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Das Wunder von Helsinki (5/5)
"Immer nett Richtung Moskau winken"

Die Schlussakte von Helsinki hat bis heute nichts an inhaltlicher Aktualität eingebüßt - sie wächst sogar im Zeichen der neuen politischen Verhärtungen zwischen Ost und West. Für Finnland stellt sich heute mehr denn je die Frage, welche Sicherheit das traditionelle Modell der Neutralität noch bietet.

Von Jenni Roth | 27.07.2018
    Präsident Wladimir Putin, Mitte, steht mit US-Präsident Donald Trump, First Lady Melania Trump, links, und dem finnischen Präsidenten Sauli Niinisto und seiner Frau Jenni Elina Haukio zu Beginn eines Gipfeltreffens im Präsidentenpalast in Helsinki
    Helsinki gilt weiter als symbolträchtiger Ort: Im Juli trafen sich dort Putin und Trump zum Gipfeltreffen und wurden von Präsident Sauli Niinistö begrüßt (imago / Sheala Craogjead)
    Die Moskwa-Bar im Zentrum von Helsinki. Gegründet von den Regisseuren Aki und Mika Kaurismäki, die bekannt sind für ihre sehr finnischen, sehr melancholischen Filme, in denen viel finnischer Tango gespielt wird. Aber in der Bar läuft kein Tango – sondern russische Polka. Finnische Gäste, russische Musik – das geht hier ganz gut zusammen.
    Die Balance zu halten zwischen Ost und West: Das ist auch die Rolle Finnlands in Europa – und ein Erbe von Langzeitpräsident Urho Kekkonen. Allerdings ein umstrittenes Erbe, sagt der Russland-Experte Arto Luukkanen:
    "Wenn du am Fuß des Vesuv lebst und weißt, da kommt immer mal heiße Lava, dann musst du dir dessen bewusst sein. Und damit umgehen. Von außen wurde das oft kritisiert, nach dem Motto: Finnland, so ein Vorbildland, und unterwirft sich der Sowjetunion."
    Osthandel spielt bis heute wichtige Rolle
    Diese sogenannte Finnlandisierung war nicht ganz uneigennützig: Urho Kekkonen war im Grunde seines Herzens nicht nur ein konservativer Antikommunist - sondern ganz finnisch pragmatisch: Dank seiner Annäherungspolitik ging es der Wirtschaft gut: Der Osthandel spielte – und spielt – für Finnland bis heute eine wichtige Rolle. Vor allem aber: Sein Land wahrte so seine Unabhängigkeit. Und bewies mit der KSZE der Welt mitten im Kalten Krieg: Wir sind neutral.
    Arto Luukkanen: "Die Sowjetunion versuchte weiter, Einfluss in Finnland zu nehmen. Es war ein großes Ringen um die finnische Seele: Wollen wir den Sozialismus? Die meisten wollten es nicht. So wie jetzt: Die Finnen mögen die EU, aber eine europäische Föderation - bitte nicht. Da ist so ein ähnliches Verlangen, unabhängig zu sein und das finnische Projekt fortzuführen."
    Finnland muss weiter ausgleichen
    Der Kalte Krieg ist zwar vorbei. Aber die Ost-West-Beziehungen sind so schlecht wie nie seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Und auch, wenn es nicht mehr um ideologische Fragen geht, sondern um klassische Machtpolitik: Finnland muss weiter ausgleichen.
    Arto Luukanen: "Wir müssen immer nett Richtung Moskau winken. Gleichzeitig sind wir EU-Mitglied und müssen nach deren Regeln spielen. Man will ein Streber in der EU sein, schade nur, dass man keine Smileys kriegt als Musterschüler. Die Finnlandisierung setzt sich sozusagen von Moskau nach Westen fort: Es gibt eine Berlinisierung, also man ordnet sich Deutschland unter, und natürlich eine Brüsselisierung."
    Russland-Sanktionen treffen Finnlands Wirtschaft
    Und das, obwohl die Russland-Sanktionen im Zuge der Ukraine-Krise vor allem Finnlands Wirtschaft hart treffen. Doch laut Umfragen pochen zwei Drittel der Finnen weiter auf ihre Neutralität. Wegen der guten Wirtschaftsbeziehungen mit Russland, des regen Grenztourismus und der Abhängigkeit von russischem Gas. Und weil sie nie wieder gegen den Nachbarn kämpfen wollen: Im Zweiten Weltkrieg mussten Hunderttausende Finnen im Kampf mit der Roten Armee ihr Leben lassen.
    Arto Luukkanen: "Aber Russlands Politik ist aggressiver geworden und unvorhersehbar. Putin spielt mit den Regeln des Kalten Krieges: Wenn der Westen die Ukraine kriegt, wollen wir auch was. Er lebt noch in der Welt, wo es zwei Blöcke gibt, wie in der Wagnerischen Götterdämmerung, alle Macht liegt bei Putin. Problem: Wenn es dieses Zentrum nicht mehr gibt, dann geht die größte Zerstörung los."
    Als im Zuge der Krim-Krise russische Jagdbomber in den finnischen Luftraum eindrangen, fürchteten viele, Russland könnte versuchen, seine Machtsphäre auch nach Westen auszudehnen. An einen Einmarsch nach Finnland glaubte der Russlandexperte und Buchautor Markku Kivinen allerdings nicht. Sein schmales Büro ist eingerahmt von Regalwänden voller Bücher. Von hier leitet er das russlandfreundliche Aleksanteri-Institut:
    "Russland würde nicht seine Armee nach Finnland schicken. Nach Finnland kann man nicht einfach einmarschieren wie in die Ukraine."
    Schlussakte von Helsinki gewinnt wieder an Aktualität
    Die Ukraine-Krise hat einen Keil in die finnisch-russischen Beziehungen getrieben, die Neutralität wankt. In Finnland hat es gemeinsame Manöver mit US-Streitkräften gegeben. Und ausgerechnet die europaskeptischen "Wahren Finnen" gaben eine Studie über den möglichen NATO-Beitritt ihres Landes in Auftrag. Eine NATO-Mitgliedschaft würde heißen: die längste Grenze Russlands mit Europa würde zur NATO-Grenze – ein bedrohliches Szenario für Russland. Aber das gilt politisch als so gut wie unmöglich.
    Nur: Da sind ja noch Lettland, Estland, Litauen – ehemalige Sowjetrepubilken und heute NATO-Mitglieder. Sollten NATO und Russland sich bekämpfen – bliebe Finnland dann neutral?
    Markku Kivinien: "Wenn Finnland in einen internationalen Konflikt geraten würde, dann stünde es auf der Seite der NATO."
    An dieser Stelle gewinnt die Schlussakte von Helsinki wieder Aktualität: Mit der Annexion der Krim hat Russland das Abkommen gebrochen: Es hat Grenzen verändert – nicht friedlich, sondern mit Waffengewalt. Während Helsinki weiter als symbolträchtiger Ort gilt: Im Juli trafen sich Putin und Trump in Helsinki.
    Finnlands Präsident Sauli Niinistö sagte, er wolle den Dialog in den internationalen Beziehungen fördern – die Entspannung sei im Interesse aller. Vielleicht hat er seine Gäste auch daran erinnert, dass die Vereinbarungen von damals bis heute gelten und Grundlage für funktionierende internationale Beziehungen sind: Der Gewaltverzicht, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Wahrung der Menschenrechte.