Donnerstag, 25. April 2024

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Das zeitgenössische Saxophon
Klangliche Experimentierfreude

Das Saxophon ist in der populären Musik nicht mehr wegzudenken - anders ist das in der klassischen Musik. Dort führt das Instrument eher ein stiefmütterliches Dasein. Zu Unrecht, denn schon die Komponisten der Moderne waren von den klanglichen Möglichkeiten des damals neuen Instruments begeistert.

Von Martina Brandoff | 10.07.2016
    Ein Saxophon steht vor einem Orchesterkonzert auf der Bühne.
    „Wenn ich doch Banjo könnte spielen und Saxophon in einer Jazzband blasen“, notierte Hermann Hesse 1926. (picture alliance / dpa / Andreas Franke)
    Musik: Pierre Jodlowski: "Mixture"
    "Mixtion" heißt das Pierre Jodlowskis Stück für Tenorsaxophon und Elektronik. Hiermit eröffnet die Saxophonistin Ruth Velten ihre Solo-CD. Darin geht es um verschiedene Begegnungsmöglichkeiten von Instrumentalspiel und Elektronik. Mal separat und kontrastierend — mal als fließende Einheit.
    Im Titel ihrer CD formuliert Velten bereits ihr Anliegen: "Different Traces"— Verschiedene Spuren: Das steht symbolisch für Mehrgleisigkeit in ihrer musikalischen Laufbahn.
    Deshalb dürfen zeitgenössische Meilensteine auf dieser Platte nicht fehlen: Zum Beispiel Luciano Berios "Sequenza 9b" für Saxophon. Dieses Stück ist Teil eines 14-teiligen Werkzyklus des italienischen Komponisten. Bis ins Extrem versucht er darin technische und klangliche Möglichkeiten einzelner Instrumente auszureizen.
    Auch Steve Reichs "New York Counterpoint" ist Teil eines mehrteiligen Werkzyklus. Ursprünglich für Klarinette komponiert, spielt Velten es in einer Version für Sopransaxophon. "New York Counterpoint" basiert auf neun verschiedenen Tonspuren, die sich raffiniert zu einem Klanggeflecht fügen. Velten hat sie selbst eingespielt, um ein möglichst homogenes Gesamtergebnis zu erreichen: Vier Sopran-, drei Tenor- und zwei Baritonstimmen.
    Klassiker der Minimal Music
    Musik: Steve Reich: "New York Counterpoint"
    Steve Reichs "New York Counterpoint", komponiert 1985, gehört inzwischen zu den Klassikern der Minimal Music. Elektronik kommt hier mit recht einfachen Mitteln zum Einsatz.
    In Gordon Kampes "Ruth’s Piece" ist die elektroakustische Komponente deutlich komplexer: Mixen und Filtern ist hier unverzichtbar. Das speziell für diese CD komponierte Stück zeugt von Kampes und Veltens langjähriger Zusammenarbeit, dem Vertrauen in die Arbeit des anderen. Tatsächlich entstand es aus Intuition: Gordon Kampe schickte der Saxophonistin Musik, auf die sie spontan reagieren sollte. Aus ihrer musikalischen Antwort mixte er etwas Neues und filterte die Solostimme heraus. Das Ergebnis — erstmals eingespielt— beschreibt die Musikerin als das "persönlichste Stück" ihrer CD.
    Interaktion zwischen Instrument und Elektronik
    Musik: Gordon Kampe: "Ruth’s Piece"
    Obwohl Saxophon und Elektronik hier eng ineinander verwoben sind, ist der Saxophonpart deutlich erkennbar. Anders ist das in dem vorletzten Stück der CD: "L‘air d’ailleurs— Bicinum" des französischen Komponisten Fabien Lévy. Hier bilden instrumentaler- und elektronischer Klang eine Synthese — als filigraner Klangteppich oder impulsiven Rhythmen. Die Solistin glänzt durch Reaktionsvermögen und klangliche Einfühlung.
    Auf ihrer CD präsentiert die junge Berliner Musikerin und Leiterin des "Sonic Saxophon Quartetts" ihr Instrument in großer stilistischer Bandbreite und mit klanglicher Experimentierfreude. Die ihr wichtige Interaktion zwischen Instrument und Elektronik dokumentiert sie eindrucksvoll, auf vielgestaltige Weise — Veltens erste Solo-CD wirkt farbenfroh und gelungen, sie verschafft dem Saxophon und seinem Facettenreichtum eindrucksvoll Gehör.
    In ihrem letzten Stück spannt Velten den musikalischen Bogen bis ins antike Griechenland: Francois-Bernard Mache komponierte einen musikalischen Wettstreit, angelehnt an eine Sage von Marsyas und Apollon. Während die Instrumentalstimme pentatonische Melodien konstruiert, werden diese vom elektronischen Gegenpart unterbrochen. Letztlich überdauert die Instrumentalstimme die Elektronik - wenngleich in einem ungewissen Viertelton.
    Musik: Francois Bernard Mache: "Aulodie"
    Während Ruth Velten auf ihrer CD mehrere Epochen der Neuen Musik abbilden möchte, beschränkt sich die nächste CD auf jüngste Kompositionen: das älteste Stück ist vier Jahre alt. Die Besetzung ist jedoch ähnlich: Saxophon, Elektronik und Ensemble.
    Der Entstehungsprozess dieser CD mutet ungewöhnlich an. Alle vier Stücke sind Ergebnis langjähriger Zusammenarbeit zwischen Komponisten und Musikern und wurden nach und nach eingespielt. Das Resultat ist "Wrestling Samoa": Finale und zugleich Titel der gesamten CD. "Phace" heißt das Eigenlabel des gleichnamigen Ensembles, bei dem auch diese Platte erschienen ist. Lars Mlekusch ist langjähriges Mitglied von "Phace" und Solist dieser CD.
    Multimedialität und Elektronik stehen ganz im Sinne seines stilübergreifenden Spiels.
    Martin Heidegger als Inspiration
    Musik: Bernhard Lang: "DW 24"
    "Differenz/ Wiederholung", kurz: "DW"— Das ist der Name des Werkzyklus, zu dem auch das eben gehörte Werk gehört. In "DW 24" möchte Bernhard Lang verschiedene Stile durch komponierte Loops miteinander zu verbinden. Ergebnis ist ein minimalistisch anmutendes Netz, in dem Rock, Jazz und Club-Elektronik aufeinandertreffen.
    Die Stimme des Metal-Musikers Al Jourgensen und die Jazz-Legende Evan Parker waren die entscheidenden Inspirationsquellen für den Saxophonpart. Das zeigt sich auch in den Parker-typischen Multiphonics-Spaltklängen, die durch eine Kombination aus Spezialgriffen und Anblastechnik erzeugt werden.
    Auf rhythmisch treibende Eröffnungsstück folgen zwei Werke mit deutlich feinerer, ja zeitweise fast fragiler Klangstruktur.
    "Concerto liquido" - zu Deutsch "flüssiges Konzert" lautet der Titel eines gut 17-minütigen Stücks des französischen Komponisten Ricardo Nillni. In impulsiven Wogen durchmessen Ensemble und Solist einen Verlauf, in dem sie sich abwechselnd ausbremsen und antreiben.
    Das "musikalisch Ereignishafte" steht auch im Zentrum der Komposition "Signos oscilantes" von German Toro Perez. Auf dieser CD ist es das einzige Stück in Duobesetzung: Saxophon und Elektronik. Der kolumbianische Komponist lebt und arbeitet heute in Europa. In seiner Musik spürt er kultureller Identität nach. Dass diese wandelbar ist, kristallisiert sich in dem Untertitel "verworren und schwankend" und ebenso in seiner Musik heraus. Seine wichtigste Inspirationsquelle war Martin Heideggers philosophische Schrift "Zum Wesen der Sprache", die ihm vermittelte, dass Musik stets mehrdeutig ist.
    Musik: German Toro Perez: "Signos oscilantes"
    Seine spezifische Klangwelt erreicht das "Duo Saxophonic” durch die durchdachte Positionierung der Lautsprecher im Raum. Lars Mlekusch und Florian Bogner erzeugen eine akustische Schwerelosigkeit, in der Saxophon und Elektronik schemenhaft zum Vorschein kommen.
    Ungewöhnliche Klänge entfaltet das Saxophon auf dem letzten Stück der CD— "Wrestling Samoa" von Jorgé Sanchez-Chiong. Elektronik, Ensemble und Solosaxophon treffen hierin aufeinander und verbinden sich zu einem pulsierenden Ganzen Die Solistin sticht hier absichtlich hervor: Ihr gedrückter, fast perkussiver Ton erinnert an das australische Digeridoo.
    Mlekusch scheint dieses Stück wie auf den Leib geschrieben zu sein — Und genau das war auch die Absicht des Komponisten. Die technische Virtuosität und den ganz persönlichen Stil des Saxophonisten erklärt er zum "Motor seines Werks".
    Anlass zur Komposition gab zudem ein politisches Ereignis: Als Aufbegehren gegen die Finanzkrise enthält das Stück Statements, die an Protestmusik erinnern.
    Musik: Jorge Sanchez-Chiong: "Wrestling Samoa”
    "Wrestling Samoa” verdeutlicht, dass sich intensive Zusammenarbeit zwischen Komponisten und Interpreten auszahlt. Die Auswahl der Stücke verschaffen dieser CD einen gelungenen dramaturgischen Rahmen: Meditative Schwerelosigkeit in einer energisch-kräftigen Umrahmung.
    "Wrestling Samoa" mit Kompositionen von Bernhard Lang, Ricardo Nillni, German Toro Perez und Jorgé Sanchez-Chiong — Gespielt von Lars Mlekusch (Saxophon), Fabian Bogner (Elektronik) und dem Ensemble "Phace" unter der Leitung von Simeon Pironkoff.
    Erschienen ist diese CD im Label "Phace". Zuvor habe ich Ihnen Ruth Veltens neue Solo-CD "Different Traces" vorgestellt, erschienen im GEUIN-Classics-Label. Soweit für heute die neue Platte, vorgestellt von Martina Brandorff.
    Pierre Jodlowski: "Mixture", Ruth Velten, Saxophon
    CD GEN16424, LC: 12029, EAN: 4260036254242
    Steve Reich: "New York Counterpoint", Ruth Velten, Saxophon
    CD GEN16424, LC: 12029, EAN: 4260036254242
    Gordon Kampe: "Ruth’s Piece", Ruth Velten, Saxophon
    CD GEN16424, LC: 12029, EAN: 4260036254242
    Francois Bernard Mache: "Aulodie", Ruth Velten, Saxophon
    CD GEN16424, LC: 12029, EAN: 4260036254242
    Bernhard Lang: "DW 24", Lars Mlekusch, Saxophon, Ensemble "Phace"
    Ltg.: Simeon Pironkoff
    CD PHA 001, LC, EAN: 4023136010459
    German Toro Perez: "Signos oscilantes, Lars Mlekusch, Saxophon; Florian Bogner, Elektronik
    CD PHA 001, LC, EAN: 4023136010459
    Jorge Sanchez-Chiong: "Wrestling Samoa”, Lars Mlekusch, Saxophon, Turntables: Jorge Sanchez-Chiong
    Ensemble "Phace", Ltg.: Simeon Pironkoff
    CD PHA 001, LC, EAN: 4023136010459