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Das Zeitalter der Nervosität

Joachim Radkau entwirft ein Panorama der Gesellschaftsgeschichte, indem er die verblüffende Karriere eines zugleich medizinischen und kulturellen Phänomens, der Neurasthenie oder Nervosität, in der wilhelminischen Ära nachzeichnet. Dieses Phänomen bildete damals einen regelrechten "Nervendiskurs" mit erheblichen politisch-therapeutischen Folgen. Als die erste blutige Therapie dieser kollektiven Neurasthenie, die damals sowohl als Nervenschwäche wie als Nervenüberreizung verbreitet war, sieht Radkau das berüchtigte "Stahlbad" des Ersten Weltkriegs an; und danach habe der Nationalsozialismus später seinen Massenerfolg vor allem durch das anti-nervöse Programm gefeiert, mit Ideologien wie der vom "Triumph des Willens" Heilmittel gegen diese seltsame deutsche Zivilisationskrankheit zu versprechen.

Uwe Pralle |
    Radkau hat also dort, wo Historiker vorher nach politischen Motiven für die "Kriminalgeschichte" der Entstehung des Ersten Weltkriegs gesucht haben, eine Art vorpolitischer Stimmungslage rekonstruiert. Die diffusen Schwächen, Überreizungen und Ängste der Nervosität sollen nicht nur die wilhelminische Weltmacht-Politik, also das deutsche Streben nach dem berühmten "Platz an der Sonne", als Fluchtversuch aus den nervösen Leiden erklären, sondern auch verständlich machen, warum der Krieg, in den die Nervosität habe hineinschlittern lassen, zuerst geradezu als Erlösung empfunden wurde. Spannend an diesem Ansatz ist zweifellos, wie Radkau die komplexe und verblüffend schnelle Ausbreitung dieses Nervendiskurses im Kaiserreich seit 1880 zeigt, als der New Yorker Arzt George M. Beard mit dem neuen Begriff der Neurasthenie das Stichwort gab.

    Offenbar hat dieses von den Symptomen her ziemlich diffuse Krankheitsbild einem ganzen Spektrum von Zivilisationsleiden, die im Kaiserreich grassierten, einen Namen gegeben: Krankheiten, die damals im Gefolge der neuen Technik auftraten, Überforderungsgefühlen und Versagensängsten durch die Beschleunigung der Moderne, aber auch allerlei Ängsten, die von der damaligen Sexualmoral ausgelöst waren. Außerdem scheint es in der wilhelminischen Gesellschaft ein quer durch alle Klassen reichendes Bedürfnis gegeben zu haben, sich am modernen Leben erkrankt zu fühlen. Den schmalen Grat der Gesundheit, auf dem sich in jener Ursprungszeit des modernen Tempos das Leben bewegte, zeigen etwas holprig Otto Erich Hartlebens Verse: "Raste nie, doch haste nie, sonst haste die Neurasthenie."

    Radkau beleuchtet durch diesen "Nervendiskurs" eine bisher vernachlässigte Seite des Kaiserreichs, nämlich seine sanfte, vom Leidensdruck der Moderne geprägte Seite - jene Befindlichkeiten also, die unter der martialischen Pickelhaube dieser Gesellschaft steckten und noch Protagonisten wie Wilhelm II. oder den Generalsstabschef Moltke als neurasthenisch zerrissene Charaktere zu erkennen geben. Im übrigen entwirft Radkau dieses andere Bild vom Kaiserreich mit häufigen Seitenblicken auf die Bundesrepublik vor allem seit den 60er Jahren, deren "sanfte" Seite er als späte Fortsetzung dieser eher zivilgesellschaftlichen Tendenzen des Kaiserreichs sieht - und die ja in den letzten Jahren unter dem Vorzeichen globaler Konkurrenzkämpfe von Propagandisten einer neuen Härte in ähnlichen Spiralen wie vor 1914 als Republik der Softies verspottet wird.

    Das alles sind zweifellos spannende Hinweise und bedenkenswerte Diagnosen - nur wiegen sie die problematischen Seiten von Radkaus Buch nicht auf. Sein Hauptproblem ist, daß es diesen "sanften" Nervositäts-Diskurs nicht präzise genug mit dem anderen Gesicht des zutiefst janusköpfigen deutschen Kaiserreichs verknüpft hat, zu dem ebenso diktatorische Züge, Machtbesessenheit, preußische Härte und der entsprechende Untertanengeist gehörten. Dieser Nervendiskurs mag als Folge der Modernisierungschocks nach der Reichsgründung zwar "sanft" gewesen sein, bildete so aber auch gerade den Nährboden des deutschen Unbehagens an der modernen Zivilisation, das im Namen der bedrohten deutschen Kultur ja gerade den Ersten Weltkrieg zu rechtfertigen half. Es wäre interessant gewesen, ob die Neurasthenie in Frankreich, England oder den USA, woher der Terminus gekommen war, in ähnliche Nervendiskurse auswucherte. Solche Vergleiche, die bei Radkau höchstens beiläufig anklingen, hätten Aufschluß geben können, ob der Nervendiskurs im Kaiserreich seine politische Brisanz nicht erst durch die eigentümlichen deutschen Weltmachtsambitionen erhielt, die erstmals Fritz Fischer vor fast vierzig Jahren unter die Lupe nahm. Joachim Radkaus Buch läßt jedenfalls bei der Frage ziemlich ratlos, woher in dieser vor allem mit Nerventherapien beschäftigten Gesellschaft eigentlich der verhängnisvoll "eiserne" Wille etwa zur Flottenrüstung und schließlich zum Krieg gekommen sein sollte. Um das zu verstehen, müßte allerdings jene strukturelle Gesellschaftsgeschichte, wie sie Radkau einleuchtend betreibt, stärker mit den "klassischen" Sparten der Institutionen-, Wirtschafts- und Staatsgeschichte verbunden werden.