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"Das Wintermärchen"

Am Berliner Ensemble, zwischen Friedrichstraße und Reichstag, fand unterdessen einmal mehr das Gesamtkunstwerk Robert Wilson statt. Vor neun Jahren wurde seine monologische Hamlet-Version in Berlin begeistert gefeiert. Nun kehrt er mit einem anderen Shakespeare-Stück zurück - mit dem "Wintermärchen". Shakespeare bei Wilson - das bedeutet Theater und Film und Musik und Tanz.

Von Eberhard Spreng | 25.09.2005
    Shakespeares Totenmaske
    Shakespeares Totenmaske (AP)
    Zwei kapriziöse Gestalten stolzieren über die Bühne; die Arme, Hände und die Finger sind abgespreizt, die Bewegungen sind einförmig wie bei mechanischem Spielzeug und dazu ertönt, etwas verfremdet, höfische Renaissancemusik. Um das Paar herum drapiert ist ein höfisches Tableau des erstarrten Lächelns und der gefrorenen Posen inmitten von sechs gläsernen Säulen. Diese Welt ist im Lot, wenn die Gefühle unter Kontrolle sind. Nur einer schert aus, ein Mann in roter Lederbekleidung und rotem Brustpanzer. Es ist Leontes, der König von Sizilien, und er beschuldigt seinen besten Freund und seine Frau, ihn zu hintergehen.

    Mit wohlig-gruseligen Posen aalt sich Stefan Kurt in seinem eifersüchtigen Wahn, verleugnet die eigene neugeborene Tochter, verstößt treue Hofdiener, treibt mit seinen irren Beschuldigungen seine Frau in die Verzweiflung, in den Tod wie ihm die von Angela Winkler gespielte Pauline glauben machen wird. Wären wir in Shakespeares Othello, dann wäre jetzt schon der Blutrausch der Tragödie in vollem Gange, wären wir im Lear, so müsste jetzt Psychoanalyse und Verfall eines egomanischen Verrückten vorgeführt werden. Aber wir sind im Wintermärchen, in dem es für die Wendung zum Guten einen mächtigen Zauber gibt, die gütige Unwahrscheinlichkeit eines zweiten Anfangs. Wir stehen also nur mit einem Fuß in der Wirklichkeit und mit dem anderen im Märchen.

    Wie immer bewegen sich die Schauspieler in den gewohnten kapriziösen Posen des Wilsontheaters, Schattenrissen vergleichbar, spreizen sich zu skurrilen Theaterskulpturen. Bis das Stück im wilden Böhmen angekommen ist, wo man die verstoßene leibliche Tochter des Königs aussetzt. Diese Pastorale, diese 16-jährige Kindheit der Leontes-Tochter Perdita ist eine Handlung, während der die Inszenierung ihre Darsteller aus dem formalen Korsett der Bewegungskodes in plumperes Spiel entlässt. Hier erleben wir Walter Schmidinger als hold-greisen Hirten und Judith Strößenreuter als biedermeierliches Mägdelein.

    Stadt und Land, Hofstaat und Landgemeinschaft werden versöhnt, in der böhmischen Provinz heilen die Krankheiten der sizilianischen Königsfamilie. Auch das müsste eigentlich märchenhaft sein, wie die Tatsache, dass Böhmen am Meer liegt. Ironisch lässt Wilson Schafattrappen über die Felsen springen, die in Stufen zum Meer hin abfallen. Hübsch ist das, wie unzählige andere Ideen, wäre die Inszenierung nicht in allem, jedem Bild, jeder Pose, jedem Kostüm und jedem Requisit überdeutlich. Dazu dröhnt und klimpert, tutet und ding-dongt Hans-Jörn Brandenburgs kleines Orchester lautmalerisch:

    Es gibt eigentlich in Wilsons Musicalversion des Shakespeare-Märchens keine Gefühlchen, kein Wütchen, kein Frustchen, kein Liebesleidchen und keine Wiedersehensfreudchen, das musikalischer Einfärbung entkommen kann. Und weil immerfort alles von der Bühne geliefert wird, der Text und was man dazu fühlen soll, die Figur und ihre karikaturale Typisierung, ist am Ende, wenn die durch den Wahn Leontes in alle Welt verstreute Familie nach 16 Jahren wieder zauberhaft zusammenkommt, kein Wunder geschehen.

    Die Inszenierung passt in die Zeit: Ihre Botschaft, wenn sie denn eine hat, ist schon in jedem ihrer Zeichen verpackt, und Emotionen gibt es nur noch als simple, ja banale und naive Gemeinplätze. Als Stimmungs-Gesamtkunstwerk in Zeiten ohne Märchen. Das Wintermärchen als Anti-Oper: Nicht zum Herstellen von Gefühlen geeignet, sondern zum Wegdudeln der Spitzen und Kanten. Als Wilson vor Jahren mit seinem Kopenhagener Woyzeck und mit der Musik von Tom Waits Pop-Ästhetik gegen die knappe, harsche Sprache und Handlung des Stücks setzte, war das Ergebnis eine bitter-süße Ballade, etwas schön-schreckliches.

    Aber mit der süffigen Sound-Sauce Brandenburgs werden die versöhnlichen Stimmungen des elisabethanischen Dichters, diese im wörtlichen Sinne zu verstehende Wieder-Gut-Machung der Gefühlswelt, von vorn herein aufs Kitsch-Niveau heruntergebrochen. Hier ist für Heilung gar kein Anlass, weil hier ein Elend gar nicht mehr vorkommen kann.