"Das ist das Erste, was Gitmo bedeutet – die Zerstörung des Lebens von Unschuldigen.
Beispielsweise der drei britischen Staatsbürger Asif, Shafiq und Ruhal. Sie waren im August 2001 aus privaten, familiären Gründen nach Pakistan gereist. Nach Beginn des Krieges gingen sie im Oktober 2001 nach Afghanistan, um humanitäre Hilfe zu leisten. Sie wurden von Truppen der Nordallianz gefangen genommen und dann dem US-Militär übergeben. Das US-Militär zahlte ein Kopfgeld von 5000 Dollar für jeden Terrorismus-Verdächtigen. Das führte zu falschen Beschuldigungen und willkürlichen Gefangennahmen. (So auch im Fall des Russen Wakitow, den die Taliban eingesperrt hatten, und der nach seiner Befreiung von der Nordallianz an die Amerikaner übergeben wurde, die ihn dann nach Guantanamo flogen. Oder im Fall von zwölf Kuwaitern, die für eine karitative Organisation in Afghanistan waren.) Rose zitiert einen Wärter des Internierungslagers von Guantanamo, dessen Ansicht nach mindestens 200 der Häftlinge "völlig ungefährlich" seien. Ein Pentagon-Beamter meinte gar, "zwei Drittel der Insassen könnten ohne Zögern sofort freigelassen" werden. Bis zum Sommer 2004 gab es ganze drei Anklagen.
(Nicht alle Häftlinge von Guantanamo wurden in Afghanistan festgenommen. Einer wurde aus Islamabad verschleppt; zwei britische Geschäftsleute wurden in Gambia festgenommen; sechs Häftlinge nahmen US-Geheimdienstler in Bosnien fest.) Die Häftlinge von Guantanamo kommen aus 40 Ländern, darunter auch ein Deutscher: der Deutsch-Türke Murad Kurnaz aus Bremen.
Untergebracht waren sie im Gitmo-Lager in den ersten Monaten in offenen Käfigen aus Maschendraht ohne jeden Schutz gegen Wind und Wetter. Im Frühjahr 2002 ersetzte man sie durch kleine Metallcontainer von knapp fünf Quadratmetern Fläche. Gebaut übrigens von einer Tochterfirma des Halliburton-Konzerns, in dem US-Vizepräsident Cheney als Spitzenmanager tätig gewesen ist. Für die Häftlinge gehören Schikanen, Misshandlungen, Erniedrigungen zum Lageralltag. - Der pakistanische Häftling Mohamed Saghir, der sich nicht an das Betverbot in der Zelle hielt, erzählte Rose:
Ich versuchte doch zu beten, und daraufhin kamen vier oder fünf Leute vom Einsatzkommando und schlugen mich zusammen. Sobald jemand versuchte, zum Gebet zu rufen, schlugen sie ihn zusammen und knebelten ihn.
Der britische Häftling Tarek Dergoul, der sich einer wiederholten Zellendurchsuchung widersetzte:
Was kam, waren die fünf Feiglinge, wie ich sie nannte; fünf Kerle, ausgerüstet wie Polizisten bei der Aufstandsbekämpfung, die in die Zelle reinrannten. Sie sprühten mir Pfefferspray ins Gesicht, und ich fing an, mich zu übergeben. Dann drückten sie mich zu Boden und bohrten mir die Finger in die Augen, sie zwangen meinen Kopf ins Klobecken und betätigten die Wasserspülung. (Zum Schluss schleiften sie mich in Ketten aus der Zelle in den Gefängnishof und rasierten mir Bart, Kopfhaar und Augenbrauen ab.
Die Häftlinge erfahren nicht, wo sie sind. Sie sind absolut rechtlos. Oder wie es der französische Häftling Nizar Sassi formulierte:
Man hat nicht das Recht, Rechte zu haben.
"Gitmo" liegt außerhalb jeder Gerichtsbarkeit. Damit ist der entscheidende politische Zweck dieses us-amerikanischen Speziallagers benannt, denn, so der Autor selber:
Das genau war die Absicht derer, die es schufen.
Die vollkommene Rechtlosigkeit begründet die US-Regierung mit dem Status der Häftlinge, wie mit dem des Ortes. In der Diktion von US-Präsident George Bush sind die Festgenommenen nicht etwa Kriegsgefangene, sondern "unrechtmäßige Kämpfer". Daraus folge, dass für sie die Genfer Konvention über Kriegsgefangene nicht gelte. Und weil das Internierungslager auf Kuba liege, gelte auch US-Recht für sie nicht. Die Guantanamo-Bucht ist eine Art Beutestück aus dem spanisch-amerikanischen Krieg und wurde 1903 von den USA in unbefristete Pacht genommen, gehört aber nach wie vor zu Kuba. Diesen Flecken Erde suchte sich die Bush-Rumsfeld-Administration zur Umgehung nationalen und internationalen Rechtes bewusst aus. Ein Internierungslager bestand in Guantanamo bis zum Januar 2002 nicht. Es wurde erst nach Beginn des Krieges in Afghanistan eingerichtet. Ein Spitzenbeamter aus dem Pentagon antwortete Rose auf die Frage, warum die Häftlinge ausgerechnet dort eingesperrt wurden:
Weil die Rechtsberater sagten, dort könnten wir mit ihnen machen, was wir wollten. Kein Gericht wäre dort für sie zuständig.
Das Hauptgeschäft des Lagers in Guantanamo sind die Vernehmungen der Gefangenen. Damit – so die offizielle Begründung - sollten Informationen über El Kaida gewonnen und zukünftige Terroranschläge verhindert werden. Und dafür sollte auch physischer und psychischer Zwang angewendet werden, wie Verteidigungsminister Rumsfeld offiziell erklärte. Das heißt, nicht selten offene Gewaltanwendung bis hin zu Folter. David Rose zählt mehrere Regierungspapiere auf, die sich damit beschäftigen, wie in Guantanamo das nationale und das internationale Folterverbot umgangen werden könnten bzw. wie Folter explizit erlaubt werden sollte. Was aus dem Bagdader Gefängnis Abu Ghraib bekannt wurde, war davor in Guantanamo längst praktiziert worden. Schließlich war der zweite Lagerkommandant General Miller danach in Bagdad für das Gefängnis Abu Ghraib verantwortlich. Er habe es "gitmoisiert", schreibt Rose. Und wie in Bagdad wurden auch in Guantanamo Videoaufnahmen von den Misshandlungen der Häftlinge gedreht, die bis heute allerdings unter Verschluss sind.
Und was für Erkenntnisse lieferten die Vernehmungen in Guantanamo? Laut Verteidigungsminister Rumsfeld hätten dadurch die Strukturen von El Kaida sowie Pläne für Angriffe gegen die USA und andere befreundete Länder offengelegt werden können. Eine Aussage, die von anderen US-Offiziellen bestritten wird. Rose lässt den Geheimdienst-Offizier Leutnant Christino zu Wort kommen, der die in Guantanamo gewonnenen Informationen als von bescheidenem Wert bezeichnet. Selbst der derzeitige Lagerkommandant General Hood räumte ein, man habe diesbezüglich zu hohe Erwartungen gehabt. Stattdessen brachten die Vernehmungsmethoden à la Rumsfeld solcherart Geständnisse wie das des britischen Häftlings Shafiq, der nach drei Monaten Isolationshaft "gestand", bei einem Treffen von Mohamed Atta und Bin Laden dabei gewesen zu sein, obwohl er es nicht war. Kurz darauf präsentierte der britische Auslandsnachrichtendienst Unterlagen, die eben das, Shafiqs Unschuld, belegten.
Was ist das Camp Guantanamo eigentlich tatsächlich? Vor allem, da festgenommene führende El Kaida-Mitglieder wie Khalid Shaik Mohamed doch gar nicht in dem Lager einsitzen.
Eine Art Scheinfassade, die die allgemeine Aufmerksamkeit von den wichtigeren Geschäften und Orten ablenken soll, dort wo die großen Fische festgehalten werden.
- zitiert Rose Geheimdienstoffizier Christino. Wo sich Shaik Mohamed befindet, weiß die Öffentlichkeit zur Zeit nicht. Und zu dieser Scheinfassade zählen die Verhöre bzw. programmatischen Geständnisse, die wiederum die willkürlichen Verhaftungen rechtfertigen sollen. Doch Guantanamo ist noch mehr. Es ist eine Art Modell, demokratische Festlegungen und Sicherungen abzustreifen. David Rose formuliert es so:
Wir dürfen in Gitmo kein Einzelphänomen sehen, sondern müssen es als wichtigen Baustein in einem umstürzlerischen System verstehen, das sich gegen zwei tragende Säulen sowohl der Aufklärung als auch der amerikanischen Verfassung richtete – gegen die Abkehr von Folter und gegen das ordentliche Gerichtsverfahren.
Möglich wurde das in den Augen von Rose vor allem durch den Angriff auf die Gewaltenteilung.
In dieser Interpretation der Verfassung hat die Gewaltenteilung einer neuen Form von Absolutismus Platz gemacht.
Und die Anwältin eines britischen Häftlings drückt das, was in Guantanamo passiert, so aus:
Es scheint eine neue Weltordnung zu geben: die Hinnahme totaler Illegalität. Nach dem zweiten Weltkrieg kamen all diese großartigen Verträge – die Genfer Konventionen, die Ächtung der Folter - und alle sind in Fetzen gerissen worden. Im Endeffekt lässt man zu, dass das internationale Recht neu geschrieben wird.
Allerdings ist der Prozess der Entdemokratisierung, den die Bush-Regierung einleitete, durch den Beschluss des Obersten Gerichtes der USA vom 28. Juni 2004 zum Stehen gekommen. Das Gericht entschied, dass auch in Guantanamo US-Recht gelte und die Häftlinge das Recht haben, US-Gerichte anzurufen. (Hauptkläger in diesem Musterprozess war der im März 2003 entlassene britische Staatsbürger Shafiq, dem sich 15 weitere ehemalige Gitmo-Insassen anschlossen.) Allerdings billigte das Gericht gleichzeitig dem US-Präsidenten weiterhin das Recht zu, festzulegen, ob jemand ein Kriegsgefangener oder doch nur ein unrechtmäßiger Kämpfer ist. Die Auseinandersetzung um das Regime von Guantanamo wird also weitergehen, auch inneramerikanisch, denn das Modell Guantanamo zielt vor allem auf die USA selber. David Rose:
Guantanamo ist ein Symptom anderer Schlachten, die um die Seele der amerikanischen Gesellschaft und die Richtung, in der sie sich entwickelt, ausgetragen werden – ein Kulturkampf. Auf der einen Seite stehen die säkularistischen, in der Verfassung niedergelegten Prinzipien der Republik Amerika. Auf der anderen Seite steht der christliche Autoritarismus eines Ashcroft und Bush, der für den Rest der Welt nur die Gerechtigkeit der theokratischen Macht Amerikas vorsieht.
Thomas Moser über David Rose: Guantanamo Bay. Amerikas Krieg gegen die Menschenrechte. Die deutsche Ausgabe ist im S. Fischer Verlag Frankfurt am Main verlegt, das Buch umfasst 191 Seiten und kostet 14 Euro und 90 Cent.