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Das Zeitalter des Völkermordes

"Wir erleben ein Verbrechen ohne Namen", beschrieb Winston Churchill 1941 das Morden deutscher Polizeieinheiten in Russland. Ein Verbrechen ohne Namen sollte es nicht lange bleiben: Völkermord. Millionen Menschen fielen im 20. Jahrhundert Genoziden zum Opfer.

Von Jürgen Zimmerer | 29.08.2010
    Das 20. Jahrhundert war das blutigste in der Menschheitsgeschichte. Leider ist die Diskussion über die Ursachen, Manifestationen und Konsequenzen politischer Gewalt allzu oft auf den eigenen Nationalstaat verengt worden. Unsere fünfteilige Serie befasst sich deshalb mit der politischen Gewalt im 20. Jahrhundert in einem europäischen Kontext. Nach Beiträgen über den Terrorismus, die Novemberrevolution und den Zweiten Weltkrieg hören Sie in der vierten Folge einen Essay von Jürgen Zimmerer über das "Zeitalter des Völkermordes". Der Historiker ist Hochschullehrer für Globalgeschichte an der Universität Sheffield. Ab dem Wintersemester 2010 lehrt er Afrikanische Geschichte an der Universität Hamburg.


    Das Zeitalter des Völkermordes
    Von Jürgen Zimmerer

    Das 20. Jahrhundert sah politische und kriegerische Gewalt ungeahnten Ausmaßes. Niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte kamen in kürzerer Zeit mehr Menschen gewaltsam ums Leben als in den fünf Dekaden zwischen 1900 und 1950. Zwei Weltkriege forderten Millionen und Abermillionen von Opfern. Nur der geringere Teil von ihnen starb jedoch als unmittelbare Konsequenz der Kampfhandlungen. Selbst wenn man die Toten der Bombenkriege zu Letzteren dazurechnet, - die meisten der Toten kamen höchstens mittelbar aufgrund des Krieges ums Leben. Sie verhungerten und verdursteten oder gingen an Krankheiten zugrunde, die vom Krieg verursacht oder zumindest deswegen nicht adäquat behandelt werden konnten. Millionen fielen zudem einem Verbrechen zum Opfer, für das man bis Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt keinen Begriff hatte: Genozid.

    Es war kein Geringerer als der britische Premierminister Winston Churchill, der bereits 1941 den vermeintlich neuen Charakter der deutschen Kriegsführung in Worte zu fassen versuchte:

    "Der Aggressor (...) schlägt mit schrecklichsten Grausamkeiten zurück. Beim Vorrücken seiner Armeen werden ganze Distrikte ausgerottet. Tausende - buchstäblich Tausende Exekutionen werden von deutschen Polizeieinheiten kaltblütig an russischen Patrioten, die ihr Vaterland verteidigen, durchgeführt. Seit dem Mongolensturm auf Europa im 16. Jahrhundert gab es keine methodische, gnadenlose Schlächterei auch nur annähernd dieser Größenordnung. (...) Wir erleben ein Verbrechen ohne Namen."


    Ein Verbrechen ohne Namen sollte es nicht lange bleiben. Nur drei Jahre später schuf der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin den Begriff "Genozid", zusammengesetzt aus dem griechischen "Genos" (Stamm, Volk) und dem lateinischen "caedere" töten. Damit sollte er dem Unbeschreiblichen, der intendierten, vollkommenen Zerstörung eines Volkes oder eines Stammes, einen Namen geben. Was damit gemeint war, beschrieb er in seiner klassischen Studie "Axis Rule in Occupied Europe" aus dem Jahr 1944 so:

    "Neue Konzepte bedürfen neuer Begriffe. Unter 'Genozid' verstehen wir die Zerstörung einer Nation oder einer ethnischer Gruppe. (...) Prinzipiell bedeutet Genozid nicht unbedingt die unmittelbare [physische] Vernichtung, außer wo es sich um den direkten Massenmord an allen Mitgliedern einer Nation handelt. Es soll vielmehr einen koordinierten Plan verschiedener Aktionen meinen, welche auf die Vernichtung zentraler Grundlagen des Lebens nationaler Gruppen zielen, ausgeführt mit dem Ziel der Vernichtung der Gruppen an sich."

    Nicht jede Zerstörung oder jedes Massaker war demnach Genozid. Der Schlüssel lag nach Lemkin darin, dass es sich um die bewusste Zerstörung der Lebensgrundlagen einer bestimmten Gemeinschaft handeln musste, wie er sie etwa bei dem nationalsozialistischen Versuch der Vernichtung des Judentums zweifellos als gegeben ansah.

    Es war jedoch nicht nur die Analyse der nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Osteuropa, die ihn von einem historischen Verbrechen ganz eigener Dimension sprechen ließ. Auch das Studium der Geschichte hatte ihn gelehrt, dass es einen Typ kollektiven Verbrechens gab, der mit dem traditionellen Völkerstrafrecht nicht zu fassen war.

    Unermüdlich warb er deshalb im amerikanischen Exil für die Anerkennung von Genozid als Straftatbestand im internationalen Recht. 1948 feierte er zumindest einen Teilerfolg, als die gerade gegründeten Vereinten Nationen eine eigene Genozidkonvention verabschiedeten. Darin erklärten sie Genozid zum Verbrechen und definierten es als

    "eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". "

    Kritiker haben seitdem immer wieder auf die Unvollkommenheit der UN-Genozid-Konvention hingewiesen, und während des Kalten Krieges war ihre Anwendung auch weitgehend blockiert. Mit Beginn der 1990er Jahre erfüllt sie jedoch zumindest teilweise ihre Funktion und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat 2001 auch erstmals einen Angeklagten, den serbisch-bosnischen General Radislav Krstic, des Völkermords für schuldig befunden.

    Mit der Ausstellung des internationalen Haftbefehls wegen Völkermordes gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir aus dem Jahr 2009, 2010 wurde zudem signalisiert, dass auch Staatsoberhäupter nicht länger sicher sein können vor internationaler Strafverfolgung.

    Das 20. Jahrhundert jedenfalls endete, so wie es begonnen hatte, mit Völkermord. Steht die sudanesische Provinz Darfur für den letzten des vergangenen Jahrhunderts, so Südwestafrika für den ersten. Dort hatten deutsche Kolonialtruppen zwischen 1904 und 1908 Herero und Nama bekämpft und auszulöschen versucht. Zwischen beiden Ereignissen lagen der Völkermord an den Armeniern, der Holocaust, der Genozid in Ruanda, aber auch die große Hungersnot in der Ukraine, die Verbrechen der Roten Khmer in Kambodscha oder die so genannten jugoslawischen Erbfolgekriege.

    Auch wenn der Begriff "Völkermord" erst Mitte des letzten Jahrhunderts geprägt wurde, das Phänomen selbst gab es schon viel länger. Ob es sich dabei um eine "conditio humana" handelt, eine menschliche Grundkonstante, oder ob es sich um ein spezifisch modernes Verbrechen handelt, ist umstritten. Für beides spricht einiges, jedoch weist die Zunahme genozidaler Gewalt im 20. Jahrhundert auf einen zumindest intensivierenden Einfluss der Moderne hin. Denn mochte etwa auch die römische Zerstörung Karthagos genozidale Merkmale aufweisen, wie manche Völkermord-Forscher meinen, so war der Zweck wohl eher die Bestrafung eines besonders unbotmäßigen und lästigen Gegners und gleichzeitig Abschreckung für andere.

    Die Motive in der Moderne sind dagegen andere, vielleicht machen sie erst Massenmord zum systematischen Völkermord, jenseits aller äußerlichen Ähnlichkeiten. Denn entgegen der häufig anzutreffenden Vorstellung, Genozid sei ein atavistisches, ein anti-modernes Verbrechen, irrational in seiner an Besessenheit erinnernden Absolutheit, ist das Gegenteil richtig. Es ist modernes und rationales Denken, das Genozid befördert. Das Zeitalter der Aufklärung brachte schließlich nicht nur den Triumph der Vernunft, sondern auch den der Klassifikation. Alles sollte erklärt, in Tabellen und Stammbäume eingetragen werden. Genau wie Pflanzen und Tiere wurden nun auch Menschen klassifiziert, Grenzen zwischen angeblich unvereinbare "Rassen" gezogen. Besonders deutlich wurde dies im europäischen Kolonialismus. So schrieb etwa der protestantische Missionar Wandres zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der deutschen Kolonie Südwestafrika:

    " "Die Mischehen sind nicht nur unerwünscht, sondern geradezu unmoralisch und geben dem Deutschtum einen Schlag ins Gesicht. (...) Mischehen sind stets eine Versündigung an dem Rassenbewusstsein. (...)

    Was die Mischlinge betrifft, so müssen wir nach reichlicher Erfahrung sagen, dass sie ein Unglück für unsere Kolonie sind. (...)"

    Wo Grenzen und Unterscheidungsmerkmale jedoch absolut gesetzt werden, wird das Hybride, das Nicht-Eindeutige zur Gefahr, zur Herausforderung für das System an sich. In Deutsch-Südwestafrika gab es deshalb ein Verbot von "Mischehen".

    Und 1935 sollte das Dritte Reich im "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", einem der "Nürnberger Gesetze" festlegen:

    "§1
    1. Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Auslande geschlossen sind. (...)
    §2
    Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten."

    Es ging aber nicht nur um Trennung scheinbar unvereinbarer "Rassen". Von der Überzeugung der Europäer und zunehmend auch der europäischstämmigen Nordamerikaner von der eigenen Fortschrittlichkeit war es nur ein kleiner Schritt, den ‚Rassen' auch unterschiedliche Entwicklungsstufen zuzuordnen. Der britische Schriftsteller Anthony Trollope etwa sah die australischen Aborigines als "unheilbar wild" und für die moderne Welt der 1870er Jahre unbrauchbar an. Unumwunden konstatierte er:

    "Es ist ihr Schicksal unterzugehen, und sie sind bereits dabei zu verschwinden."

    Während diese genozidale Logik vor allem in den europäischen Siedlungskolonien zum Tragen kam, gegen Außengruppen gerichtet, leitete der radikale Nationalismus diese exterminatorische Logik auch nach innen. Dieser propagierte in seiner radikaleren Form das Ideal der völlig homogenisierten Nation. Abweichungen galten als negativer Störfaktor, sogar als Gefahr, zumal in einem sozialdarwinistischen Weltverständnis. Dessen Anhänger gingen davon aus, dass sich als rassische Gemeinschaften verstandene Nationen in einem permanenten Kampf aller gegen alle befanden, bei dem es nur das Überleben der Besten und Stärksten geben würde.

    Der Soziologe Zygmunt Bauman hat den modernen Staat dementsprechend als den gärtnernden Staat beschrieben, der alles Unkraut aussortieren, ja vernichten würde, um einen gleichförmigen Staatskörper zu erzielen.

    "Der moderne Genozid verfolgt ein höheres Ziel. Die Beseitigung des Gegners ist ein Mittel zum Zweck, eine Notwendigkeit, die sich aus der übergeordneten Zielsetzung ergibt. (...) Es ist die Vision des Gärtners, nun allerdings über die ganze Welt gehegt. (...) Dieser Gärtner hasst das Unkraut, das Hässliche inmitten des Schönen, die Unordnung inmitten der Ordnung (...) Nicht als solches muss das Unkraut ausgerottet werden, sondern weil es die schöne Ordnung des Gartens verhindert."

    Bauman zufolge ist Genozid also nicht ein Rückfall in die Barbarei der Vergangenheit, sondern Konsequenz der Moderne.

    Und in der Tat zeigt sich dies deutlich etwa im Völkermord des spätosmanischen Reiches an den Armeniern. War das Osmanische Reich über Jahrhunderte für seine Toleranz berühmt, so sollte nun das Reich zum Zeitpunkt der Krise und des Niederganges des "Kranken Mannes am Bosporus" im nationalistischen Sinne umgestaltet werden. 1908/09 putschte sich das radikal-nationalistische "Komitee für Vereinigung und Fortschritt" (CUP), die sogenannten "Jungtürken" in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, an die Macht. Im Ersten Weltkrieg wurden dann nicht nur Sündenböcke benötigt für militärische Niederlagen, sondern er bot auch die Gelegenheit zur Umsetzung radikalster Ideen.

    Ab dem 25. April 1915 begannen die Behörden zunächst, die armenische Intelligenz zu ermorden. Bald darauf kam es zu breit angelegten Deportationen und Todesmärschen der gesamten armenischen Bevölkerung, offiziell weil sie sich mit dem Kriegsgegner Russland verbündet hätten. Genaue Opferzahlen sind nicht bekannt, doch ist davon auszugehen, dass zwischen einer und eineinhalb Millionen Armenier ihr Leben verloren.

    Die Zwangsdeportationen glichen meist eher Todesmärschen, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Sicherlich wurden einige Kinder und junge Mädchen von Osmanen gerettet, teils zu Ehefrauen gemacht, teils als Hauspersonal verwendet, der überwiegende Teil verreckte jedoch elendiglich auf dem Weg zur oder in der syrischen Wüste:

    "Sie waren müde, kranke, hungrige, geprügelte, schmutzige, verlauste, furchtsame, gejagte, mutlose Geschöpfe, die am nächsten Tag weitergetrieben wurden... ohne zu wissen, wohin sie gingen oder wann das Ende kommen würde. Die Regierung hatte den Plan, dies weiterzuführen, bis der Letzte gefallen war."

    Immer wieder fällt die Biologisierung der Sprache und der Vorstellung in der Vorbereitung vieler Völkermorde auf. Minderheiten werden als mit der Mehrheitsgesellschaft unvereinbare Fremdkörper gesehen, als Parasiten und Bazillen, klein aber gefährlich. So schrieb etwa Adolf Hitler in "Mein Kampf" über die Juden:

    "Der Jude ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt."

    So wurden aus Mitmenschen absolut Andere, mit dem Eigenen Unvereinbare, wobei die Definitionsmacht, wer zur Opfergruppe gehörte, immer bei der Mehrheitsgruppe lag. Sie entschied, wer zur Gemeinschaft gehörte und wer nicht. Und wer die anvisierte Reinheit störte, musste entfernt, ja vernichtet werden.

    Vor der Blüte des Rassismus war Religion das wohl entscheidende Konkurrenzkriterium, die Kriege und Bürgerkriege um den rechten Glauben zeigten die entsprechende Brutalität. Die Inquisition und ähnliche Instrumente zur Aufspürung der ‚Anderen' stehen für den Aufwand, die eigene Gemeinschaft rein zu halten.

    Trotzdem gab es einen entscheidenden Unterschied zu den Genoziden des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts. Die Kategorisierung Gläubiger - Ungläubiger, Christ - Heide und so weiter war nicht unüberbrückbar. Zumindest theoretisch gab es die Möglichkeit der Konversion, und viele nutzten sie. Dies führte sicherlich zu einer Verletzung des Rechtes auf freie Religionsausübung, aber das schiere (Über-)leben sicherte es. Im Genozid galt dies nicht mehr.

    Ein Überschreiten, ein Wechsel von einer Gruppe zur anderen, war ausgeschlossen. Auch das macht Genozid zu einem besonderen Verbrechen. Die Opfer hatten keine Wahl. Genozid ist eben ein Verbrechen eines Kollektivs an einem anderen, wie schon Lemkin schrieb:

    "Genozid richtet sich gegen die nationale Gruppe als Gruppe, und die getroffenen Maßnahmen richten sich gegen die Individuen nicht in ihrer individuellen Eigenschaft, sondern als Mitglieder der nationalen Gruppe."

    Deutschland war im Zeitalter des Völkermordes gleich zweimal unrühmlich beteiligt. Zehn Jahre vor dem Völkermord an den Armeniern war es in der deutschen Kolonie Südwestafrika zum ersten Genozid des Jahrhunderts gekommen. Er speiste sich zum einen aus der Rassenideologie des 19. Jahrhunderts, stand aber auch in der Tradition der kolonialen Völkermorde in den Siedlerkolonien.

    1884 hatte auch das Deutsche Reich eine Siedlerkolonie gegründet, Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia. Ein gelobtes Land für Deutsche, eine ideale Kolonie sollte dort entstehen, mit deutschen Auswanderern als Herrenrasse und den ursprünglichen Bewohnern als dienender Kaste. Da die Afrikaner ihrer zunehmenden Entrechtung und Enteignung nicht untätig zusahen, kam es 1904 zu Krieg und Völkermord. Zwar waren die Herero anfangs sehr erfolgreich, doch der Brutalität der deutschen Armee und ihres Oberkommandierenden, General Lothar von Trotha, hatten sie nichts entgegenzusetzen.

    Dieser glaubte, dass der Feldzug Teil eines "Rassenkrieges" sei, und dass Afrikaner "nur der Gewalt weichen" würden. Nachdem seine Truppen die fliehenden Herero in die Omaheke-Wüste getrieben hatten, ließ er diese durch eine Postenkette absperren. Zudem ordnete er im berüchtigten 'Schießbefehl' vom 2. Oktober 1904 an:

    "Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. (...) Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen. (...) Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen."

    Als Folge dieses Befehls verdursteten Tausende, wie es in der offiziellen deutschen Kriegsgeschichte hieß:

    "[W]ie ein halb zu Tode gehetztes Wild" wurde der Feind "von Wasserquelle zu Wasserstelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde." So sollte die "wasserlose Omaheke (...) vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: Die Vernichtung des Hererovolkes."

    Wer dennoch die Wüste überlebte, wurde in sogenannte Konzentrationslager eingeliefert, die in der Zwischenzeit überall im Lande errichtet worden waren, nicht zuletzt um auch die Nama, die sich mittlerweile ebenfalls zum Widerstand entschlossen hatten, zu internieren. Dort wurden Tausende durch bewusste Vernachlässigung ermordet. Insgesamt verloren möglicherweise bis zu 70 Prozent der Herero und bis zu 50 Prozent der Nama ihr Leben. Wer Krieg und Völkermord überlebte, wurde quasi totalitärer Kontrolle unterworfen und zum Arbeitszwang verpflichtet.

    Der Völkermord an den Herero und Nama verbindet Rassenkriegsvorstellungen mit denen der Neubesiedlung des gewonnenen und "entleerten" Territoriums und zeigt damit die unheilvolle Verbindung von Rassenlehre und Raumvorstellung, welche das 20. Jahrhundert prägen sollte.

    Raphael Lemkin hat die Verbindung von Mord und Neubesiedlung als Kernelement von Völkermord ausgemacht:

    " Genozid erfolgt in zwei Phasen: Die eine ist die Zerstörung des nationalen Modells der unterdrückten Gruppe; die andere die Auferlegung des nationalen Modells des Unterdrückers. Die Auferlegung wiederum kann sich auf die unterdrückte Bevölkerung beziehen, der zu bleiben gestattet wurde, oder nur auf das Territorium, nach Entfernung der Bevölkerung und der Kolonisierung des Gebiets durch die eigenen Staatsangehörigen des Unterdrückers. "

    Zum Symbol für Völkermord an sich und Auslöser sowohl für die Begriffsschöpfung als auch die internationale Ächtung wurde jedoch der Holocaust, die versuchte Vernichtung des europäischen Judentums mit seinen sechs Millionen Opfern. Jahrhundertealter Antijudaismus radikalisierte und biologisierte sich im Kontext vermeintlich wissenschaftlicher Rassendiskurse im 19. Jahrhundert zum weit tödlicheren Antisemitismus. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die sogenannte Schmach von Versailles und die Weltwirtschaftskrise ließen in vielen Deutschen die Sehnsucht nach einem Sündenbock auf der einen und einem Heilsbringer auf der anderen Seite wachsen.

    Adolf Hitler und die NSDAP bedienten diese Bedürfnisse und schürten sie zugleich. Bald nach der "Machtergreifung" am 30. Januar 1933 begann die Diskriminierung jüdischer Deutscher. Juden wurden aus dem Staatsdienst ausgeschlossen und die bereits erwähnten Nürnberger Rassegesetze verboten Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden und kriminalisierten sexuelle Beziehungen. Immer stärker wurden Juden und Jüdinnen schikaniert.

    In der "Reichspogromnacht" vom 9. zum 10. November 1938 erreichte der nationalsozialistische Terror einen ersten Höhepunkt: Synagogen brannten, jüdische Geschäfte wurden zerstört. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1.September 1939 und insbesondere der Invasion der Sowjetunion ab dem 22. Juni 1941 erfolgte auch der Übergang zur physischen Vernichtung der Juden. Dabei griff man auf Erfahrungen zurück, die man seit dem Frühjahr 1939 mit der Euthanasie geistig und körperlich behinderter Kinder und dann auch Erwachsener gemacht hatte, der etwa 100.000 Menschen zum Opfer fielen. Schon von Beginn an waren SS-Einsatzgruppen der Wehrmacht in die Sowjetunion gefolgt und hatten im Rückraum der Armee mit Massenerschießungen begonnen. Die Ukrainerin Iryna Choroschunowa berichtete, was eine Freundin ihr erzählt hatte:

    "Sie sah, wie nackte Menschen nach Babi Jar gebracht wurden, und hörte Schüsse aus dem Maschinengewehr. (...) Es gibt immer mehr solche Gerüchte und Berichte. Sie sind so ungeheuerlich, dass man sie gar nicht glauben kann. Aber wir sind gezwungen, sie zu glauben, denn die Erschießung der Juden ist eine Tatsache. Eine Tatsache, die uns jetzt zum Wahnsinn zu treiben beginnt. Es ist unmöglich, mit diesem Wissen zu leben."

    Bis zu 500.000 Menschen sind diesen Erschießungen und Erstickungen in Gaswägen zum Opfer gefallen. Noch weit mehr Menschen starben in den seit Ende 1941 errichteten Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Die Gaskammern beispielsweise in Auschwitz-Birkenau wurden zum Symbol für den Holocaust. Die Realität dort war die Hölle. Ruth Klüger erinnerte sich an ihre Ankunft, als sie aus dem Waggon auf die Gleise fiel:

    "Ich richtete mich auf, wollte weinen oder doch greinen, aber die Tränen versiegten vor der Unheimlichkeit des Ortes. Man hätte ja erleichtert sein müssen, ...frische Luft zu atmen. Aber die Luft war nicht frisch, sie roch wie sonst nichts auf der Welt. Und ich wusste instinktiv und sofort, dass man hier nicht weinte, nicht die Aufmerksamkeit auf sich zog."

    Zu den sechs Millionen Juden, und den bis zu 500.000 Sinti und Roma, die ermordet werden sollten, gesellen sich jedoch noch Millionen von Polen und Russen, Kriegsgefangenen und Zivilisten. Zunehmend bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass der Feldzug gegen die Sowjetunion ein Rassen- und Vernichtungskrieg war, und genozidale Qualitäten aufwies. Wie der im Auftrag Heinrich Himmlers erarbeitete Generalplan Ost zeigte, sollten bis zu 80 Millionen Russen aus den neu zu errichtenden deutschen Koloniallanden hinter den Ural vertrieben werden, wobei man sich bewusst war, dass mehrere Millionen, es waren bis zu 30 Millionen, dies nicht überleben würden.

    Folgt der Holocaust und die Ermordung der Sinti und Roma der von Zygmunt Bauman skizzierten Logik des gärtnernden Staates, steht der Rassen- und Vernichtungskrieg gegen die Slawen in der Tradition kolonialer Massengewalt. In den Verbrechen des Dritten Reiches bündelten sich diese Traditionen, kehrten Völkermord und die biologisierte rassistische Gewalt von der Peripherie ins Zentrum Europas zurück.

    Trotz Kriegsverbrechertribunalen wie den Nürnberger Prozessen und der Ächtung im Völkerrecht kam es auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegen zu weiteren Völkermorden. Der eindeutigste Fall ereignete sich 1994 im zentralafrikanischen Ruanda. In nur 100 Tagen wurden dort von der Hutu Mehrheitsbevölkerung ungefähr 800.000 Tutsi und oppositionelle Hutu umgebracht.


    Die Tatsache, dass die Morde selbst mit Macheten und Prügeln durchgeführt worden waren, verführten viele westliche Beobachter dazu, dies als typisch afrikanische und atavistische Stammesgewalt abzutun. In Wirklichkeit handelte es sich um einen detailliert organisierten und vorbereiteten Prozess. Er ist Teil eines jahrhundertealten Konfliktes zwischen Hutu und Tutsi, der zunächst soziale Ursachen hatte: Die Tutsi bildeten die wohlhabende Oberschicht. Die belgische Kolonialverwaltung verstand diese Unterschiede als ethnische und verfestigte sie, indem es die vermeintliche Stammeszugehörigkeit in den Pass eintragen ließ. Während des Völkermordes kontrollierten die Jugendmilizen an Straßensperren die Pässe der Passanten und ermordeten Tutsi auf der Stelle. Andere wurden in Kirchen und Schulen niedergemetzelt, wie eine Augenzeugin beschreibt:

    "Am Tag, nachdem der Präsident starb, fingen Häuser in unserer Gemeinschaft zu brennen an. Flüchtlinge strömten aus anderen Gegenden hierher. (...) Am zweiten Tag verließen wir unser Heim um in der Kirche von Ntamara Schutz zu suchen. Aber wir sollten dort keinen Schutz finden.

    Fünf Tage waren wir dort, als die Kirche angegriffen wurde.(...) Sie warfen einige Granaten.(...) Sie umringten die Kirche und schlugen jeden tot, der entkam. (...) Die Leute konnten nicht raus. Aber es war unerträglich stillzuhalten, während das Zu-Tode-Hacken weiterging. Wie verrückt rannten die Leute in der Kirche hin und her. Überall um dich herum wurden Menschen getötet und verwundet."

    In der Tat war der Abschuss des Flugzeuges des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana am 6. April 1994 der Auslöser des Völkermordes, geplant war er aber lange vorher. Gezielt waren Waffenlager angelegt und Milizeinheiten indoktriniert worden. Der katholische Rundfunksender "Radio-Télévision Libre des Mille Collines" rief permanent zur endgültigen Vernichtung der Tutsi auf, die als Kakerlaken verunglimpft wurden, die es wie Ungeziefer zu vernichten gälte. Auch dieser Völkermord folgt also der Logik, der Reinheit und der Gesundheit, die es zu beschützen oder wiederherzustellen gelte.

    Die internationale Völkergemeinschaft versagte dabei vollständig. Die UNO griff nicht ein, vielmehr reduzierte sie die in Ruanda stationierten Blauhelmtruppen nach Ausbruch der Gewalt. Lediglich Ausländer wurden ausgeflogen.

    Beendet wurde der Völkermord durch die Patriotische Front Ruandas, einer Widerstandsarmee der Tutsi, der es gelang von Uganda aus im Juli die ruandische Hauptstadt Kigali zu erreichen. Den Hutu-Mördern gelang - unter dem Schutz Frankreichs - die Flucht ins benachbarte Zaire, heute die Demokratische Republik Kongo. Zur Ruhe gekommen ist die Region bis heute nicht.

    Völkermord war aber nicht auf Afrika beschränkt. Für die Gründung von Bangladesh 1971 wird es ebenso diskutiert wie für das Kambodscha der Roten Khmer unter Pol Pot 1975-1978. Und auch in Bosnien-Herzegowina kam es zu Völkermord während der sogenannten "Jugoslawischen Erbfolgekriege" 1992-1995. Am bekanntesten neben der Belagerung von Sarajevo wurde das Massaker von Srebrenica, wo im Juli 1995 in einer UN Schutzzone rund 8000 bosniakische Knaben und Männer durch serbische Nationalisten um Radovan Karadžic und General Ratko Mladic ermordet wurden. Mladic ist immer noch auf der Flucht, Karadžic muss sich derzeit in Den Haag vor Gericht verantworten, wo auch schon dem serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic der Prozess gemacht worden war. Der Internationale Gerichtshof sieht das Vorliegen eines Genozids als erwiesen an:

    "Die Verbrechen in Srebrenica ... wurden mit der eindeutigen Absicht ausgeführt, die Bevölkerungsgruppe der Muslime in Bosnien-Herzegowina insgesamt zu zerstören, und deshalb ... liegt hier der Tatbestand des Völkermordes vor."

    Bleibt abzuwarten, ob die gerichtliche Ahndung, die für Ruanda im tansanischen Arusha stattfindet, abschreckende Wirkung zeitigt. Völkermord ereignet sich in Zeiten realer oder eingebildeter Krisen und oftmals verbunden mit Krieg. Die globalen Unsicherheiten des 21. Jahrhunderts mit der sich verknappenden Rohstoffversorgung, der wachsenden Bevölkerung und dem Klimawandel bergen große Krisen in sich. Es gilt nur zu hoffen, dass nicht in hundert Jahren das 21. Jahrhundert das Jahrhundert des Völkermordes genannt werden muss.