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DDR-Opferhilfe
Opferbeauftragte fordern Entfristung für Anträge

Nur noch bis Ende des Jahres können Betroffene von SED-Unrecht ihre Ansprüche geltend machen. Viele Menschen finden aber erst nach Jahren die Kraft, sich damit auseinanderzusetzen, sagen Opferbeauftragte. Deshalb sei es wichtig, die Antragsfristen der Rehabilitierungsgesetze zu streichen.

Von Christoph Richter | 21.03.2019
Sigrid Lustinetz sitzt an einem Tisch
Seit ein paar Jahren leidet Sigrid Lustinetz unter den Folgen der DDR-Haft (Deutschlandradio / Christoph Richter)
Das nüchterne Wartezimmer in der Orthopädie im Haus 8 der Universitäts-Klinik Magdeburg ist gut gefüllt. Seit etwa einem Jahr - erzählt der aus Göttingen stammende Chefarzt Christoph Lohmann - kämen immer mehr frühere DDR-Leistungssportler in die Praxis, die über Schmerzen klagen.
Skelettale Abnutzungserscheinungen nennt es Lohmann. Spätfolgen des DDR-Zwangs-Dopingsystems: "Sie erinnern sich sehr genau, welche Medikamente – entweder in Pulverform oder Tablettenform – sie erhalten haben." Manche bräuchten morgens eine gefühlte Ewigkeit, um aus dem Bett zu kommen, erzählt Lohmann.
Die Magdeburgerin Sigrid Lustinetz wusste vom Fluchtversuch ihres Mannes. Sie wurde deshalb 1987 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Ein halbes Jahr davon musste sie absitzen. "Mein Leben ist zerstört worden." Die meiste Zeit verbrachte sie in einer engen, mehrfach belegten Zelle in der Strafvollzugsanstalt Hohenleuben in Ostthüringen. Dort musste sie täglich acht Stunden stehend arbeiten, ohne dass sie sich hinsetzen durfte. Es gab kaum Tageslicht. Heute ist Sigrid Lustinetz durch die Haftfolgen schwer krank.
Schlafstörungen und chronische Beschwerden
"Schlafstörungen, erhöhter Blutdruck, chronische Reflux-Beschwerden."
Bei vielen Patienten tauchen die Spätfolgen des zu DDR-Zeiten erlittenen politischem Unrechts erst im Alter auf. Betroffene fühlen sich schwer belastet. Re-Traumatisierung nennen es Spezialisten, wie Traumaforscher Jörg Frommer von der Universitätsklinik Magdeburg: "Heute wissen wir, dass Patienten die Traumatisierung zunächst zu bearbeiten scheinen. Und dann, vor allem durch den Faktor Alter, das Alte wieder hochkommt."
Nur noch bis Ende des Jahres können Betroffene von SED-Unrecht ihre Ansprüche geltend machen. Aus der Beratungsarbeit wisse man aber, sagt Sachsen-Anhalts SED-Opferbeauftragte Birgit Neumann-Becker, dass viele Menschen erst nach Jahren die Kraft dazu finden, sich mit dem erlittenen Unrecht auseinanderzusetzen. Deshalb sei es wichtig, die Antragsfristen der Rehabilitierungsgesetze zu streichen. Dies müsse so schnell wie möglich geschehen.
"Wenn so eine Entfristung nicht kommt, können sie ab dem 1.1.2020 so einen Antrag nicht mehr stellen. Sie können nicht mehr rehabilitiert werden, nach politischer Haft, nach beruflicher Zurücksetzung oder nach verwaltungsrechtlichen Entscheidungen die nicht rechtsstaatlich waren."
Drohende Rentenausfälle
Bedeutsam werde das beispielsweise bei der Rentenberechnung. Also wenn Betroffene feststellen, dass vielleicht Haftjahre am Ende zu Rentenausfällen führen. "Die Rentenkonto-Klärung ist der Anlass. Da man sieht, okay, hier fehlen mir zwei Jahre. Was war denn in den zwei Jahren? Ach, da war ich ja in Haft. Wenn jemand rehabilitiert worden ist, wird diese Haftzeit im Rentenkonto anders angerechnet, als wenn man mit einem kriminellen Grund in Haft war."
Die Entfristung sei auch aus Gerechtigkeitsgründen geboten. Denn während SED-Funktionäre Extra-Renten-Zahlungen aus DDR-Sonderversorgungen erhalten, würden Opfer des SED-Regimes - ohne Entfristung der Unrechtsbereinigungsgesetze - leer ausgehen. Das sei für die Betroffenen eine schwer zu vermittelnde Gerechtigkeitslücke, sagt Sachsen-Anhalts Opferbeauftragte Birgit Neumann-Becker.
Auch Dopingopfer sollen über das Jahr 2019 hinaus entschädigt werden, fordert Opferanwältin Neumann-Becker: "Das wäre aus meiner Sicht sinnvoll. Hier erleben wir in den Beratungen, dass es eine hohe Schamgrenze gibt. Die Betroffenen fühlen sich schuldig, ihren Trainern gegenüber, der Öffentlichkeit gegenüber. Weil sie ein ethisches Problem haben. Und deshalb hilft die zeitliche Begrenzung nicht."
Traumata wirken sich auf folgende Generationen aus
In einer immensen Häufung beobachte man zudem bei den Nachfahren von Dopingopfern, dass sich die Traumatisierungen auf die nachkommende Generation übertragen. Sie erleiden – so Neumann-Becker weiter - psychische Erkrankungen, wie Suchtschäden oder Depressionen. Das belege jetzt auch eine wissenschaftliche Studie, die in Schwerin angefertigt und kürzlich vorgestellt wurde.
Eine der Betroffenen ist die Hallenser Speerwerferin Yvonne Gebhard, Dopingopfer des DDR-Leistungssportsystems. Sie fühle sich schuldig, obwohl sie erst in den 1990er-Jahren erfahren hat, das sie durch ihre - in Halle heute noch aktive Trainerin – gedopt wurde. Dass aber jetzt ihr Sohn davon betroffen ist, mache sie hilflos, sagt Yvonne Gebhard: "Gerade bei meinem Sohn dachte ich, der geht seinen Weg steil nach oben. Der hat ein Jahr an der Uni gearbeitet. Danach wurden die Depressionen so schlimm, suchtkrank zu werden."
Auswirkungen des Konsums des DDR-Dopinghausmittels Oral-Turinabol, das sie einnehmen musste. Und den Hormonhaushalt des Körpers nachhaltig geschadet hat. Sie dachte damals, es wären Vitamine, erzählt Yvonne Gebhardt. Gerade für Fälle wie ihren Sohn, sagt sie noch, müssen die Antragsfristen für SED-Opfergesetze gestrichen werden. Und zwar schleunigst.