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Das Zauberwort heißt Ganzheitlichkeit

Das Wiener Jüdische Museum hat es sich ausdrücklich zur Aufgabe gemacht, bedeutende kulturelle Leistungen vergessener, teilweise bis heute aus dem Bewusstsein verdrängter Persönlichkeiten jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft neu zu entdecken. Das jüngste Beispiel ist eine Ausstellung über den österreichisch-amerikanischen Mediziner, Psychoanalytiker und autodidaktischen Biologen Wilhelm Reich.

Von Beatrix Novy |
    Die neuzeitliche Wissenschaft war immer begleitet von ihren verdächtigen Unterströmungen: Während zum Beispiel die Medizin sich durchaus dankenswerterweise auf einzelne Arbeitsgebiete, also Knochen, Blutkreislauf, Organe etc. spezialisierte, führte sie sozusagen unter Deck einen bunten Oppositionstross mit, die alternative Heilkunde, die sich bis heute publikumswirksam der Kränkung des in seine Einzelteile zerlegten Menschseins widersetzt, das Zauberwort heißt Ganzheitlichkeit. Ein holistischer Ansatz wird auch dem quertreibenden Mediziner, Psychoanalytiker und autodidaktischen Biologen Wilhelm Reich bescheinigt, dessen Name nie ganz unterging, der aber doch weitgehend den Spezialisten und Anhängern, den Reichianern eben gehörte.

    Das Jüdische Museum kann jetzt seine Geschichte und Theorie vor größerem Publikum ausbreiten; mit bisher unbekannten Dokumenten, die in einer klaren und unprätentiös gestalteten Ausstellung zu ihrem Recht kommen.

    Hier kann man sich fest lesen, allein schon an der Korrespondenz mit Sigmund Freud, dem Gründervater, der den jungen, noch nicht examinierten Studenten Wilhelm Reich aufnahm und förderte. Freuds brieflicher Tonfall, immer respektvoll bis herzlich, gewinnt mit der Zeit, namentlich nach der Lektüre von Reichs Manuskript "Die Funktion des Orgasmus", dann doch eine Gereiztheit, die den zunehmenden Konflikt der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung mit Wilhelm Reich verrät - bis zum offiziellen Ausschluss 1934.

    Viele Fotografien zeigen Wilhelm Reich mit Freunden, Kollegen und mit seiner Frau Annie Reich; Bilder einer aufbruchgestimmten intellektuellen - und immer fesch angezogenen - Gruppe im Roten Wien der 20er Jahre, das die Reform aller Lebensbereiche der werktätigen Bevölkerung zum praktischen Programm gemacht hatte, von der Gesundheit bis zum Wohnungsbau; Annie Reich, die mit Broschüren und Kursen Sexualaufklärung betrieb, war hier keine Ausnahmeerscheinung. "Haben Sie sich selbst befriedigt - in welchem Alter?" will der Fragebogen der Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung wissen, und dass man das Jahr 1930 schreibt, belegt die Frage "Leiden oder litten Sie an seelischen Störungen - Homosexualität?"

    Die Suche nach dem Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Schädigung brachte Wilhelm Reich auch darauf, die beiden einflussreichen Theorien Psychoanalyse und dialektischen Materialismus zu verpaaren, ein was seinen Namen und sein Buch "Massenpsychologie des Faschismus" später in der Studentenbewegung neu zu Ehren brachte. Übrigens hat Reich sich auch in Parteifragen nie vereinnahmen lassen: Zwar verließ er Anfang der 30er Jahre die Sozialdemokratie wechselte zu den Kommunisten - das denkwürdige Protokoll eines Parteiabends gibt in der Ausstellung Zeugnis davon - aber sein Diktum vom "roten Faschismus" zeigt unmissverständlich, was er von Stalin hielt.

    In den 30er Jahren führte Reichs Weg über Berlin und Kopenhagen nach Amerika - seine erste Familie ließ er hinter sich, eine Gelegenheit, an die traurige Geschichte seiner eigenen Kindheit zu denken, an die Mutter, die sich umbrachte, und den Vater, der wenige Jahr später starb. Reichs Interesse verlagert sich immer mehr auf seine biologischen Forschungen, auf die Entschlüsselung der Lebensenergie, die er zuerst im Orgasmus entdeckte, "die biologische Ur- und Grundfunktion, die der Mensch mit allem Lebendigen gemeinsam" habe. Die Biologie, muss man dazu sagen, war damals noch eine Freistil-Wissenschaft, an der viele sich beteiligten; in der Festigung des Mainstreams wurden Wilhelm Reichs - und nicht nur seine - Ideen und Experimente in die Kategorie der Seiten- und Irrwege verwiesen. Dass die Wissenschaft sich von ihm entfernte und vice versa, hinderte ihn nicht an der Fortführung seines Unternehmens, das u.a. die berühmten Orgon-Kisten hervorbrachte, die in manchen Studentenwohngemeinschaften der 70er vorübergehend zu neuen Ehren kamen. Zu dieser Zeit war Reich schon lange tot.

    Den Vertrieb seiner Orgon-Akkumulatoren hatte die amerikanische Justiz zum Anlass genommen, ihn wegen unlauterer Geschäftspraktiken den Prozess zu machen; er starb am 3. November 1957 in der Bundeshaftanstalt Lewisburg, für die einen ein irrer Düsentrieb, der mit Orgon-Energie Gewitter verursachen wollte, für die anderen ein Ketzer und Märtyrer, der dem Kartell kapitalistischer Wissensorganisation ein Dorn im Auge war.