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Das Wiedererstarken der Taliban in Afghanistan

Eine Taliban-Propaganda-Video-CD - verteilt in den Basaren Afghanistans. Besungen wird der Kampf der Gotteskrieger gegen die Ungläubigen, gegen die Besatzer. Zu sehen sind verwackelte Bilder, die von den vermeintlichen Heldentaten der Taliban künden sollen: von Bombenanschlägen auf afghanische und ausländische Militärs. Kurz bevor die Taliban-Kämpfer den Sprengsatz per Fernauslöser zünden, feuern sie sich an mit dem Ruf "Allahu Akbar - Gott ist groß!".

Von Christoph Heinzle |
    Die Explosion zerreißt das Militärfahrzeug. Freude auf Seiten der Täter. "Alhamdulillah" hört man die Taliban rufen, "Gelobt sei Allah!". Die Taliban-Videos sind Beleg gewachsener Stärke der radikalislamischen Kämpfer. Seit vergangenem Jahr wuchs ihre Präsenz massiv. Immer höher wurde die Zahl der Opfer. Zunächst durch Bombenanschläge, Selbstmordattentate und vereinzelte Angriffe auf Militär, Polizei, Entwicklungshelfer und Regierungsmitarbeiter. In den vergangenen Monaten kam es immer häufiger zu blutigen Gefechten mit oftmals Hunderten von Taliban-Kämpfern gegen afghanische und internationale Sicherheitskräfte.

    In einer pompösen Villa im Südwesten Kabuls lebt Mullah Abdul Salam Saif. 2001 war er weltbekannt. Damals war Saif als afghanischer Botschafter in Pakistan Gesicht und Stimme des Taliban-Regimes. Nach dem Sturz der Taliban stürzte auch ihr Botschafter. Saif wurde in Pakistan verhaftet, an die USA ausgeliefert. Drei Jahre und zehn Monate war er in US-Gefangenschaft, die meiste Zeit in Guantánamo. Seit Ende vergangenen Jahres lebt der Ex-Diplomat in Kabul. Als neutraler Privatmann, wie er sagt. Angesichts der neuen Gewalt in Afghanistan mache er sich große Sorgen, so Abdul Salam Saif. Der frühere Taliban-Funktionär wirbt für einen Dialog.

    " Die Taliban kommen aus Afghanistan. Sie wollen es nicht zerstören, keine Afghanen umbringen. Die Mehrheit der Taliban will das nicht. Sie wollen in Afghanistan bleiben und der Bevölkerung helfen. Doch sie haben Angst, verhaftet zu werden. Nur Verständnis und Verhandlungen werden zu einer Lösung führen, nicht Krieg. Die Anwendung von Gewalt verschlimmert die Lage nur und wird zur weiteren Destabilisierung Afghanistans führen. "

    Erstmals seit 2001 sprechen afghanische Beobachter, westliche Entwicklungshelfer und Diplomaten in Kabul von der Gefahr, die Stabilisierung in Afghanistan könnte scheitern. Doch Außenminister Rangin Dadfar Spanta hält Pessimismus für unbegründet.

    " Wir haben ernsthafte Probleme, das stimmt. Aber das Projekt Afghanistan sozusagen statebuilding und Wiederaufbau in Afghanistan in absoluter Gefahr oder scheitern zu sehen, das ist übertrieben. "

    Große Einigkeit herrscht aber bei allen Beteiligten des Projekts Afghanistan darüber, dass man die Taliban unterschätzt hat nach ihrem Sturz im November 2001. So sagt der UN-Afghanistan-Beauftragte, der Deutsche Tom Koenigs:

    " Sicher war die Analyse des Sieges über die Taliban verfrüht."

    Erinnerungen an die 90er Jahre werden wach. Aus bescheidenen Anfängen entwickelten sich die so genannten Gotteskrieger zu einer veritablen Streitmacht mit breiter Unterstützung der Bevölkerung Südafghanistans. Nach Abzug der Roten Armee aus Afghanistan und nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Kabul tobt ein blutiger Bürgerkrieg. Die einzelnen Gruppen der siegreichen Mudschaheddin bekämpfen sich gegenseitig. Zehntausende Menschen sterben. Weite Teile Kabuls werden in Trümmer geschossen. Das wird der Nährboden für eine neue Bewegung, erinnert sich Ahmed Rashid. Der pakistanische Journalist und Autor des Standardwerks über die Taliban beobachtet und analysiert die radikalislamische Gruppe von Beginn an.

    " Als die Taliban 1994 entstanden, herrschte Chaos in Afghanistan. In jeder Provinz kämpften mehrere Warlords um die Macht. Zivilisten wurden Opfer. Die Taliban kamen mit Versprechen, die Warlords zu entwaffnen. Und sie waren zumindest im paschtunischen Süden extrem populär. Sie waren sehr konservativ, sehr seltsam, sie wollten etwa kein Fernsehen. Aber sie waren keine globalen Terroristen wie Al Kaida. Sie machten sich Sorgen um Afghanistan, und sie waren ohne Zweifel sehr populär."

    Der Rechtlosigkeit und Gewalt der Mudschaheddin setzen die Taliban das Versprechen von Frieden und Ordnung entgegen. Rasch dehnen sie ihren Einflussbereich aus. Im November 1994 kontrollieren sie Kandahar, die wichtigste Stadt im Süden. Im Kernland der Paschtunen. Auch die meisten Taliban stammen aus dieser Volksgruppe, der größten im Vielvölkerstaat Afghanistan. 1996 rücken sie nach Osten vor und nehmen schließlich am 27. September Kabul ein. Zwei Jahre später beherrschen sie 90 Prozent des Landes.

    Dass die Taliban mit ihren Gegnern nicht zimperlich umgehen, wird rasch deutlich. Am Tag der Machtübernahme in Kabul lynchen sie den kommunistischen Ex-Präsidenten Nadschibullah, hängen ihn demonstrativ an einen Laternenmast mitten in der Hauptstadt. Stück für Stück setzen die neuen Herrscher ihre autoritäre Vorstellung von Recht und Ordnung durch, basierend auf einer sehr radikalen und konservativen Interpretation der Scharia, des islamischen Rechtssystems. Die Taliban lassen Mörder öffentlich hinrichten, Ehebrecher auspeitschen oder steinigen, Dieben die Hand abhacken. Männer müssen ihren Kopf bedecken und lange Bärte tragen. Mädchen werden aus den Schulen verbannt, die meisten Frauen dürfen nicht mehr arbeiten. Sie können sich nur im Ganzkörperschleier, der Burka, zeigen - wenn sie überhaupt das Haus verlassen dürfen.
    " Unser Leben hat sich völlig verändert. Wir haben unsere Freiheit verloren. Die Taliban haben angeordnet, dass wir zu Hause bleiben müssen. Sie denken, wir seien Vögel, die man einfach in einen Käfig sperren kann. Eine Gesellschaft braucht Frieden, aber auch Freiheit. Vor allem für Frauen ist das wichtig. Auch ich will meine Freiheit haben."

    Vier Millionen Afghanen flohen während des Bürgerkrieges in die Nachbarstaaten Iran und vor allem Pakistan. Die gigantischen Flüchtlingslager und nahe gelegene Madrassas, Koranschulen, wurden zu den Brutstätten der Taliban-Bewegung. In Pakistan fanden die radikalislamischen Militanten nicht nur paschtunische Stammesbrüder, sondern auch ideologisch Gleichgesinnte.

    " Die Unterstützung durch Pakistan war für den Erfolg der Taliban entscheidend. Es kamen Waffen, Munition, Nahrung, Geld, Organisation. Auf einer zweiten Ebene kam Unterstützung aus der pakistanischen Gesellschaft: von Tausenden junger Pakistaner aus den Koranschulen, die für die Taliban kämpften, von den religiösen Parteien und den extremistischen Gruppen etwa in Kaschmir."

    Auch das offizielle Pakistan steht auf Seiten der Taliban. Geheimdienst, Armee und Regierung unterstützen den Aufstieg der Militanten. Und jetzt ist Pakistan wieder Nachschubbasis und Trainingsgelände für die Taliban.

    Während die Angriffe der Taliban seit vergangenem Jahr immer weiter zunahmen, wurden deshalb auch die Rufe immer lauter, mehr Druck auf Pakistan zu machen, um die Nachschubwege der Gotteskrieger abzuschneiden. Vor allem die afghanische Regierung attackiert Islamabad ausdauernd. Wenngleich Spitzenpolitiker wie Außenminister Spanta Pakistan nicht immer ausdrücklich nennen, wenn sie zu Kritik ausholen.

    " Ohne die Quellen des Terrors zu bekämpfen, nämlich Trainingslager des Terrors, Finanzquellen des Terrors und auch ideologische Zentren des Terrors, ohne Bekämpfung und Liquidierung dieser Quellen werden wir keinen Erfolg haben. Bekanntlich sind diese Quellen außerhalb Afghanistans. "

    Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA läuteten das Ende des Taliban-Regimes in Kabul ein. Rasch fällt der Verdacht der amerikanischen Ermittler auf Al Kaida und ihren Anführer Bin Laden. Rasch bezieht die Taliban-Führung in dieser Auseinandersetzung Position und stellt sich schützend vor Osama Bin Laden, der in Afghanistan als Gast der Regierung lebt. So wird Afghanistan im Oktober zum ersten Schauplatz des von der US-Regierung ausgerufenen internationalen Krieges gegen den Terror. Unterstützt durch Luftschläge von Amerikanern und Briten marschiert die oppositionelle Nordallianz gen Kabul. Die Taliban können sich noch wenige Wochen halten. Dann stürzt ihr Regime.

    Am Morgen des 13. November 2001 übernimmt die Nordallianz die Macht in Kabul. Begleitet von BBC-Reporter John Simpson.

    Es gebe keinen Widerstand, berichtet Simpson, aber immer wieder Rufe "Tötet die Taliban". Das Regime der Gotteskrieger war bereits vor seinem Sturz an einem Tiefpunkt angelangt. 2001 befanden sich die Taliban ernsthaft in Schwierigkeiten: Viele Warlords, mächtige Gegner der Taliban, waren zurück in Afghanistan und schmiedeten neue Bündnisse. Und die Unterstützung in der Bevölkerung war auf Null gesunken, erinnert sich Buchautor Ahmed Rashid.

    " Bis zum 11. September waren die Taliban extrem unpopulär geworden, selbst in ihren paschtunischen Hochburgen. Sie gaben den Menschen keine Jobs, keine Lösungen für wirtschaftliche Probleme. Bei ihrer Machtübernahme hatten die Taliban Frieden und Entwaffnung versprochen. Doch sie setzten den Bürgerkrieg fort. Sie wurden sehr korrupt. Die Taliban-Justiz galt als roh und grausam. Und schließlich lehnten die Menschen das Bündnis der Taliban mit Al Kaida ab."

    Ende 2001 beginnt eine neue Epoche für Afghanistan. Mit feierlich vorgetragenen Koranversen wird am 22. Dezember Hamid Karsai ins Amt eingeführt. 2000 Festgäste wohnen der Vereidigung des ersten Regierungschefs nach dem Fall der Taliban bei.

    Die internationale Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn hatte sich kurz zuvor auf Karsai als Bannerträger des Neubeginns geeinigt. Der 44-Jährige weltoffene Paschtune gehörte keiner der Bürgerkriegsmilizen an, galt als neutral und eloquent.

    Der lang anhaltende Beifall bei der Vereidigung machte deutlich: Hamid Karsai war der Hoffnungsträger, auf den vor allem die Weltgemeinschaft in dieser schwierigen Übergangszeit setzte.

    Die Euphorie der ersten Monate nach dem Sturz des Taliban-Regimes wich spätestens im vergangenen Jahr zunehmender Ernüchterung. Teile Afghanistans blieben instabil. Die Wiederaufbau-Bemühungen erreichten viele Afghanen nicht.

    Unmittelbar nach dem Sturz der Taliban-Regierung war Mohammed Sarwar aus Pakistan in seine afghanische Heimat zurückgekehrt. Der heute 64-Jährige und seine Familie fanden Unterschlupf in einer der Häuserruinen im weitgehend zerstörten Südwesten Kabuls.

    " Wir hatten gehört, dass wieder Frieden herrscht in Afghanistan. Und die Regierung rief die Flüchtlinge zur Rückkehr auf."

    Doch fünf Jahre später lebt Mohammed Sarwar mit seinen zehn Kindern und seiner Frau Qaisi immer noch in Trümmern.

    " Karsai hat die Versprechen nicht erfüllt, die er der Bevölkerung gegeben hat. Er regiert nur für die Reichen. Nur wer Geld hat, bekommt Arbeit und ein gutes Leben. Karsai kümmert sich nicht um die Armen."

    Die afghanische Regierung räumt ein, dass der Wiederaufbau langsamer vorangeht als erhofft und erwartet. Außenminister Rangin Dadfar Spanta sieht Defizite und Korrekturbedarf.

    " Wir haben einiges vernachlässigt gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft: die Verstärkung der Sicherheitskräfte, insbesondere im Süden und Südosten Afghanistans, Wiederaufbau und Entwicklungspolitik überall in Afghanistan, und das Sichtbarmachen von Errungenschaften, was wir gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft erreicht haben. "

    Mit der Unzufriedenheit über Wiederaufbau und Anti-Terror-Kampf vor allem im Süden Afghanistans wächst die Unterstützung für die Taliban. Im Süden ist die Bewegung entstanden. Dort finden radikale Islam-Interpretationen und traditionelle Moralvorstellungen Zuspruch. Dort verfangen die Parolen vom heiligen Kampf gegen die Ungläubigen am ehesten. Dennoch, meint Publizist Rashid, seien die Taliban weit entfernt von der Popularität, mit der sie einst an die Macht kamen.

    " Die Lage im Süden ist ganz anders als 1994. Die Taliban sind nicht populär. Sie stützen sich auf ein gewisses Maß an Terror und Angst. 1994 waren die Taliban siegreich, weil sie ein einfaches, massenattraktives Programm hatten. Heute sind sie erfolgreich, weil die andere Seite keinen Plan hat und nicht in der Lage ist, die Bevölkerung zu versorgen."

    In der Analyse stimmen Experten, Politiker und Diplomaten mittlerweile überein. Sie alle sehen die Entwicklung im Süden als Schlüssel für die Stabilisierung ganz Afghanistans.

    Die neue Strategie für Afghanistan begann in diesem Sommer mit einer Militäroffensive. Am 31. Juli übernahm die ISAF den Süden von der US-geführten Anti-Terror-Koalition. Die Schutztruppe unter Nato-Kommando will Sicherheit und Entwicklung verknüpfen.

    Verlustreiche Kampfeinsätze vor allem britischer und kanadischer ISAF-Truppen zusammen mit afghanischen Sicherheitskräften sollen Stabilität erzwingen. Damit in befreiten, gesicherten Zonen der Wiederaufbau rasch beginnen kann. Ohne Kampf geht es nicht, aber Kampf allein reicht nicht, so das neue Konzept von internationaler Gemeinschaft und afghanischer Regierung. Man müsse den Süden umfassend stabilisieren, sagt Tom Koenigs, der Afghanistan-Beauftragte der Vereinten Nationen.

    " Dass dort ein politisches Problem dahinter steht, und dass man militärisch dieses Aufstandes nicht Herr wird, das ist eine neue Erkenntnis, und das ist auch eine sehr wichtige Erkenntnis."

    Mehr Entwicklung und mehr Einfluss des Staates wünscht sich der afghanische Außenminister Rangin Dadfar Spanta für den Süden, neben den unvermeidlichen Militäraktionen.

    " Gleichzeitig müssen wir uns auf diese Region konzentrieren, Entwicklungspolitik zu machen. Trinkwasser, Schulen, Kliniken zu bauen. Und auch die Präsenz des Staates Afghanistan dort verstärken. Schauen Sie, wie können wir einen Bezirk mit 40.000 Einwohnern mit 41 sehr schlecht bewaffneten Polizisten dort verteidigen? "

    Parallel dazu gibt es stärkere Bemühungen, gegen die Unterstützer der Taliban in Pakistan vorzugehen.

    So versucht man, die Taliban anzugreifen und einzukreisen, ihnen den Nachschub abzuschneiden. Doch wird das allein reichen? Wird man damit dem Phänomen Taliban endgültig beikommen? Oder kann es eine politische Lösung am Ende nur mit den Taliban geben statt gegen sie? So wie es etwa der frühere Taliban-Botschafter Abdul Salam Saif vorschlägt

    " Man wird die Taliban nie besiegen können. Irgendwann sollte man eingestehen, dass Krieg und Stärke nicht zu einer Lösung führen. Gibt es keine Gespräche mit den Taliban, dann werden sie mit Hilfe innerhalb und außerhalb Afghanistans ihren Kampf noch sehr lange fortsetzen."

    In diesem Sommer beschloss das afghanische Kabinett die Wiederbelebung der unter den Taliban berüchtigten Religionspolizei. Manchen Beobachtern gilt das als weiterer Hinweis darauf, dass Präsident Karsai bereit ist, fünf Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes auf die Fundamentalisten in Afghanistan zuzugehen. Viele warnen vor einer zunehmenden Islamisierung des Landes. Hamid Karsai scheint eine Lösung mit den Taliban nicht auszuschließen. Das machte er bereits vor zwei Jahren deutlich und setzte eine Kommission zur Versöhnung mit den Taliban ein.

    " Die kriminellen Taliban, die dem afghanischen Volk Grausames angetan haben und immer noch Verbrechen begehen, die sind nicht willkommen. Aber das sind nicht mehr als hundert. Die übrigen Taliban, Tausende und Abertausende, sind Söhne dieses Bodens und haben die gleichen Rechte wie jeder Afghane."

    Häufig schon gelang es dem afghanischen Präsidenten in den vergangenen Jahren, die offene Konfrontation mit Gegnern zu vermeiden. Wen man nicht besiegen kann, so Karsais Taktik, den bindet man eben ein.

    Mit welcher Strategie man den erstarkten Taliban auch begegnet: Die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft sind zum Erfolg verdammt. Die Taliban sind stark, aber nicht stark genug, um wieder die Macht in Kabul übernehmen zu können. Doch ihr Aufstand gefährdet Wiederaufbau und Stabilisierung massiv. Afghanistan steht - wieder einmal - vor einer entscheidenden Phase.