Jacqueline Boysen: Frau Ministerin, am Mittwoch beginnt der Bildungsgipfel in Dresden, den die Kanzlerin initiiert hat. Wie die Bildungsreise, die Angela Merkel und einen gewaltigen Tross von Journalisten und Beamten in den vergangenen Wochen durch Schulen, Kindergärten, Hochschulen und Ausbildungsstätten geführt hat, wird auch der Gipfel stark kritisiert. Wenn es denn mehr sein sollte als ein PR-Gag, mehr als Symbolpolitik und eine Grenzüberschreitung, denn Kultur, Schule sind ja Ländersache: Was ist es dann?
Annette Schavan: Es ist ein Signal dafür, dass Bildungspolitik in der Mitte der Politik angekommen ist, es ist ein Signal dafür, dass gesamtstaatliche Verantwortung wahrgenommen wird. Wir haben keine Zuständigkeitsdebatte angezettelt, sondern deutlich gemacht, wo sind wichtige Themen, zu denen wir bessere Antworten finden müssen als bislang.
Boysen: Den Bundesländern wäre es ja, wie es scheint, am liebsten, die Kanzlerin bliebe schön in Berlin in ihrem Amte, denn sie verwahren sich gegen das Engagement des Bundes auf einem Sektor, der in Länderhoheit fällt. Auf einer Bildungskonferenz der CDU entfuhr es Ihnen neulich, der Weg zum Gipfel sei reine Nervensache und man soll Sie da nicht unterschätzen. Was nervt Sie denn momentan am hartnäckigsten?
Schavan: Am hartnäckigsten nervt der Eindruck, der da erweckt wird, als seien die Länder gegen solche Aktivitäten. Der eine oder andere sieht es skeptisch, aber insgesamt hat speziell die Bildungsreise gezeigt, dass bei jedem Termin viel Begeisterung vor Ort war, viel Zustimmung war - übrigens vor allem bei denen, die in den Schulen, Kindergärten und Ausbildungsbetrieben arbeiten, weil sie eben sagen: Wir werden wahrgenommen, wir werden anerkannt. Und die Vorstellung im übrigen, dass, wer in Berlin ist, zum Thema Bildung nichts zu sagen hat, ist abwegig.
Boysen: Frau Schavan, die Verfassungslage - an der kommen wir nicht vorbei - die ist nach der Föderalismusreform so eindeutig wie noch nie: Die Schule ist Ländersache. Und dennoch haben Sie, von Seiten des Bundes, ein milliardenschweres Hilfspaket geschnürt, das Sie mit nach Dresden nehmen. Da ist von über sechs Milliarden Euro die Rede, von angeblichen zehn Milliarden Euro womöglich. Angesichts des gewaltigen Volumens der Bürgschaften zugunsten der Finanzwirtschaft fällt einem der Ausdruck "Peanuts" ein, aber lassen Sie uns diese Zahlen genau anschauen. Fließen wirklich zusätzlich sechs Milliarden Euro bis zum Jahr 2012 in das Bildungssystem?
Schavan: Ja, das sind sechs Milliarden, die bereits verankert sind im Haushalt, die sich ergeben aus den Beschlüssen der letzten drei Jahre - in der Qualifizierungsinitiative, im Blick auf die Stärkung der frühkindlichen Bildung, auch zur Stärkung der beruflichen Bildung.
Boysen: Dann ist es ja doch nicht zusätzlich, wenn Sie sagen, es ist ohnehin schon in den Haushalt eingeflossen.
Schavan: Es ist zusätzlich mit der Qualifizierungsinitiative und anderen Beschlüssen für die nächsten Jahre bis 2012 beschlossen.
Boysen: Es heißt, dass das Ganztagsschulprogramm des Bundes - das war ja einst ein Lieblingsthema Ihrer sozialdemokratischen Amtsvorgängerin Edelgard Bulmahn - fortgeführt werden soll und den Ländern damit der Ausbau ihrer Schulen möglich wird, an denen Schüler dann schließlich den ganzen Tag über bleiben sollen - entweder im wirklichen Ganztagsunterricht oder zumindest betreut. Das galt den unionsregierten Ländern ja noch vor kurzem - zugespitzt - als "Bedrohung" ihrer Autonomie beziehungsweise als Bedrohung auch der elterlichen Autonomie. Wie tief geht denn hier der Sinneswandel in der Union inzwischen?
Schavan: Wichtig ist die pädagogische Weiterentwicklung an den Standorten, an denen gebaut wurde. Das habe ich beim Ganztagsschulkongress angekündigt. Es gibt in jedem Land Serviceagenturen, die wichtige Ratgeber sind. Das soll fortgesetzt werden, das ist aber nicht die Milliarde. Ich finde, nachdem so viel gebaut worden ist, ist jetzt auch der richtige Zeitpunkt zu fragen: Wo gelingt es denn an all diesen Baustellen, dass tatsächlich Ganztagsschule stattfindet, also am Nachmittag nicht nur Betreuung, ein anderer Rhythmus, ein anderer Umgang mit der Zeit?
Boysen: Wären Sie denn, wenn diese Bilanz positiv ausfällt, bereit, dieses Ganztagsschulprogramm oder ein verändertes weiterzuführen?
Schavan: Das sehe ich im Moment nicht, weil alle Rückmeldungen zeigen, es ist jetzt Zeit für weitere pädagogische Entwicklung. Und inwieweit der Bund über die sechs Milliarden hinaus finanziell Investitionen anbringt, das wird sich aus der Diskussion noch der nächsten Tage ergeben. Stand heute ist: Wir haben erheblich zugelegt im Bund, und jetzt ist wichtig das Signal, dass auch auf Seiten der Länder - wenn ich an die Zeit des Schülerrückgangs denke - Geld im System bleibt, eben auch für qualitative Entwicklung.
Boysen: Frau Schavan, dieser Tage hat sich die Bundesregierung vom EU-weit geltenden Stabilitätsziel, das die Regierung eigentlich ja zur Haushaltsdisziplin zwingen soll, verabschiedet. Auf die Frage, woher denn zusätzliches Geld für Investitionen, darüber sprechen wir, in die Bildung kommen soll, hatten Sie stets auf die sogenannte "demografische Rendite" verwiesen, also obgleich die Schülerzahlen sinken, sollen den Schulen weiterhin die bisher veranschlagten Budgets zugute kommen, es soll also nicht eingespart werden. Das ist aber Ländersache, natürlich. Die Länder lassen sich nicht kaufen, hat jüngst eben gerade noch einmal die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Politikerin aus dem Saarland, gesagt. Wie groß sehen Sie die Chancen, dass sich Bund und Länder in der kommenden Woche tatsächlich verständigen und Sie die Länder wirklich zu einer verbindlichen Aussage auch über zusätzliche Mittel aus den Ländertöpfen für das Bildungssystem bewegen können?
Schavan: Ich bin davon überzeugt, dass der Gipfel erfolgreich sein wird. Es wird ein gutes Signal sein, ein Signal, das alle, die im Bildungssystem Verantwortung tragen, vor allen Dingen auch die Länder, darum wissen, dass das nicht nur Herzstück der Landespolitik ist, sondern eine Frage der Bildung und Ausbildung...
Boysen: ... wenn ich Sie da unterbrechen darf: zwischen Wissen und verbindlichen Zusagen klafft ja noch eine Lücke.
Schavan: Das wird kein Gipfel nach dem Motto "Schön, dass wir darüber gesprochen haben". Es wird ein Papier geben, das zeigt, wie sich Bund und Länder in die Pflicht nehmen lassen - so, wie wird das beim Hochschulpakt gemacht haben, so, wie wir das auch etwa beim Drei-Prozent-Ziel geschafft haben.
Boysen: Frau Schavan, lassen Sie uns einmal die Aufgaben, vor denen das Bildungssystem konkret steht, unter die Lupe nehmen. Nicht zuletzt mit dem Ziel, benachteiligten Kindern so früh wie möglich zu helfen, wollen Sie die frühkindliche Bildung verbessern, Sie haben es eben angedeutet, wobei eben besonders die kostenfreie Sprachförderung vor der Schule immer wieder hervorgehoben wird. Kindergärten sind nun erst recht für die Bundesministerin quasi unerreichbar, das Ressort wäre eigentlich die für Jugend zuständige Ministerin, Träger aber der Kindereinrichtungen sind wiederum vielfach die Kommunen oder gar private Einrichtungen. Hier stellt sich erneut die Frage: Was können Sie eigentlich bewirken, außer möglicherweise moderieren?
Schavan: Seit der ersten PISA-Studie wissen alle, dass die Vernachlässigung der Sprache die Hauptquelle für Bildungsbenachteiligung und Bildungsarmut ist. Und deshalb ist auch in den letzten Monaten quer durch die Ebenen und Ressorts viel getan worden, um zu sagen: Wir brauchen genügend Plätze, wir brauchen die Weiterbildung der Erzieherinnen, wir sind an der Untersuchung tatsächlich praktizierter Sprachförderkonzepte. Das ist weit mehr als Moderation. Da wird gerade ein Fundament dafür gelegt, die Bildungsphase nicht mit der Schule beginnen zu lassen, sondern den Kindergarten als Ort der Bildung jetzt auch zu gestalten.
Boysen: Zu Beginn der Legislaturperiode haben Sie bereits gesagt, Sie wollen die frühkindliche Pädagogik stärken. Haben Sie da Ergebnisse? Was ist eigentlich daraus geworden?
Schavan: Dazu gehört die wissenschaftliche Begleitung und auch die konzeptionelle Entwicklung der sogenannten Bildungshäuser in einigen Bundesländern, Kindertagesstätten und Grundschulen, die zueinander rücken - das ist letztlich eine durchgängige Bildungsphase, die da entsteht. Das Zweite sind die "Häuser der kleinen Forscher": 10.000 Kindergärten, die in den nächsten Jahren so weiterentwickelt werden, dass sie früh den Zugang zu Naturphänomenen, zu Experimenten ermöglichen. Das sind zwei Beispiele für strukturelle und inhaltlich pädagogische Weiterentwicklung.
Boysen: Das hat aber nichts mit pädagogischer Forschung zu tun, das ist Praxis.
Schavan: Ersteres passiert in der praktischen Entwicklung und zugleich in der Bildungsforschung, und dass das, was angeboten wird, tatsächlich den Kindern hilft - übrigens nicht nur Kindern mit Migrationshintergrund, sondern auch solchen, die in Deutschland geboren sind.
Boysen: Wir haben, anders als in anderen europäischen Ländern, eine Fachschulausbildung für die Erzieherinnen beziehungsweise Kindergärtnerinnen. Es gibt Bestrebungen, beispielsweise vom Kultusminister des Landes Sachsen: Er möchte 15 Prozent seiner Erzieherinnen im Kindergarten mit einer akademischen Bildung ausstatten. Andere Minister wiederum in den Ländern sehen das überhaupt nicht so. Da reißen Gräben auf über Parteigrenzen hinweg. Was ist Ihre Position?
Schavan: Für Kindergärten und Grundschulen wird in Zukunft vermutlich gelten: Es gibt Aufgaben am Bildungsort Kindergarten, die mehr voraussetzen als die jetzige Fachschulbildung ermöglicht, Bildungsprozesse anzuregen, zu begleiten. Gleichzeitig wird aber auch die Fachschulausbildung für die Erzieherinnen nicht überflüssig werden. Also es braucht eine Mischung, und es braucht vor allen Dingen für diejenigen, die zunächst über die Fachschule kommen, weitere Wege, um sich weiter zu qualifizieren - vielleicht auch bis zur Grundschullehrerin.
Boysen: Frau Schavan, wenn wir die Nächstälteren im Bildungssystem anschauen, die Schüler, dann kommen wir nicht drum rum, auch über die Dreigliedrigkeit zu reden. Wir haben ein wahres Puzzle von unterschiedlichen Schulformen in Deutschland. Dennoch ist die Dreigliedrigkeit immer wieder der Hauptstreitpunkt. Sie halten hartnäckig an der Hauptschule fest. Bei genauerer Betrachtung gibt es die Hauptschule ja schon fast gar nicht mehr. Die neuen Länder, insbesondere die bei Tests gern sehr erfolgreichen wie Sachsen oder Thüringen, haben eine zusammengelegte Haupt- und Realschule. Auch das schwarz-grün regierte Hamburg baut sein Schulsystem komplett um. Wieso halten Sie eigentlich an der Einrichtung Hauptschule fest und sagen, diese gilt es zu stärken?
Schavan: Ich bin für ein Bildungssystem der Vielfalt. Dazu gehören auch erfolgreiche Hauptschulstandorte. Wo Situationen entstanden sind, in denen wir sagen müssen, da sind sie nicht mehr erfolgreich, da ist eigentlich, weil zum Beispiel parallel auch noch Gesamtschulen da sind, eine Zersplitterung eingetreten, die die Hauptschule schon deswegen kaputt gemacht hat, da muss man sie im Zweifelsfall auflösen. Aber die generelle Diskussion der letzten Jahre, die eine ganze Schulart diskreditiert, hat der Hauptschule massiv geschadet - und nicht die Frage gestellt, wie sich eigentlich die Schüler damit fühlen oder die Lehrerinnen und Lehrer, die da arbeiten. Die Hauptschule hat in Wirklichkeit in den letzten Jahren die Hauptlast getragen bei spezifischen Aufgaben wie etwa der Integration. Stärken der Hauptschule heißt in der Tat, bei der Besoldung den Hauptschullehrer nicht an das Ende der Hierarchie zu stellen. Auch da gibt es erste Beschlüsse in den Ländern. Das sind zwei Maßnahmen, die zeigen, natürlich muss nicht festgehalten werden genau an dem, was ist, sondern jeder Hauptschulstandort muss einer sein, von dem die Eltern wissen, das ist eine Etappe, die nicht Sackgasse ist. Und dann ist es eine Entscheidung über Standorte und nicht über eine ganze Schulart.
Boysen: Sie sprachen von der Durchlässigkeit, die Sie erhöhen wollen. Sie wollen Hauptschülern helfen, auch in höhere Schulen - wie es früher so schön im Sprachgebrauch auch hieß - weiter zu gehen. Zunächst einmal muss es aber wohl darum gehen, die Schulabbrecherquote, die bei den Hauptschulen eklatant hoch ist, zu senken. Früher war von halbieren die Rede. Jetzt heißt es nur noch senken. Der Koalitionsausschuss hat sich jüngst darauf verständigt, es wird einen Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss geben. So hat es die SPD genannt. Sie waren stets dagegen. Nun hat hier der Koalitionsausschuss anders entschieden. Sie haben aus Koalitionsraison sozusagen eine Kröte schlucken müssen.
Schavan: Wir haben drei Abbrecherquoten, die jetzt im Blick sind: die Schulabbrecher, die Ausbildungsabbrecher, die Studienabbrecher. Darunter ist übrigens die Schulabbrecherquote die geringste. Alle drei sind aber zu hoch. Deshalb wird auch bei allen Dreien angesetzt, und was am Ende im Papier stehen wird, wissen wir erst am Mittwoch. Wir haben uns beim Rechtsanspruch geeinigt auf einen guten Kompromiss. Der Begriff signalisiert etwas, was ja gar nicht gemeint ist, sondern gemeint ist etwas, was ich eigentlich für selbstverständlich halte, dass wer nachholen möchte, dazu auch die Möglichkeit - auch finanziell - bekommt.
Boysen: Ich möchte hier eine kleine Zäsur machen. Mir ist aufgefallen, dass wenn immer Sie über die Ziele von Bildung sprechen, Sie gleichzeitig auch über den Arbeitsmarkt, über den ökonomischen Nutzen sprechen. Sie haben selber vom "Haus der kleinen Forscher" gesprochen, über naturkundliche Experimente im Kindergarten, und das eben in direktem Zusammenhang mit dem politischen Ziel, den Ingenieurmangel zu beheben. Was liegt dem eigentlich für ein Bildungsbegriff zugrunde? Geht das nicht ein bisschen weit?
Schavan: Nein. Ich komme von einem Bildungsverständnis, das ziemlich klassisch das einer Geisteswissenschaftlerin ist. Bildung betrifft den ganzen Menschen. Bildung betrifft Persönlichkeitsbildung, Herzensbildung. Bildung lässt sich nicht in Schulfächer packen, ist auch nicht die Frage primär der Organisation. Klassischerweise gilt der Satz: Der Mensch bildet sich selbst. Und das, was Institutionen können, ist gleichsam die Hilfe von außen bei diesem Prozess. Darüber kann ich ganz lange reden und philosophieren . . .
Boysen: So viel Zeit haben wir jetzt vielleicht nicht.
Schavan: . . . und das ist ein wunderbares Bildungsverständnis, zu dem ich stehe und das auch nicht verengt werden darf in den Institutionen, weshalb Musik, Theater und Kunst genau so wichtig sind wie Physik und Chemie. Nur, klar ist doch auch, wir reden nicht nur über ein sehr schönes Thema, wie manche dann sagen, einen weichen Faktor, sondern wir reden auch über einen sehr harten Faktor. Jugendliche, die den Eindruck bekommen, nicht gebraucht zu werden, nichts zu können, die haben nicht nur mit sich selbst ein Problem, das ist im Verständnis der humanistischen Bildung nicht in Ordnung, diese Jugendlichen allein zu lassen, sondern damit hat die Gesellschaft über kurz oder lang auch ein ökonomisches Problem. Ich verweise auf die ökonomische Dimension nicht zuletzt übrigens, weil wir längst auch wissen, dass es in dieser Gesellschaft Milieus gibt - Kinder und Jugendliche -, die den Eindruck haben, dass sie eigentlich nur abhängig sind vom Staat, von Transferleistungen. Das heißt, Bildung hat immer auch mit ökonomischen Fragen zu tun. Ein Bildungssystem muss ermutigen, aber es muss jedem, der Verantwortung trägt, auch klar sein, wir reden über einen in ökonomischer Hinsicht auch harten Faktor.
Boysen: Sie sprachen neulich davon, dass Sie sich ein System vorstellen könnten, wie in Zusammenarbeit mit den Agenturen für Arbeit und den späteren Arbeitsvermittlern oder Vermittlern von Ausbildungsplätzen für Siebtklässler Begabungsprofile erstellt werden. Ich weiß nicht, ob sie mit 13 schon wussten, dass Sie später Theologie studieren würden und ob Ihnen eine politische Karriere schon vorgeschwebt hat damals. 13 scheint doch ein bisschen sehr früh. Engt man nicht den Spielraum, den Jugendliche haben sollen und den ihnen die Schule auch gewähren sollte, viel zu stark ein? Vergibt sich hier die Volkswirtschaft, um wiederum ökonomisch zu sprechen, nicht eine Chance?
Schavan: Es geht bei diesem Schritt nicht darum, vorweg zu nehmen, welchen beruflichen Weg jemand geht, sondern wir brauchen zweierlei. Das eine ist das sogenannte Kompetenzprofil. Das heißt, in dem Alter, das jetzt auch bei PISA eine Rolle spielt im Blick etwa auf die große Risikogruppe der 25 Prozent, sagen Experten, ihr müsst euch mehr beschäftigen mit der Frage, was fehlt denn diesen Jugendlichen, um einen erfolgreichen Abschluss zu machen? Und die Lehrer und Lehrerinnen sind die ersten, die das bewerten können und die dann auch sagen können, was ist für diesen Jugendlichen wichtig. Daraus sind andere Bildungskonzepte entstanden. Wenn ich etwa denke an Kooperationsklassen, also Jugendliche, die nicht nur Schule haben, sondern Erfahrung in einem Unternehmen. Das zweite würde ich aber auch nicht unterschätzen. Psychologen sagen uns, Abbrecherquoten bei Ausbildung und Studium haben damit zu tun, dass Jugendliche zu wenig beraten sind und schlicht die falsche Wahl treffen. Dann lohnt es sich, vor Beginn eines Studiums oder einer Ausbildung vielleicht besser zu beraten, als wir das heute tun.
Boysen: Wir sollten neben den Schulen tatsächlich noch einmal die Hochschulen in den Blick nehmen. Bund und Länder hatten sich ja auf den Hochschulpakt I geeinigt. 90.000 zusätzliche Studienplätze sollte es geben. Der Bund gab dafür, wenn ich recht mich erinnere, 565 Millionen und die Länder sollten die Studienplätze einrichten. Es hat keine Bilanz gegeben. Welches Land also wie viele Studienplätze eingerichtet hat tatsächlich, das wissen wir so genau noch überhaupt gar nicht. Dennoch wird schon über einen Hochschulpakt II geredet. Sollte man nicht erst einmal eine Bilanz des ersten ziehen, bevor man über einen zweiten philosophiert?
Schavan: Nein. Der zweite ist zwingend, denn wir haben ja vereinbart, Hochschulpakt bis 2020. Dann wurde er konkretisiert für eine erste Phase, und jetzt geht es um die zweite Phase, wo ja übrigens gesagt wird, dass die Zahl der erwarteten Studienanfänger noch einmal deutlich höher ist als gedacht. Geld wird nur da bleiben, wo neue Studienplätze entstanden sind. Sollte also, wenn Bilanz gezogen wird - die erste Bilanz wird in den nächsten Wochen vorgelegt, und wenn die Bilanz über die gesamte Phase vorliegt und sich herausstellt, dass Länder Geld bekommen haben für Studienplätze, die nicht eingerichtet wurden, kommt das Geld zurück. Das ist ganz einfach so vereinbart.
Boysen: Können Sie schon sagen, welche Länder da zur Kasse gebeten werden?
Schavan: Nein, denn die Länder sagen mir, dass sie in dem Zeitraum bis zum Ende diesen Ausbau wollen. Würden sie es nicht tun, würde das ja auch bedeuten, dass es viele Bewerber um ein Studium gibt, die keinen Studienplatz bekommen. Das wäre ziemlich abenteuerlich in Zeiten, wo alle sagen, wir brauchen mehr Akademiker.
Boysen: Sie wollen auch zur Stärkung der Forschung vor allem die Exzellenzinitiative weiterführen. Gibt es da konkrete Vorschläge, wie das passieren soll?
Schavan: Die jetzige Exzellenzinitiative geht ja bis 2011. Ich finde wichtig, dass die Hochschulen auch erst mal auch Zeit bekommen, das, was sie an Konzepten haben, umsetzen zu können. Generell finde ich, dass diese Exzellenzinitiative so viel Dynamik ins System gebracht hat, dass in der Tat sie auch verstetigt werden soll. Darüber gibt es Konsens mit allen Ländern. Alle 16 Länder sagen, das ist ein wichtiger Impuls gewesen, das ist wichtig etwa, wenn man an Nachwuchsförderung denkt, die Graduiertenschulen, die Exzellenzcluster. Ob es diese drei Rubriken geben wird oder andere wird sich zeigen. Manche plädieren für die Stärkung der Lehre. Ich gehöre zu den Klassikern, die sagen, Forschung und Lehre sind die zwei Seiten der einen Medaille. Wir können also davon ausgehen, es wird auch in Zukunft diesen Impuls geben. Und über die konkrete Gestaltung wird im Laufe des nächsten Jahres gesprochen.
Boysen: Kann ich daraus schließen, wenn Sie sagen, Forschung und Lehre sind zwei Seiten der selben Medaille, dass Sie nichts von einer Exzellenzinitiative für die Lehre halten?
Schavan: Eine reine Exzellenzinitiative Lehre halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ob in einem neuen Ansatz für Exzellenzinitiative noch Impulse aufgenommen werden, die auch die Lehre betreffen, schließe ich nicht aus, so wie übrigens wir ja auch im Zusammenhang mit dem Bildungsgipfel über Exzellenzinitiative für Lehrerbildung sprechen, das heißt die besten Konzepte herausfinden. So etwas kann in einer nächsten Exzellenzinitiative durchaus eine Rolle spielen.
Boysen: Wenn man die Zahl der Studenten in Deutschland erhöhen will, dann stellt sich die Frage, wie sollen diese Studenten ihr Studium finanzieren. Wir haben einen steigenden Anteil von Akademikerkindern an den Hochschulen. Die Bafög-Empfängerzahl sinkt. Und jetzt gibt es eine Hiobsbotschaft, die erneut verbunden ist mit der Finanzkrise: Die staatliche Förderbank KfW verteuert die Kredite, die sie Studenten gibt. Sie hat die Zinsen für ihre Studienkredite erhöht. Sie sagen, das sei ein falsches Signal. Aber inwieweit können Sie eigentlich mehr tun als prüfen und bitten, den Zinssatz nicht zu erhöhen? Haben Sie nicht eigentlich ein Steuerungsinstrument aus der Hand gegeben?
Schavan: Zunächst wird die Zahl der Bafög-Empfänger deutlich steigen, denn wir haben eine Erhöhung der Freibeträge und der Förderbeträge wie seit vielen Jahren nicht mehr. Ein Drittel aller Studierenden erhält künftig Bafög. Was die Studienkredite angeht, das wird jetzt gerade verhandelt. Und im übrigen begrüße ich jede Initiative der Unternehmen in Deutschland – und die Zahl, derer, die es tun, steigt in der Tat –, die Stipendien anbieten. Das ist in vielen anderen Ländern selbstverständlich. Der Bund hat weitere Stipendien eingerichtet, erhebliche Steigerungen für die elf Begabten-Förderungswerke, Aufstiegsstipendien. Das heißt, weit über 90 Prozent aller Stipendien in Deutschland werden bundesseitig bezahlt. Und ich finde, jetzt ist auch Zeit für die anderen Akteure, zu überlegen, was sie tun können. Würden wir eine Bilanz ziehen, was mittlerweile in den Unternehmen geschieht, so gibt es einen guten Anfang. Aber das ist noch lange nicht genug.
Boysen: Frau Schavan, lassen Sie uns abschließend auf die große Koalition blicken. Angela Merkel und Peer Steinbrück, die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin und der sozialdemokratische Finanzminister, haben in der Finanzkrise den Schulterschluss demonstriert. Jetzt aber formiert sich die SPD neu und es heißt schon jetzt vom neuen SPD-Vorsitzenden, er werde jetzt mal ganz andere Töne anschlagen. Und auch in der CSU wird es Veränderungen geben. Wenn nämlich Horst Seehofer nach München geht, dann wird sein Platz ja vakant. Was bedeutet das für das Klima der großen Koalition etwa ein Jahr vor der Bundestagswahl?
Schavan: Die in dieser Koalition am Kabinettstisch Verantwortung tragen, werden auch in den nächsten Monaten das tun, was bei vielen Themen, zuletzt der Finanzkrise, deutlich geworden ist, diese Zeit nutzen, um das Land voran zu bringen.
Boysen: Erwarten Sie keinen Klimawandel?
Schavan: Ich erwarte, dass die, die zusammen arbeiten, auch in diesen nächsten Monaten gut zusammen arbeiten. Und natürlich gilt für alle Partner in der Koalition, dass sie sich gleichzeitig auf den September des nächsten Jahres vorbereiten. Und da geht man nicht in Koalitionen in Wahlkämpfe, sondern jeder geht für sich. Und das eine zu tun ohne das andere zu lassen wird die Kunst des Politischen sein. Gerade in so einer ernsten Situation wie jetzt tun wir gut daran, ernsthaft in der Sache weiter zu arbeiten und gleichzeitig so viel Professionalität zu haben, dass wir uns auch auf September 2009 vorbereiten.
Annette Schavan: Es ist ein Signal dafür, dass Bildungspolitik in der Mitte der Politik angekommen ist, es ist ein Signal dafür, dass gesamtstaatliche Verantwortung wahrgenommen wird. Wir haben keine Zuständigkeitsdebatte angezettelt, sondern deutlich gemacht, wo sind wichtige Themen, zu denen wir bessere Antworten finden müssen als bislang.
Boysen: Den Bundesländern wäre es ja, wie es scheint, am liebsten, die Kanzlerin bliebe schön in Berlin in ihrem Amte, denn sie verwahren sich gegen das Engagement des Bundes auf einem Sektor, der in Länderhoheit fällt. Auf einer Bildungskonferenz der CDU entfuhr es Ihnen neulich, der Weg zum Gipfel sei reine Nervensache und man soll Sie da nicht unterschätzen. Was nervt Sie denn momentan am hartnäckigsten?
Schavan: Am hartnäckigsten nervt der Eindruck, der da erweckt wird, als seien die Länder gegen solche Aktivitäten. Der eine oder andere sieht es skeptisch, aber insgesamt hat speziell die Bildungsreise gezeigt, dass bei jedem Termin viel Begeisterung vor Ort war, viel Zustimmung war - übrigens vor allem bei denen, die in den Schulen, Kindergärten und Ausbildungsbetrieben arbeiten, weil sie eben sagen: Wir werden wahrgenommen, wir werden anerkannt. Und die Vorstellung im übrigen, dass, wer in Berlin ist, zum Thema Bildung nichts zu sagen hat, ist abwegig.
Boysen: Frau Schavan, die Verfassungslage - an der kommen wir nicht vorbei - die ist nach der Föderalismusreform so eindeutig wie noch nie: Die Schule ist Ländersache. Und dennoch haben Sie, von Seiten des Bundes, ein milliardenschweres Hilfspaket geschnürt, das Sie mit nach Dresden nehmen. Da ist von über sechs Milliarden Euro die Rede, von angeblichen zehn Milliarden Euro womöglich. Angesichts des gewaltigen Volumens der Bürgschaften zugunsten der Finanzwirtschaft fällt einem der Ausdruck "Peanuts" ein, aber lassen Sie uns diese Zahlen genau anschauen. Fließen wirklich zusätzlich sechs Milliarden Euro bis zum Jahr 2012 in das Bildungssystem?
Schavan: Ja, das sind sechs Milliarden, die bereits verankert sind im Haushalt, die sich ergeben aus den Beschlüssen der letzten drei Jahre - in der Qualifizierungsinitiative, im Blick auf die Stärkung der frühkindlichen Bildung, auch zur Stärkung der beruflichen Bildung.
Boysen: Dann ist es ja doch nicht zusätzlich, wenn Sie sagen, es ist ohnehin schon in den Haushalt eingeflossen.
Schavan: Es ist zusätzlich mit der Qualifizierungsinitiative und anderen Beschlüssen für die nächsten Jahre bis 2012 beschlossen.
Boysen: Es heißt, dass das Ganztagsschulprogramm des Bundes - das war ja einst ein Lieblingsthema Ihrer sozialdemokratischen Amtsvorgängerin Edelgard Bulmahn - fortgeführt werden soll und den Ländern damit der Ausbau ihrer Schulen möglich wird, an denen Schüler dann schließlich den ganzen Tag über bleiben sollen - entweder im wirklichen Ganztagsunterricht oder zumindest betreut. Das galt den unionsregierten Ländern ja noch vor kurzem - zugespitzt - als "Bedrohung" ihrer Autonomie beziehungsweise als Bedrohung auch der elterlichen Autonomie. Wie tief geht denn hier der Sinneswandel in der Union inzwischen?
Schavan: Wichtig ist die pädagogische Weiterentwicklung an den Standorten, an denen gebaut wurde. Das habe ich beim Ganztagsschulkongress angekündigt. Es gibt in jedem Land Serviceagenturen, die wichtige Ratgeber sind. Das soll fortgesetzt werden, das ist aber nicht die Milliarde. Ich finde, nachdem so viel gebaut worden ist, ist jetzt auch der richtige Zeitpunkt zu fragen: Wo gelingt es denn an all diesen Baustellen, dass tatsächlich Ganztagsschule stattfindet, also am Nachmittag nicht nur Betreuung, ein anderer Rhythmus, ein anderer Umgang mit der Zeit?
Boysen: Wären Sie denn, wenn diese Bilanz positiv ausfällt, bereit, dieses Ganztagsschulprogramm oder ein verändertes weiterzuführen?
Schavan: Das sehe ich im Moment nicht, weil alle Rückmeldungen zeigen, es ist jetzt Zeit für weitere pädagogische Entwicklung. Und inwieweit der Bund über die sechs Milliarden hinaus finanziell Investitionen anbringt, das wird sich aus der Diskussion noch der nächsten Tage ergeben. Stand heute ist: Wir haben erheblich zugelegt im Bund, und jetzt ist wichtig das Signal, dass auch auf Seiten der Länder - wenn ich an die Zeit des Schülerrückgangs denke - Geld im System bleibt, eben auch für qualitative Entwicklung.
Boysen: Frau Schavan, dieser Tage hat sich die Bundesregierung vom EU-weit geltenden Stabilitätsziel, das die Regierung eigentlich ja zur Haushaltsdisziplin zwingen soll, verabschiedet. Auf die Frage, woher denn zusätzliches Geld für Investitionen, darüber sprechen wir, in die Bildung kommen soll, hatten Sie stets auf die sogenannte "demografische Rendite" verwiesen, also obgleich die Schülerzahlen sinken, sollen den Schulen weiterhin die bisher veranschlagten Budgets zugute kommen, es soll also nicht eingespart werden. Das ist aber Ländersache, natürlich. Die Länder lassen sich nicht kaufen, hat jüngst eben gerade noch einmal die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Politikerin aus dem Saarland, gesagt. Wie groß sehen Sie die Chancen, dass sich Bund und Länder in der kommenden Woche tatsächlich verständigen und Sie die Länder wirklich zu einer verbindlichen Aussage auch über zusätzliche Mittel aus den Ländertöpfen für das Bildungssystem bewegen können?
Schavan: Ich bin davon überzeugt, dass der Gipfel erfolgreich sein wird. Es wird ein gutes Signal sein, ein Signal, das alle, die im Bildungssystem Verantwortung tragen, vor allen Dingen auch die Länder, darum wissen, dass das nicht nur Herzstück der Landespolitik ist, sondern eine Frage der Bildung und Ausbildung...
Boysen: ... wenn ich Sie da unterbrechen darf: zwischen Wissen und verbindlichen Zusagen klafft ja noch eine Lücke.
Schavan: Das wird kein Gipfel nach dem Motto "Schön, dass wir darüber gesprochen haben". Es wird ein Papier geben, das zeigt, wie sich Bund und Länder in die Pflicht nehmen lassen - so, wie wird das beim Hochschulpakt gemacht haben, so, wie wir das auch etwa beim Drei-Prozent-Ziel geschafft haben.
Boysen: Frau Schavan, lassen Sie uns einmal die Aufgaben, vor denen das Bildungssystem konkret steht, unter die Lupe nehmen. Nicht zuletzt mit dem Ziel, benachteiligten Kindern so früh wie möglich zu helfen, wollen Sie die frühkindliche Bildung verbessern, Sie haben es eben angedeutet, wobei eben besonders die kostenfreie Sprachförderung vor der Schule immer wieder hervorgehoben wird. Kindergärten sind nun erst recht für die Bundesministerin quasi unerreichbar, das Ressort wäre eigentlich die für Jugend zuständige Ministerin, Träger aber der Kindereinrichtungen sind wiederum vielfach die Kommunen oder gar private Einrichtungen. Hier stellt sich erneut die Frage: Was können Sie eigentlich bewirken, außer möglicherweise moderieren?
Schavan: Seit der ersten PISA-Studie wissen alle, dass die Vernachlässigung der Sprache die Hauptquelle für Bildungsbenachteiligung und Bildungsarmut ist. Und deshalb ist auch in den letzten Monaten quer durch die Ebenen und Ressorts viel getan worden, um zu sagen: Wir brauchen genügend Plätze, wir brauchen die Weiterbildung der Erzieherinnen, wir sind an der Untersuchung tatsächlich praktizierter Sprachförderkonzepte. Das ist weit mehr als Moderation. Da wird gerade ein Fundament dafür gelegt, die Bildungsphase nicht mit der Schule beginnen zu lassen, sondern den Kindergarten als Ort der Bildung jetzt auch zu gestalten.
Boysen: Zu Beginn der Legislaturperiode haben Sie bereits gesagt, Sie wollen die frühkindliche Pädagogik stärken. Haben Sie da Ergebnisse? Was ist eigentlich daraus geworden?
Schavan: Dazu gehört die wissenschaftliche Begleitung und auch die konzeptionelle Entwicklung der sogenannten Bildungshäuser in einigen Bundesländern, Kindertagesstätten und Grundschulen, die zueinander rücken - das ist letztlich eine durchgängige Bildungsphase, die da entsteht. Das Zweite sind die "Häuser der kleinen Forscher": 10.000 Kindergärten, die in den nächsten Jahren so weiterentwickelt werden, dass sie früh den Zugang zu Naturphänomenen, zu Experimenten ermöglichen. Das sind zwei Beispiele für strukturelle und inhaltlich pädagogische Weiterentwicklung.
Boysen: Das hat aber nichts mit pädagogischer Forschung zu tun, das ist Praxis.
Schavan: Ersteres passiert in der praktischen Entwicklung und zugleich in der Bildungsforschung, und dass das, was angeboten wird, tatsächlich den Kindern hilft - übrigens nicht nur Kindern mit Migrationshintergrund, sondern auch solchen, die in Deutschland geboren sind.
Boysen: Wir haben, anders als in anderen europäischen Ländern, eine Fachschulausbildung für die Erzieherinnen beziehungsweise Kindergärtnerinnen. Es gibt Bestrebungen, beispielsweise vom Kultusminister des Landes Sachsen: Er möchte 15 Prozent seiner Erzieherinnen im Kindergarten mit einer akademischen Bildung ausstatten. Andere Minister wiederum in den Ländern sehen das überhaupt nicht so. Da reißen Gräben auf über Parteigrenzen hinweg. Was ist Ihre Position?
Schavan: Für Kindergärten und Grundschulen wird in Zukunft vermutlich gelten: Es gibt Aufgaben am Bildungsort Kindergarten, die mehr voraussetzen als die jetzige Fachschulbildung ermöglicht, Bildungsprozesse anzuregen, zu begleiten. Gleichzeitig wird aber auch die Fachschulausbildung für die Erzieherinnen nicht überflüssig werden. Also es braucht eine Mischung, und es braucht vor allen Dingen für diejenigen, die zunächst über die Fachschule kommen, weitere Wege, um sich weiter zu qualifizieren - vielleicht auch bis zur Grundschullehrerin.
Boysen: Frau Schavan, wenn wir die Nächstälteren im Bildungssystem anschauen, die Schüler, dann kommen wir nicht drum rum, auch über die Dreigliedrigkeit zu reden. Wir haben ein wahres Puzzle von unterschiedlichen Schulformen in Deutschland. Dennoch ist die Dreigliedrigkeit immer wieder der Hauptstreitpunkt. Sie halten hartnäckig an der Hauptschule fest. Bei genauerer Betrachtung gibt es die Hauptschule ja schon fast gar nicht mehr. Die neuen Länder, insbesondere die bei Tests gern sehr erfolgreichen wie Sachsen oder Thüringen, haben eine zusammengelegte Haupt- und Realschule. Auch das schwarz-grün regierte Hamburg baut sein Schulsystem komplett um. Wieso halten Sie eigentlich an der Einrichtung Hauptschule fest und sagen, diese gilt es zu stärken?
Schavan: Ich bin für ein Bildungssystem der Vielfalt. Dazu gehören auch erfolgreiche Hauptschulstandorte. Wo Situationen entstanden sind, in denen wir sagen müssen, da sind sie nicht mehr erfolgreich, da ist eigentlich, weil zum Beispiel parallel auch noch Gesamtschulen da sind, eine Zersplitterung eingetreten, die die Hauptschule schon deswegen kaputt gemacht hat, da muss man sie im Zweifelsfall auflösen. Aber die generelle Diskussion der letzten Jahre, die eine ganze Schulart diskreditiert, hat der Hauptschule massiv geschadet - und nicht die Frage gestellt, wie sich eigentlich die Schüler damit fühlen oder die Lehrerinnen und Lehrer, die da arbeiten. Die Hauptschule hat in Wirklichkeit in den letzten Jahren die Hauptlast getragen bei spezifischen Aufgaben wie etwa der Integration. Stärken der Hauptschule heißt in der Tat, bei der Besoldung den Hauptschullehrer nicht an das Ende der Hierarchie zu stellen. Auch da gibt es erste Beschlüsse in den Ländern. Das sind zwei Maßnahmen, die zeigen, natürlich muss nicht festgehalten werden genau an dem, was ist, sondern jeder Hauptschulstandort muss einer sein, von dem die Eltern wissen, das ist eine Etappe, die nicht Sackgasse ist. Und dann ist es eine Entscheidung über Standorte und nicht über eine ganze Schulart.
Boysen: Sie sprachen von der Durchlässigkeit, die Sie erhöhen wollen. Sie wollen Hauptschülern helfen, auch in höhere Schulen - wie es früher so schön im Sprachgebrauch auch hieß - weiter zu gehen. Zunächst einmal muss es aber wohl darum gehen, die Schulabbrecherquote, die bei den Hauptschulen eklatant hoch ist, zu senken. Früher war von halbieren die Rede. Jetzt heißt es nur noch senken. Der Koalitionsausschuss hat sich jüngst darauf verständigt, es wird einen Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss geben. So hat es die SPD genannt. Sie waren stets dagegen. Nun hat hier der Koalitionsausschuss anders entschieden. Sie haben aus Koalitionsraison sozusagen eine Kröte schlucken müssen.
Schavan: Wir haben drei Abbrecherquoten, die jetzt im Blick sind: die Schulabbrecher, die Ausbildungsabbrecher, die Studienabbrecher. Darunter ist übrigens die Schulabbrecherquote die geringste. Alle drei sind aber zu hoch. Deshalb wird auch bei allen Dreien angesetzt, und was am Ende im Papier stehen wird, wissen wir erst am Mittwoch. Wir haben uns beim Rechtsanspruch geeinigt auf einen guten Kompromiss. Der Begriff signalisiert etwas, was ja gar nicht gemeint ist, sondern gemeint ist etwas, was ich eigentlich für selbstverständlich halte, dass wer nachholen möchte, dazu auch die Möglichkeit - auch finanziell - bekommt.
Boysen: Ich möchte hier eine kleine Zäsur machen. Mir ist aufgefallen, dass wenn immer Sie über die Ziele von Bildung sprechen, Sie gleichzeitig auch über den Arbeitsmarkt, über den ökonomischen Nutzen sprechen. Sie haben selber vom "Haus der kleinen Forscher" gesprochen, über naturkundliche Experimente im Kindergarten, und das eben in direktem Zusammenhang mit dem politischen Ziel, den Ingenieurmangel zu beheben. Was liegt dem eigentlich für ein Bildungsbegriff zugrunde? Geht das nicht ein bisschen weit?
Schavan: Nein. Ich komme von einem Bildungsverständnis, das ziemlich klassisch das einer Geisteswissenschaftlerin ist. Bildung betrifft den ganzen Menschen. Bildung betrifft Persönlichkeitsbildung, Herzensbildung. Bildung lässt sich nicht in Schulfächer packen, ist auch nicht die Frage primär der Organisation. Klassischerweise gilt der Satz: Der Mensch bildet sich selbst. Und das, was Institutionen können, ist gleichsam die Hilfe von außen bei diesem Prozess. Darüber kann ich ganz lange reden und philosophieren . . .
Boysen: So viel Zeit haben wir jetzt vielleicht nicht.
Schavan: . . . und das ist ein wunderbares Bildungsverständnis, zu dem ich stehe und das auch nicht verengt werden darf in den Institutionen, weshalb Musik, Theater und Kunst genau so wichtig sind wie Physik und Chemie. Nur, klar ist doch auch, wir reden nicht nur über ein sehr schönes Thema, wie manche dann sagen, einen weichen Faktor, sondern wir reden auch über einen sehr harten Faktor. Jugendliche, die den Eindruck bekommen, nicht gebraucht zu werden, nichts zu können, die haben nicht nur mit sich selbst ein Problem, das ist im Verständnis der humanistischen Bildung nicht in Ordnung, diese Jugendlichen allein zu lassen, sondern damit hat die Gesellschaft über kurz oder lang auch ein ökonomisches Problem. Ich verweise auf die ökonomische Dimension nicht zuletzt übrigens, weil wir längst auch wissen, dass es in dieser Gesellschaft Milieus gibt - Kinder und Jugendliche -, die den Eindruck haben, dass sie eigentlich nur abhängig sind vom Staat, von Transferleistungen. Das heißt, Bildung hat immer auch mit ökonomischen Fragen zu tun. Ein Bildungssystem muss ermutigen, aber es muss jedem, der Verantwortung trägt, auch klar sein, wir reden über einen in ökonomischer Hinsicht auch harten Faktor.
Boysen: Sie sprachen neulich davon, dass Sie sich ein System vorstellen könnten, wie in Zusammenarbeit mit den Agenturen für Arbeit und den späteren Arbeitsvermittlern oder Vermittlern von Ausbildungsplätzen für Siebtklässler Begabungsprofile erstellt werden. Ich weiß nicht, ob sie mit 13 schon wussten, dass Sie später Theologie studieren würden und ob Ihnen eine politische Karriere schon vorgeschwebt hat damals. 13 scheint doch ein bisschen sehr früh. Engt man nicht den Spielraum, den Jugendliche haben sollen und den ihnen die Schule auch gewähren sollte, viel zu stark ein? Vergibt sich hier die Volkswirtschaft, um wiederum ökonomisch zu sprechen, nicht eine Chance?
Schavan: Es geht bei diesem Schritt nicht darum, vorweg zu nehmen, welchen beruflichen Weg jemand geht, sondern wir brauchen zweierlei. Das eine ist das sogenannte Kompetenzprofil. Das heißt, in dem Alter, das jetzt auch bei PISA eine Rolle spielt im Blick etwa auf die große Risikogruppe der 25 Prozent, sagen Experten, ihr müsst euch mehr beschäftigen mit der Frage, was fehlt denn diesen Jugendlichen, um einen erfolgreichen Abschluss zu machen? Und die Lehrer und Lehrerinnen sind die ersten, die das bewerten können und die dann auch sagen können, was ist für diesen Jugendlichen wichtig. Daraus sind andere Bildungskonzepte entstanden. Wenn ich etwa denke an Kooperationsklassen, also Jugendliche, die nicht nur Schule haben, sondern Erfahrung in einem Unternehmen. Das zweite würde ich aber auch nicht unterschätzen. Psychologen sagen uns, Abbrecherquoten bei Ausbildung und Studium haben damit zu tun, dass Jugendliche zu wenig beraten sind und schlicht die falsche Wahl treffen. Dann lohnt es sich, vor Beginn eines Studiums oder einer Ausbildung vielleicht besser zu beraten, als wir das heute tun.
Boysen: Wir sollten neben den Schulen tatsächlich noch einmal die Hochschulen in den Blick nehmen. Bund und Länder hatten sich ja auf den Hochschulpakt I geeinigt. 90.000 zusätzliche Studienplätze sollte es geben. Der Bund gab dafür, wenn ich recht mich erinnere, 565 Millionen und die Länder sollten die Studienplätze einrichten. Es hat keine Bilanz gegeben. Welches Land also wie viele Studienplätze eingerichtet hat tatsächlich, das wissen wir so genau noch überhaupt gar nicht. Dennoch wird schon über einen Hochschulpakt II geredet. Sollte man nicht erst einmal eine Bilanz des ersten ziehen, bevor man über einen zweiten philosophiert?
Schavan: Nein. Der zweite ist zwingend, denn wir haben ja vereinbart, Hochschulpakt bis 2020. Dann wurde er konkretisiert für eine erste Phase, und jetzt geht es um die zweite Phase, wo ja übrigens gesagt wird, dass die Zahl der erwarteten Studienanfänger noch einmal deutlich höher ist als gedacht. Geld wird nur da bleiben, wo neue Studienplätze entstanden sind. Sollte also, wenn Bilanz gezogen wird - die erste Bilanz wird in den nächsten Wochen vorgelegt, und wenn die Bilanz über die gesamte Phase vorliegt und sich herausstellt, dass Länder Geld bekommen haben für Studienplätze, die nicht eingerichtet wurden, kommt das Geld zurück. Das ist ganz einfach so vereinbart.
Boysen: Können Sie schon sagen, welche Länder da zur Kasse gebeten werden?
Schavan: Nein, denn die Länder sagen mir, dass sie in dem Zeitraum bis zum Ende diesen Ausbau wollen. Würden sie es nicht tun, würde das ja auch bedeuten, dass es viele Bewerber um ein Studium gibt, die keinen Studienplatz bekommen. Das wäre ziemlich abenteuerlich in Zeiten, wo alle sagen, wir brauchen mehr Akademiker.
Boysen: Sie wollen auch zur Stärkung der Forschung vor allem die Exzellenzinitiative weiterführen. Gibt es da konkrete Vorschläge, wie das passieren soll?
Schavan: Die jetzige Exzellenzinitiative geht ja bis 2011. Ich finde wichtig, dass die Hochschulen auch erst mal auch Zeit bekommen, das, was sie an Konzepten haben, umsetzen zu können. Generell finde ich, dass diese Exzellenzinitiative so viel Dynamik ins System gebracht hat, dass in der Tat sie auch verstetigt werden soll. Darüber gibt es Konsens mit allen Ländern. Alle 16 Länder sagen, das ist ein wichtiger Impuls gewesen, das ist wichtig etwa, wenn man an Nachwuchsförderung denkt, die Graduiertenschulen, die Exzellenzcluster. Ob es diese drei Rubriken geben wird oder andere wird sich zeigen. Manche plädieren für die Stärkung der Lehre. Ich gehöre zu den Klassikern, die sagen, Forschung und Lehre sind die zwei Seiten der einen Medaille. Wir können also davon ausgehen, es wird auch in Zukunft diesen Impuls geben. Und über die konkrete Gestaltung wird im Laufe des nächsten Jahres gesprochen.
Boysen: Kann ich daraus schließen, wenn Sie sagen, Forschung und Lehre sind zwei Seiten der selben Medaille, dass Sie nichts von einer Exzellenzinitiative für die Lehre halten?
Schavan: Eine reine Exzellenzinitiative Lehre halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ob in einem neuen Ansatz für Exzellenzinitiative noch Impulse aufgenommen werden, die auch die Lehre betreffen, schließe ich nicht aus, so wie übrigens wir ja auch im Zusammenhang mit dem Bildungsgipfel über Exzellenzinitiative für Lehrerbildung sprechen, das heißt die besten Konzepte herausfinden. So etwas kann in einer nächsten Exzellenzinitiative durchaus eine Rolle spielen.
Boysen: Wenn man die Zahl der Studenten in Deutschland erhöhen will, dann stellt sich die Frage, wie sollen diese Studenten ihr Studium finanzieren. Wir haben einen steigenden Anteil von Akademikerkindern an den Hochschulen. Die Bafög-Empfängerzahl sinkt. Und jetzt gibt es eine Hiobsbotschaft, die erneut verbunden ist mit der Finanzkrise: Die staatliche Förderbank KfW verteuert die Kredite, die sie Studenten gibt. Sie hat die Zinsen für ihre Studienkredite erhöht. Sie sagen, das sei ein falsches Signal. Aber inwieweit können Sie eigentlich mehr tun als prüfen und bitten, den Zinssatz nicht zu erhöhen? Haben Sie nicht eigentlich ein Steuerungsinstrument aus der Hand gegeben?
Schavan: Zunächst wird die Zahl der Bafög-Empfänger deutlich steigen, denn wir haben eine Erhöhung der Freibeträge und der Förderbeträge wie seit vielen Jahren nicht mehr. Ein Drittel aller Studierenden erhält künftig Bafög. Was die Studienkredite angeht, das wird jetzt gerade verhandelt. Und im übrigen begrüße ich jede Initiative der Unternehmen in Deutschland – und die Zahl, derer, die es tun, steigt in der Tat –, die Stipendien anbieten. Das ist in vielen anderen Ländern selbstverständlich. Der Bund hat weitere Stipendien eingerichtet, erhebliche Steigerungen für die elf Begabten-Förderungswerke, Aufstiegsstipendien. Das heißt, weit über 90 Prozent aller Stipendien in Deutschland werden bundesseitig bezahlt. Und ich finde, jetzt ist auch Zeit für die anderen Akteure, zu überlegen, was sie tun können. Würden wir eine Bilanz ziehen, was mittlerweile in den Unternehmen geschieht, so gibt es einen guten Anfang. Aber das ist noch lange nicht genug.
Boysen: Frau Schavan, lassen Sie uns abschließend auf die große Koalition blicken. Angela Merkel und Peer Steinbrück, die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin und der sozialdemokratische Finanzminister, haben in der Finanzkrise den Schulterschluss demonstriert. Jetzt aber formiert sich die SPD neu und es heißt schon jetzt vom neuen SPD-Vorsitzenden, er werde jetzt mal ganz andere Töne anschlagen. Und auch in der CSU wird es Veränderungen geben. Wenn nämlich Horst Seehofer nach München geht, dann wird sein Platz ja vakant. Was bedeutet das für das Klima der großen Koalition etwa ein Jahr vor der Bundestagswahl?
Schavan: Die in dieser Koalition am Kabinettstisch Verantwortung tragen, werden auch in den nächsten Monaten das tun, was bei vielen Themen, zuletzt der Finanzkrise, deutlich geworden ist, diese Zeit nutzen, um das Land voran zu bringen.
Boysen: Erwarten Sie keinen Klimawandel?
Schavan: Ich erwarte, dass die, die zusammen arbeiten, auch in diesen nächsten Monaten gut zusammen arbeiten. Und natürlich gilt für alle Partner in der Koalition, dass sie sich gleichzeitig auf den September des nächsten Jahres vorbereiten. Und da geht man nicht in Koalitionen in Wahlkämpfe, sondern jeder geht für sich. Und das eine zu tun ohne das andere zu lassen wird die Kunst des Politischen sein. Gerade in so einer ernsten Situation wie jetzt tun wir gut daran, ernsthaft in der Sache weiter zu arbeiten und gleichzeitig so viel Professionalität zu haben, dass wir uns auch auf September 2009 vorbereiten.