtig nach mehr.