Nun verrät das Buch, das Tomlinson entgegen der Bewährungsauflagen doch publizierte, nicht wirklich, ob der Agent in den vier Jahren seiner Dienstzeit etwas Sicherheitsrelevantes erfuhr, aber auf die brennenden Fragen, warum alle westlichen Geheimdienste in Sachen Terrorismus versagten, hält es eine niederschmetternde Antwort bereit. Selbst wenn nur 50 Prozent der Geschichten aus dem Inneren der Hydra wahr sind, liegt ein strukturelles Problem vor: Als der mit Abstand am wenigsten demokratisch kontrollierte Geheimdienst Europas, erweist sich das MIß in Tomlinsons Darstellung als ineffektive, mit sich selbst beschäftigte bürokratische Maschine, deren Verzweigungen zwar bis tief ins britische Establishment hineinreichen - so tief, dass ein Abtrünniger keinerlei Zukunftsaussichten im Lande mehr hat -, die aber wegen fehlender Transparenz intern schlecht koordiniert ist.
Willkürentscheidungen scheinen an der Tagesordnung, und warum ein "operativer Vorgang" abgebrochen oder fortgesetzt wird, ist selbst für beteiligte Agenten oftmals undurchsichtig. Die Unterwanderung nichtstaatlicher Terrorgruppen erweist sich für dieses System, das sich auf die Ausforschung staatlicher Strukturen spezialisiert hat, als beinahe unmöglich. Denn was bedeutet das malerisch klingende Wort von der "Unterwanderung" im Dienstalltag? All die hervorragend ausgebildeten Geheimdienstleute sind ja keine Agenten, sondern Agentenführer. Ihre Aufgabe liegt darin, aus den entsprechenden Kreisen Insider abzuwerben, sie mit Geld, Liebe oder Überzeugungskraft umzudrehen und ihr Wissen abzuschöpfen. Das ging im Kalten Krieg überraschend gut (was nachträglich die geringe Bindungskraft der antagonistischen Weltanschauungen beweist), in religiös motivierten Konflikten wird man Überläufer mit der Lupe suchen müssen. Dazu gesellt sich der systemimmanente Verfolgungswahn der Geheimdienste, die einen großen Teil ihrer Energie für den eigenen Schutz verwenden, statt die verordneten Aufgaben zu lösen.
Nein, "Das Zerwürfnis" zeichnet ein verheerendes Bild jener Institution, die in diesen Tagen zu den wenigen Hoffnungsträgern zählt. Wenn schon dem Militär der Feind fehlt, sollen uns wenigsten die Geheimdienste von unseren Ängsten erlösen! Aber drehen wir den Spieß doch einmal um: Ist ein effektiver, hochwirksamer Geheimdienst wirklich wünschenswert? Deutschland hatte so etwas einmal, und das Gesicht dieser unsichtbaren Macht war so unappetitlich, dass sich niemand im Ernst wünschen kann, im Tausch für demokratische Kontrolle eine geringfügig höhere Aufklärungsquote zu erhalten. Fehlt diese Kontrolle nämlich, weiß niemand, ob die vorgelegten Ergebnisse nicht vielleicht erfunden sind, ob Desinformationskampagnen - für die gerade das M16 berüchtigt ist - sich nicht auch gegen die eigenen Politiker richten. Man sollte nur jene ermächtigen, die man auch kontrolliert, und die nachgerade neurotische Verfolgungswut des M16 gegenüber seinem beredten Ex-Agenten zeigt, mit welch ungelenkter Wucht diese Institution eine aus eigenen Fehlern entstandene Situation immer weiter eskalieren lässt.
So paradox es klingen mag: Es schlägt nicht die Stunde der Geheimdienste, sondern die der offenen Gesellschaft. In ihr nämlich machen sich fanatische Geheimbündler durch Absonderung per se verdächtig. Wenn erst die ganze Gesellschaft paranoid durchsetzt ist, und jeder sich vor jedem abschließt, haben die Geheimdienste gar nicht mehr genügend Personal, um die Angstabsonderung von der Verschwörungsabsonderung zu unterscheiden. Ohnehin beweist Tomlinsons Buch, dass nicht das Sammeln von Informationen, sondern deren Interpretation entscheidet, nicht die Effizienz des Agentenspiels, sondern die intellektuelle Kompetenz. Dass der Autor und sein Ghostwriter ihre narzisstische Pose kaum zu verbergen vermögen, wirft auch kein sonderlich erfreuliches Licht auf die Personalpolitik des M16 - denn Tomlinson schloss seinen Einführungslehrgang mit Auszeichnungen ab. Über die Hälfte des Buches schildert er Abenteuerspiele für erwachsene Männer, eine romantische Brüderschaft mit sektiererischem Charakter. Bis zum 11. September mag das eine bloß spannende Lektüre gewesen sein - seither ist sie alarmierend.