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Das Willy-Gefühl

Als ich begann, mich für Politik zu interessieren, interessierte mich Politik überhaupt nicht. Ich wurde interessiert. Auf dem Schulhof in der großen Pause. "Der Willy kommt nach Siegen!" Es war in den frühen 70ern.

Von Hans-Jürgen Bartsch |
    Überall gab es kleine Sticker, rot oder orange. "Willy wählen" stand da drauf oder so ähnlich. Ich glaube, es war der Juschtl, der sie verteilte - und immer mehr von uns steckten sie sich an.

    Die Sicherheitsnadel durch den Pullover gestochen, manchmal zu weit - hat gepikt. Willy gehörte zur SPD, die SPD gehörte Willy. Was das nun wieder hieß, lernte ich und lernten wir nicht im Unterricht, sondern auf eben jenem Schulhof im südlichen Siegerland.

    Durch die Klasse ging schon bald ein tiefer Riss. Die einen, das waren die Juschtls, die sich zu Willy und der SPD bekannten. Ob wir richtig darüber nachgedacht hatten, warum, weiß ich gar nicht so recht. Jedenfalls muss er der Größte gewesen sein, weil Kanzler. Und er war im Osten, hatte in Warschau auf den Knien gelegen und einen großen Preis bekommen. Ach ja, und seine SPD sei für die Arbeiter da! Ob das stimmt, wusste ich auch nicht. Ich hörte es nur.

    Und die anderen, das waren die Emus. Die waren die Fans der CDU. CDU-Fans haben Eltern mit Mercedes. Auch das hörte ich nur! Da mir selbst damals ein Mercedes so fern schien, wie Sprechen im Radio, wollte ich nicht zu den Emus und blieb notgedrungen SPD. Andere Parteien kannte ich nicht.

    Übrigens war ich immer dafür, eine Klassenband zu gründen. Doch da ist nie was draus geworden. Wie auch? Da sich die Juschtls und Emus - die nur so hießen, weil Jugendliche sich immer so blöde Namen geben - fortan nicht mehr richtig vertrugen.

    Ich werde den Moment nie vergessen: zum ersten Mal in der Siegerlandhalle! Habe einen Platz direkt am Mittelgang, als Willy mit Gefolge einmarschiert: kaiserlicher Schritt, göttliche Statur. Genau, wie wir uns das auf dem Schulhof schon so ausgemalt hatten, nur Zentimeter neben mir, Sekunden. Der Magen flau, der Kreislauf runter, Schauer über den Rücken! Hände feucht, das Klatschen tut nicht weh!

    "Ich habe neben Willy gestanden!", muss ich wenige Stunden später meinen Eltern erzählt haben. Ich glaube nicht, dass sie sich darüber freuten, obwohl wir keinen Mercedes in der Garage hatten.

    Jahrzehnte später, längst das Sprechen im Radio gewöhnt, habe ich diese Medaille aus Moskau mitgebracht. Die bekam jeder auf dem Dreiergipfel. War mit Kohl und Chirac bei Jelzin.

    Und mit Schröder durfte ich mal ganz allein ein Bier am Tresen trinken. Ein Schauer ist mir dabei nicht über den Rücken gelaufen und geklatscht habe ich auch nicht mehr.