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"Das Wiedervereinigungsgeschrei wird wieder anfangen"

10.November 1989: Der Schrifsteller Günter Grass im DLF.

    Günter Grass: Die Mauer öffnet sich, sie wird von einem Tag zum anderen überflüssig, ist nur noch ein absurdes Denkmal falsch geleiteter Politik. Und gleichzeitig wird – und das befürchte ich – in der Bundesrepublik bei vorherrschender Fantasielosigkeit, wie denn nun die deutsche Frage zu beantworten sei, wieder das Wiedervereinigungsgeschrei anfangen. Und ich wünschte mir, dass all die, die das Wort Wiedervereinigung so schnell auf den Lippen haben, doch einmal hinhören sollten, was dort in der DDR geschieht, im Land drinnen, und nicht wieder mit der Bevormundung beginnen. Ich glaube, wir müssten jenseits des bisherigen Status-quo-Denkens – zwei Staaten wie Ausland gegeneinandergesetzt auf der einen Seite und der Wiedervereinigungsthese auf der anderen Seite –, dass es da eine dritte deutsche und auch europäische Lösung gibt: Ich könnte mir diese beiden Staaten in ihrer doch unterschiedlichen Gesellschaftsstruktur vorstellen als zwei konföderierte Staaten, die auf bestimmten Gebieten eng zusammenarbeiten. Die Kultur ist uns ohnehin erhalten geblieben, trotz der Teilung hat sie ihre starken Wurzeln gezeigt und hat sich nicht so manipulieren lassen, wie man es in der DDR wollte und wie man es vielleicht auch hier in der Bundesrepublik wollte.


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    50 Jahre Deutschlandfunk