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DDR: Leuchtend rot sollte die Zukunft sein

Stets wollte die DDR mehr als ein Anhängsel Moskaus sein und glaubte fest an den stetigen Fortschritt durch Technik und Modernisiserung. Der Berliner Historiker Stefan Wolle schreibt anschaulich über den den gescheiterten Versuch einer modernen sozialistischen Gesellschaft.

Von Niels Beintker | 14.03.2011
    Leuchtend und rot sollte die Zukunft sein. Und in jeder Hinsicht sorgenfrei. Schließlich wähnten sich die Genossen der Einheitspartei ohnehin schon in der besten aller Welten und arbeiteten nun tatkräftig an ihrer weiteren Perfektionierung. Und das hieß: Die sozialistische Gesellschaft in der DDR sollte umfassend modernisiert werden, natürlich ganz nach den Vorgaben aus Moskau. Auf dem XXII. Parteitag der KPDSU im Herbst 1961 hatte Nikita Chruschtschow einen akkuraten Zeitplan für die Einführung des Kommunismus vorgestellt. In nicht einmal 20 Jahren sollte demnach niemand mehr Miete zahlen oder Geld für Grundnahrungsmittel ausgeben. Mehr noch: es sollte überhaupt kein Geld mehr geben. In Ostberlin dachte man nicht minder euphorisch, zeigt der Historiker Stefan Wolle in seinem neuen Buch über Alltag und Herrschaft in der DDR in den sechziger Jahren.

    "Das hört sich heute wie ein Scherz an, das heißt, es war die Vorstellung, in den Kaufhallen gibt es so viel, dass sich jeder einfach das mitnehmen kann, was er haben möchte. Und das ist nicht nur ein ökonomisches Modell gewesen. Sondern diese Überfülle an Produkten, die im Kommunismus herrschen sollte, sollte sich auch so auswirken, dass es keinen Neid mehr unter den Menschen gibt, keine Missgunst, keine Kriminalität natürlich. Warum soll man noch etwas klauen, wenn man alles haben kann? Und das wurde datiert auf das Jahr 1980. Und jeder der die Sowjetunion im Jahr 1980 kennengelernt hat, der kann ihnen versichern, das war nicht so, dass da eine Überfülle in den Kaufhallen geherrscht hätte."

    Unmittelbar nach dem Mauerbau lag das Jahr 1980 noch in weiter Ferne. Trotzdem reifte in der SED-Spitze allmählich die Vorstellung, man könne mit einem gewaltigen, allumfassenden Modernisierungsschub das Trauma der Eingeschlossenheit der Untergebenen angemessen kompensieren. Stefan Wolle zeigt, gestützt auf einen breiten Quellenfundus – etwa auf Zeitungsartikel, Stasi-Berichte, DEFA-Filme oder literarische Zeitanalysen –, wie sehr die Genossen um Walter Ulbricht von der Modernisierungswut erfasst worden waren und einen groß angelegten Aufbruch nach Utopia planten. Die Zentren in den Bezirkshauptstädten sollten völlig neu gestaltet werden, die chemische Industrie, einer damaligen Parole folgend, sollte nicht nur Brot, Wohlstand und Schönheit bringen, sondern auch pflegeleichtes Plastikgeschirr und bügelfreie Kleider für Mutti. Zudem erlebte das Land hinter der Mauer auch in kultureller Hinsicht eine zaghafte Liberalisierung. Die Songs der Beatles etwa galten plötzlich als Lieder von vier Arbeiterjungs aus Liverpool, nicht mehr als dekadentes Gejaule. Und so vieles andere mehr. Die ehrgeizigen Versprechen der Genossen, vorwärts zum Kommunismus zu stürmen, fielen gerade bei Intellektuellen und Künstlern auf fruchtbaren Boden. Viele nahmen die Zeitprognosen ernst, zeigt Stefan Wolle. In manchen Fällen war das auch mit deutlicher Kritik an der realsozialistischen Wirklichkeit verbunden.

    "Peter Hacks hat das damals in die Formel gebracht in einem Theaterstück: die Sorgen und die Macht. Er sagte, wenn ihr euch den Kommunismus vorstellen wollt, dann macht die Augen zu und stellt euch das Gegenteil von dem vor, was ihr jetzt habt. Das war ernst gemeint. Und das wollte sicherlich nicht die Mehrheit der Leute – die haben mit den Schultern gezuckt und drüber gegrinst und drüber ihre Witze gemacht. Aber es gab doch eine Menge Leute, die sagten: Okay, wir wollen es mal versuchen. Und besonders auf wirtschaftlichem Gebiet tat sich dann auch einiges."

    Vor allem wurde versucht, die starre Planwirtschaft zu liberalisieren, eine Art Marktwirtschaft ohne marktwirtschaftliche Strukturen zu etablieren. Beim berühmt-berüchtigten elften Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 erfolgte dann die Abrechnung mit den moderaten Wirtschaftsreformern in der Partei, gepaart mit einem beispiellosen kulturellen Kahlschlag, etwa dem Verbot der gesamten DEFA-Produktion des Jahres 1965. Bis dahin – zwei, drei Jahre lang – wurde heiter und fröhlich die Idee des sozialistischen Zeitgeistes beschworen und einem recht sonderbaren ideologischen Gemisch gehuldigt. Für Stefan Wolle äußerte sich diese Aufbruchstimmung unter anderem in dem unreflektierten Glauben an den stetigen Fortschritt von Wissenschaft und Technik, der Idee, der Kommunismus sei das teleologische Ende der Geschichte und dem propagandistisch überhöhten Kampf um den Frieden in der Welt. Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall und ein Sowjetbürger, war der große reale Held der Zeit. Der große mythische war Goethes Prometheus.

    "Bedecke deinen Himmel Zeus mit Wolkendunst und so weiter – dieser Prometheus war immer die Symbolisierung, eine Metapher für den sich selbst erschaffenden Menschen. Das hatte eine ganz deutliche antireligiöse, atheistische Spitze. Denn auch das spielt in der DDR eine sehr große Rolle: die kirchenfeindliche atheistische Propaganda. Der Mensch erobert das Weltall. Der Mensch stürmt den Himmel. Der Mensch fliegt zu den Sternen. Das war natürlich ein Himmel ohne Gott, ein Sternenhimmel ohne Gott."

    Und ein Himmel, unter dem es nur ein machtpolitisches Gesetz gab: die Allmacht der Partei. Dem ersten schweren Schlag gegen alle Liberalisierungstendenzen, dem elften Plenum, folgte im Sommer 1968 der nächste: das gewaltsame Ende des Prager Frühlings. Stefan Wolle schildert dieses dramatische Ereignis als zweite große Zäsur in der Geschichte der DDR in den sechziger Jahren, als Schlusspunkt des kurzen Aufbruchs nach Utopia. Es folgte eine lähmende Zeit, voll von Apathie und Stagnation, die auch durch den Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker nicht mehr überwunden werden konnte. Unter den insgesamt 1,8 Millionen Genossen der SED gab es vereinzelte kritische Köpfe. Insgesamt aber kein Potenzial, mit dem eine Rückkehr zu liberaleren Tendenzen hätte erreicht werden können. Die Parteidisziplin stand über allem, urteilt Stefan Wolle. Und damit die Diktatur.

    "Es wird jetzt oft gesucht nach dem Anfang vom Ende der DDR. Das ist so Unsinn. Die Diktatur ist immer der Anfang vom Ende und hat keine wirkliche Basis in der Bevölkerung. Das Schlimme war nur, dass es die DDR, obwohl sie ja irgendwie die Chance hatte in den 60er-Jahren, es nie verstanden hatte, wirklich die große Mehrheit der Bevölkerung für ihre Ideen und für ihr System zu begeistern. Es war die ganzen Jahre hindurch immer ein Zwangssystem, was nur künstlich stabilisiert war, natürlich nicht zuletzt auch durch die weltpolitische Konstellation. Auch das ist ein Faktor, der nicht zu vergessen ist."

    Stefan Wolles Geschichte der DDR-Gesellschaft zwischen Repression und Modernisierungswut richtet sich – implizit – auch gegen eine Deutung, nach der der zweite deutsche Staat nicht mehr als eine sowjetische Satrapie gewesen sein soll. Eben diese Formel hatte der renommierte Bielefelder Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler im letzten Band seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte verwendet. Machtpolitisch war die DDR natürlich nichts anderes als ein Anhängsel Moskaus. Dennoch wurde Wehlers These, dass man die Geschichte der DDR gerade deswegen auch nicht weiter ernst nehmen müsse, völlig zu Recht kritisiert.

    Stefan Wolles Buch ist das beste Beispiel gegen eine solche Ausblendung. Der Berliner Historiker schreibt anschaulich von den überzogenen Versuchen, den besten und modernsten Sozialismus der Welt zu errichten. Und überhaupt ist der Autor ein brillanter Erzähler. Das Buch über den Aufbruch nach Utopia ist geschickt komponiert und weder langatmig oder gar dröge. Auch wenn kein grundsätzlich neues Bild der DDR-Gesellschaft gezeichnet wird, gehört diese erfrischende Synthese von Herrschafts-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte zu den unverzichtbaren Büchern zum Thema. Wer sich eingehend mit der Geschichte der DDR befassen will, findet in "Aufbruch nach Utopia" einen wichtigen und ernst zu nehmenden Wegweiser.

    Nils Beintker über Stefan Wolle: "Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961-1971",
    erschienen im Christoph Links Verlag, ISBN 3861536196, 320 Seiten, 29, 90 Euro. Stefan Wolles Bestseller und Vorgängerband "Die heile Welt der Diktatur" ist ebenfalls bei Ch. Links erschienen.