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Dauergast bei Da Vinci und Monet

Die ehemalige Königsresidenz in Paris ist heutzutage dauerhaft überfüllt. Nur sind die Gäste keine Adeligen, sondern profane Museumsbesucher, und sie wollen nur eines: die Mona Lisa sehen. Aber es gibt auch Besucher mit einem sehr feinen Sinn für Kunst: Jacques Rech besucht seit rund 65 Jahren mehrmals pro Woche das Museum und hat sich noch nicht satt gesehen.

Von Hans Woller |
    Heute ist der Louvre eines der größten Museen der Welt. Auf 60.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche beherbergt er rund 300.000 Kunstwerke. Zu sehen davon sind rund 10 Prozent. Nach seiner aufwendigen Umgestaltung und Erweiterung durch den chinesisch-amerikanischen Architekten Leoh Ming Pei in den 80er und 90er Jahren, verwandelte sich der Louvre vom Aschenputtel zum Weltstar. Bis zu 60.000 Besucher, zwei Drittel davon aus dem Ausland, drängeln an manchen Tagen in den Haupteingang unter der gläsernen Pyramide.

    Besonders groß ist der Andrang der Massen vor dem wohl berühmtesten Bild des Louvre: vor Leonardo da Vincis Ikone Mona Lisa. Gut gesichert im frisch renovierten Prunksaal, hinter dickem Panzerglas und geheimnisvoll lächelnd, ist sie wohl die meist fotografierte Frau der Welt.

    Doch der Louvre ist mehr als nur die Mona Lisa und für Dauerbesucher wie Jacques Rech, ist sie eher ein Hindernis:

    Eine Gruppe Japaner hastet im Laufschritt über den weiten Platz. Einige Schulklassen lungern gelangweilt, ohne einen Blick für die historischen Perspektiven, auf den dunklen Beckenrändern der Springbrunnen ohne Wasser. Afrikaner verkaufen billige Andenken, Pakistani gekühlte Getränke aus Plastikeimern. Eltern halten ihre Kinder krampfhaft an der Hand, um sich in dem Gewühl nicht zu verlieren. Einer winkt verzweifelt in Richtung Tuillerien und wird nicht gesehen.

    Ein einziger, immerhin, tritt in Ruhe ein paar Schritte zurück und hebt den Blick auf die 22 Meter hohe Glaspyramide, die die Menschen aus allen Himmelsrichtungen wie ein Magnet
    anzuziehen scheint, und deren Scheiben gerade noch von einer eigens konstruierten Maschine gereinigt werden, die sich wie eine Qualle festgesaugt hat und sich im Schneckentempo über das Spezialglas bewegt.

    Hinter der Drehtür, und nach einer oberflächlichen Sicherheitskontrolle, schwebt ein Besucher nach dem anderen die Rolltreppe hinunter in die riesige, licht durchflutete Eingangshalle und begibt sich zur nächsten Warteschlange vor den Kassen. Etwas abseits des Trubels wartet Jacques Rech. Als alter Kenner des Louvre hatte er einen der weniger Nebeneingänge gewählt.

    Er wolle es sich erst mal bequem machen, sagt er, und geht zur Garderobe, wohin sonst kaum jemand den Weg findet. Doch für ihn ist der Louvre eine Art zweites Domizil. Zwei bis drei Mal in der Woche kommt er gegen halb zwei und bleibt bis fünf, ohne sich vorher zu überlegen, was er denn heute in Angriff nimmt. Die Hände hat er vor dem Bauch gefaltet, fast schüchtern und betulich bewegt er sich in den Massen:

    "Mir gefallen im Louvre nicht nur die Säle mit der Malerei, den Skulpturen oder Kunstgegenständen, sondern die ganze historische Seite im Louvre. Zum Beispiel der Kariatiden-Saal, wo es die Säulen gibt, die eine Art Balkon stützten, wo einst ein Orchester spielte. Ein wirklich historischer Saal, wo viele Dinge passiert sind. In den Religionskriegen hat man hier Menschen aufgehängt. Im selben Saal hat Moliere vor
    Ludwig XIV., Mazarin und Anna von Österreich gespielt."

    Monsieur Rech ist von Kunst besessen und belesen zugleich. Zu Hause, sagt er, habe er fast ausschließlich Bücher über Kunst. Langsam geht er durch die Menschenmenge und blickt geradezu genüsslich in seinen Lieblingssaal, der griechische Skulpturen beherbergt.

    "Ich mag diesen Saal, vor allem, weil hier eine gewisse Sinnlichkeit herrscht. Diese schönen Frauen mit ihren schönen Formen, das ist die Welt der griechischen Skulpturen in ihrem ganzen Glanz. Es kommt vor, wenn ich hier zwei Verliebte sehe, die eng umschlungen stehen, dass ich mein Ohr spitze und zuhöre, was sie sagen. Nicht um sie auszuspionieren, aber, um ein wenig den Puls des Publikums zu fühlen, zu wissen, warum sie hierhin kommen."
    Monsieur Rechs Augen hinter der braunumrandeten Brille bewegen sich beim Gehen fast ständig von den Gemälden, Skulpturen oder Kunstgegenständen hinauf zur Decke und wieder zurück:

    "Hier sehen sie, wie Altes und Neues harmonieren kann. An der Decke, die aus der Zeit Heinrichs II. stammt, haben wir ein Gemälde von Braque. André Malraux hat es damals in Auftrag gegeben."

    Jacques Rech ist 74, hat kaum ein graues Haar und ein Gedächtnis, das wie ein Uhrwerk zu funktionieren scheint. An jeder Ecke weiß er eine Geschichte zu erzählen. Schon als 14 Jähriger, unmittelbar nach dem Krieg, habe er die Schule geschwänzt, um in den Louvre zu gehen:

    "Ich habe dann eine Lehre gemacht als Schriftsetzer. War auf keiner weiterführenden Schule. Schriftsetzer war damals ein Beruf, der mir sehr gefiel. Und es war eine Zeit, als man noch arbeitete wie Gutenberg, mit dem Bleisatz, wo man alles andersherum las."

    Fast liebevoll betrachtet Monsieur Rech einige Gemälde der italienischen Schule des 16 .Jahrhunderts und erinnert sich, wie er vor einem der Bilder als Jugendlicher den dort abgebildeten Tempelaustreiber mit Samson, der an den Säulen rüttelt, verwechselte:

    "Ich hab mich immer gefragt, wie es kam, dass ich diesen Hang zur Kunst entwickelt habe. Ich war dazu nicht prädestiniert. Meine Eltern gingen nie in ein Museum Meine erste starke Empfindung in Zusammenhang mit der Kunst hatte ich, als ich noch zur Schule ging. Damals sah ich ein Porträt von Kardinal Richelieu, von Philippe de Champaigne gemalt. Dieses Porträt hat mich stark berührt, weil der Schüler, der das Buch im Jahr vor mir hatte, in eine Falte des Gewands von Kardinal Richelieu etwas Obszönes hineingemalt hatte."

    1948, mit knapp 17Jahren, wurde Jacques Rech Mitglied des "Freundeskreises des Louvre", welcher heute stolze 75.000 Mitglieder zählt. Als so genanntes wohltätiges Mitglied zahlt der pensionierte Schriftsetzer jährlich 650 Euro und trägt, wenn auch bescheiden, dazu bei, dass sich die Bestände des Museums weiter erneuern. Dafür darf er dann auch, wenn, wie jüngst, die wunderbare Apollo - Galerie restauriert wird, schon mal von außen durch ein Fenster in den Louvre steigen und in der Galerie auf ein hohes Gerüst klettern:

    "Das Gerüst reichte bis knapp unter das Gewölbe. Es war wirklich bewegend, mit dem Kopf gerade mal zwei Meter vom großen Gemälde Delacroix’s entfernt zu sein. Apollo, der die Schlange besiegt. Delacroix hat es 1850 gemalt."

    Unter normalen Umständen meidet Jacques Rech diesen Ort lieber, denn unmittelbar daneben tummeln sich die Besucher an einem der drei großen Anziehungspunkte des Museums: "Der Nike von Samothrake."

    "Vor den Massen kann ich mich nur schwer schützen. Ich bin zum Beispiel dazu verurteilt, niemals mehr die Mona Lisa zu sehen. Das ist einfach unmöglich mit allen den Leuten. Alle Besucher des Louvre, und es sind mittlerweile mehr als sechs Millionen im Jahr, gehen an der Mona Lisa vorbei."

    Jacques Rech kennt jeden Winkel, jede Treppe, jede Abkürzung im Louvre. Besonders die Aufzüge, die kaum jemand benutzt . Alle Veränderungen seit dem 2. Weltkrieg hat er miterlebt. Vor allem die immense Erweiterung der Ausstellungsflächen, nachdem Ende der 80er Jahre endlich das Finanzministerium aus dem ehemaligen Königsschloss ausgezogen war. Zufrieden schaut Monsieur Rech aus dem Saal auf die Glaspyramide. Für einen Augenblick überwindet der 74-Jährige sogar seine Bescheidenheit:

    "Ich sage es normalerweise nicht, sonst denken die Leute vielleicht ich gebe an, aber ich hatte damals an einen Eingang hier im Napoleonhof gedacht, da wo die Pyramide jetzt ist, allerdings nicht an die Form einer Pyramide. Ich war damals wirklich dafür, und ich glaube, ich habe mich nicht getäuscht. Viele waren gegen die Pyramide. Aber man muss doch sagen, dass Pei, der Architekt, da ein Meisterwerk geschaffen hat."

    Langsam wird es für Monsieur Rech wieder Zeit, die Metro zu nehmen und nach Hause, in sein 20. Pariser Arrondissement zurück zu kehren:

    "Ich werde wieder ordentlich müde sein, denn es gibt nichts ermüdenderes, als ein Museum. Das ist kein normales Gehen hier. Man geht langsam, bleibt oft stehen. Jetzt, mit dem Alter, ermüdet mich das. Aber es wird mich trotzdem nicht davon abhalten, wieder zu kommen."