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David Clay Large: Berlin - Biographie einer Stadt

Keine andere Stadt in Deutschland hat eine solche Geschichte hinter sich wie Berlin: Vor 200 Jahren noch preußisches Provinznest, in der NS-Zeit Schauplatz von Terror und Machtmissbrauch, im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt, wurde Berlin während der Teilung zum Schauplatz des Kalten Kriegs. Heute ist Berlin zumindest wieder die funktionale Hauptstadt aller Deutschen. Zwei Autoren haben sich jetzt unter diesem Aspekt mit Berlin auseinandergesetzt: Da ist zum einen der amerikanische Historiker David Clay Large, bekannt geworden durch ein Porträt der Stadt München als Geburtsstadt des Nationalsozialismus. Large's neueste Arbeit heißt lakonisch: "Berlin - Biographie einer Stadt". Der Berliner Autor Uwe Rada dagegen bietet einen Blick auf das heutige Berlin und dazu noch aus einer überraschenden Perspektive, wie es der Titel seines Buches schon anklingen lässt: "Berliner Barbaren: Wie der Osten in den Westen kommt".

Joanna Wiorkiewicz |
    Keine andere Stadt in Deutschland hat eine solche Geschichte hinter sich wie Berlin: Vor 200 Jahren noch preußisches Provinznest, in der NS-Zeit Schauplatz von Terror und Machtmissbrauch, im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt, wurde Berlin während der Teilung zum Schauplatz des Kalten Kriegs. Heute ist Berlin zumindest wieder die funktionale Hauptstadt aller Deutschen. Zwei Autoren haben sich jetzt unter diesem Aspekt mit Berlin auseinandergesetzt: Da ist zum einen der amerikanische Historiker David Clay Large, bekannt geworden durch ein Porträt der Stadt München als Geburtsstadt des Nationalsozialismus. Large's neueste Arbeit heißt lakonisch: "Berlin - Biographie einer Stadt". Der Berliner Autor Uwe Rada dagegen bietet einen Blick auf das heutige Berlin und dazu noch aus einer überraschenden Perspektive, wie es der Titel seines Buches schon anklingen lässt: "Berliner Barbaren: Wie der Osten in den Westen kommt".

    Am 16. Juni 1871, einem strahlend klaren Sonntag, marschierten 40.000 Soldaten vom Tempelhofer Feld, durch das Hallesche und das Brandenburger Tor zum Königlichen Schloss Unter den Linden. Alle trugen das Eiserne Kreuz an der Jackenbrust, und viele hatten sich einen Siegerkranz umgehängt. Eine aus Unteroffizieren gebildete Formation führte 81 erbeutete französische Kriegsfahnen mit, darunter einige arg zerzauste. "Die Garden sahen süperb aus", schwärmte die Baroness von Spitzemberg, die Gattin des württembergischen Gesandten in Berlin. "So männlich, so sonnenverbrannt, bärtig, das allzu stramme preußische Wesen etwas gelockert durch den Feldzug, boten sie wirklich den schönsten Anblick für ein patriotisches Herz".

    David Clay Large erzählt die Geschichte Berlins farbig, vibrierend und geistreich - wie sie dieser Stadt angemessen ist. Den Rahmen seiner Geschichte bilden die beiden Vereinigungen Deutschlands: 1871 und 1990. In diesem Zeitraum hat Berlin eine an dramatischen Höhen und Tiefen reiche Entwicklung durchgemacht: von einem tief verschlafenen Provinznest in der Mark Brandenburg hin zum Symbol der modernen Großstadt.

    Berlin war eine Spätentwicklerin, als Landeshauptstadt ebenso wie als europäische Metropole, und litt in dieser Beziehung unter einem Minderwertigkeitskomplex, den abzuschütteln die Stadt sich schwer tat, während sie sich darum bemühte, den Vorsprung der etablierten europäischen Hauptstädte aufzuholen.

    Large bringt all die Namen in Erinnerung, die zum kosmopolitischen Geist dieser Stadt beigetragen haben. Sein glänzend erzähltes - und das dürfen wir nicht vergessen von Karl Heinz Siber grandios übersetztes - Buch verbindet sein weit ausgeworfenes Netz der deutschen Geschichte mit scharfsinniger und oft humorvoller Erzählweise. Vieles aus der Vergangenheit klingt auch für heutige Ohren erstaunlich aktuell, als ob es aus der Tagespresse gerade entnommen würde. Zitat:

    "Der durch die Reichsgründung ausgelöste Höhenflug Berlins hatte von Anfang an auf wackligen Beinen gestanden. Viele der neu gegründeten Aktiengesellschaften waren kaum mehr als leere Hüllen, deren hauptsächlicher Daseinszweck darin bestand, leichtgläubige Investoren auszunehmen. Der explosive Bauboom gründete auf der illusionären Annahme, die Hauptstadt werde binnen kurzer Zeit auf neun Millionen Einwohner anwachsen; in Teilen der Stadt entstand bald ein erheblichs Überangebot an Wohnraum, wodurch es für Vermieter zunehmend schwieriger wurde, hohe Mieten durchzusetzen."

    Natürlich nimmt die Frage, warum gerade Berlin zur Haupstadt und Metropole Deutschlands wurde, einen wichtigen Stellenwert ein und ist schon in vielen Studien untersucht worden. David Clay Large dagegen antwortet auf diese Frage überaus anschaulich. Von den ersten Zeilen an merkt der Leser, dass der Autor diese Stadt in sein Herz geschlossen hat ohne dabei den kritischen Blick zu verlieren. Sodom, rote Hochburg, Byzanz, Faschistenhöhle, Viermächtestadt, Hochburg der Studentenbewegung, neue Hauptstadt. Es ist erstaunlich, wie sich innerhalb von nur 50 Jahren die Metaphern für eine einzige Stadt geändert haben. Hinter der Intensität der unterschiedlichsten Fragen verbirgt sich auch die Antwort auf unsere Frage: warum Berlin...

    "So sehr waren die Berliner mit dem Ansehen ihrer Stadt draußen in der Welt beschäftigt, dass sie es allzu oft versäumten, etwas für ihren Ruf im eigenen Land zu tun. Von dem Augenblick an, da die Stadt an der Spree zur Reichshauptstadt wurde, weckte sie bei der deutschen Bevölkerung als Ganzem ambivalente Gefühle. Auch wenn die jüngere Generation von der Schnelligkeit und Energie der Stadt berauscht ist, hegen die älteren Deutschen aus der Provinz ein Misstrauen gegen Berlin. In ihren Augen ist die Spree-Metropole ein eigentümlicher und zutiefst beunruhigender Ort. Vielleicht sogar nicht einmal richtig deutsch?"

    - lesen wir als das Fazit. In Berlin leben, nach offiziellen Angaben etwa 435.000 Ausländer, inoffiziell dürften es mehr als 600.000 sein. Aber wie hoch die Zahl auch immer sein mag, die Struktur der Zuwanderung hat sich in den letzten 20 Jahren gewaltig geändert. Schon heute leben mehr osteuropäische als türkische Zuwanderer in Berlin. Doch den Westen fest im Blick, bemerkt kaum jemand die neuen Migranten, die in den letzten beiden Jahrzehnten aus der entgegengesetzten Richtung die Stadt erreicht haben. So lautet die zentrale These des neuen Buches von Uwe Rada: "Berliner Barbaren - wie der Osten in den Westen kommt", eines Buches, das zwar völlig selbständig und souverän vom urbanen Wandel Berlins in der letzten Dekade handelt, aber gerade deswegen als eine Art Fortsetzung des Buchs von David Clay Large gelesen werden dürfte. Autor und Journalist Uwe Rada, der sich einen Namen als kritischer Beobachter der Berliner Stadtentwicklung gemacht hat, führt durch die "ostigen" Seiten Berlins. Er macht die Leser in seinen Momentaufnahmen immer wieder auf die slawisch sprechenden Menschen aus dem Berliner Alltag aufmerksam. Doch die Spaziergänge führen uns nicht ins inzwischen in der offiziellen Berliner Kultur angekommene "Kaffee Burger" mit seiner "Russendisko" oder zu den russophilen Events des Berliner Bürgertums. Auf jeden Fall fangen sie am Potsdamer Platz an. Dort, wo noch vor nicht allzu langer Zeit der so genannte Polenmarkt pulsierte, stehen heute die Glaspaläste des neuen Berliner Vergnügungs und Kaufzentrums:

    Ja, das ist auch so eine Berliner Paradoxie. Ende der 80er Jahre hatte Polen seine Grenzen geöffnet und auch sehr viele Polen konnten ausreisen, und auf Westberliner Seite kam es zu einer Bestimmung, die kommt noch aus den 60er Jahren, die hat der Alliierte Kontrollrat erlassen, und dieser Bestimmung zufolge durften Polen ohne Visum nach Westberlin reisen und dort auch zollfrei einkaufen. Das führte dazu, dass der Potsdamer Platz, dass die Brache des Potsdamer Paltzes quasi über Nacht von polnischen Händlern bevölkert wurde und aus der Brache ein polnischer Basar wurde, der Polenmarkt.

    Die Osterweiterung der Europäischen Union steht vor der Tür, bis zur polnischen Grenze sind es keine achtzig Kilometer. Der Osten aber ist in der Mentalität der Berliner noch immer weit entfernt. Für viele endet Europa noch immer an der Oder. Doch die Osteuropäisierung der deutschen Hauptstadt ist längst in vollem Gange, meint Uwe Rada in seinem Buch "Berliner Barbaren". Aber anstatt die Chancen einer Grenzstadt zum Osten zu begreifen, zieht man in Berlin lieber neue Grenzen und setzt dadurch falsche Signale.

    Schon vor dem Krieg hieß es, dass die Zivilisation und der Westen im Grunde am Alexanderplatz endet. Eigentlich hinter dem Alexanderplatz. Man meinte wirklich, dass hinter dem Alexanderplatz eine andere Welt beginnt - eine östliche Welt. Manche haben sogar gesagt- eine asiatische Welt. Und das ist bis heute so geblieben.

    Nach dem Bruch der großen Koalition im vergangenen Jahr hieß es etwas optimistisch, dass nun das System Westberlin zu Ende gehe. Doch das schwere Erbe der Vergangenheit lässt sich nicht so leicht losswerden. Berlin, das sich vor kurzem noch gerne als Drehscheibe für den Osten gesehen hat, hat diese Chance - bis jetzt jedenfalls - gründlich verpasst, stellt Uwe Rada fest.

    Aus der anderen Perspektive, von der polnischen Seite her, merkt man aber, dass Berlin immer näher rückt. Wer sich vom Osten her der Grenze nähert, wird festellen, dass in Gdansk, in Wroclaw überall Beziehungen zu Berlin bestehen, die Netze, die Berlin umringen, das Einzugsgebiet von Berlin nach Osten, reicht sehr viel weiter, als man das in Berlin wahrnimmt.

    Wer Radas Buch gelesen hat, bekommt eine Ahnung von der politischen und kulturellen Geografie Berlins, von seiner tatsächlichen Lage. Uwe Rada tut, was die auf den Westen fixierte Politik seit über einem Jahrzehnt gründlich versäumt hat: Er richtet den Blick nach Osten. Neugierig, offen, differenziert. Ähnlich, wie David Clay Large hat Uwe Rada ein leidenschaftliches Buch geschrieben: Seine Sympathie gilt erkennbar jenen "fröhlichen Barbaren" und neuen Nomaden, die aus ganz pragmatischen Gründen kommen und derartig flexibel und mobil sind, wie es der "globalisierte" Westen von seinen Bürgern ständig verlangt. Sie werden auch das Bild und die Geschichte Berlins prägen. Wie einst die Hugenotten oder zuletzt Türken. Ob die Russen kommen? Die sind schon längst da.

    "Berlin - Biographie einer Stadt" von David Clay Large, erschienen im Verlag C.H. Beck, München, 656 Seiten - zum Preis von 34 Euro neunzig Cent. "Berliner Barbaren - Wie der Osten in den Westen kommt", aus dem BasisDruck-Verlag Berlin, 245 Seiten für 19 Euro vierzig Cent.