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DDR-Vergangenheit
Schüler lernen von Zeitzeugen

Geschichtsunterricht hautnah - das ist das erklärte Ziel der Projektwerkstatt "Lindenstraße 54" in Potsdam. Schüler sollen von direkt Betroffenen über das Leben in der DDR erfahren. Bei vielen Teilnehmern kommt das gut an.

Von Axel Flemming | 20.03.2014
    Das Archiv der Stasiunterlagenbehörde in Berlin. Die Zukunft der Behörde ist ungewiss.
    Die Zusammenarbeit mit den Stasi-Behörden - nur ein Thema von Zeitzeugen, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind. (dpa / picture-alliance / Klaus-Dietmar Gabbert)
    28 junge Menschen sitzen in der Gedenkstätte Lindenstraße und blicken gebannt zu Angelika Cholewa. Die 59-Jährige erzählt der 10b des Potsdamer Einstein Gymnasiums ihre Geschichte. Wie sie als 17-jährige Schülerin von der DDR-Staatssicherheit, der Stasi erpresst wurde zur Mitarbeit; da war sie etwa so alt, wie die Schüler jetzt.
    "An dem Tag war meine Kindheit zu Ende. Und ich würde sagen, mein gesamter Lebenslauf basiert auf diesem einen Erlebnis. Also zu wissen: Eltern können nicht schützen, Menschen zwingen mich meine besten Freunde zu verraten."
    Gebannt hören die Schüler der großen Frau mit den schwarzen Locken zu, verfolgen jede ihrer Gesten, wie sie ihre Hände faltet und von einer Welt erzählt, die für die meisten hier schon in den Geschichtsunterricht gehört. Der 16-jährige Willi und seine Mitschülerin, die 15-jährige Annemarie haben in der Schule schon viel Faktenwissen über das Land ihrer Eltern gelernt:
    "Wir sind noch mittendrin und sind jetzt kurz vor dem Mauerfall im Geschichtsunterricht."
    "Ich denke schon, dass es einen ganz bestimmten Verlauf dieser Geschichte gab, es hat sich manches ergänzt und irgendwann den Knall, und dann musste die Mauer einfach geöffnet werden."
    Schüler löchern Zeitzeugin mit Fragen
    Doch eine Begegnung mit einer Zeitzeugin ist viel beeindruckender, als der Stoff im Schulbuch, das ist den Schülern deutlich anzusehen. Sie nutzen die Gelegenheit, Angelika Cholewa mit Fragen zu löchern. Hatte sie wirklich als Schülerin mit der Stasi zusammenarbeiten müssen? Wie war das, als sie das erste Mal den Stasi-Offizieren gegenüber saß? Und wie, als sie die Mitarbeit verweigerte. Wie der spätere Fluchtversuch, der scheiterte. Und wie die Zeit im Gefängnis? Angelika Cholewa versucht keine Fragen offen zu lassen, das war nicht immer so, erzählt sie:
    "Ich konnte bis vor zwei, drei Jahren nicht darüber reden; und habe dann dieses schlechte Gewissen in mir gehabt."
    Cholewa ist eine von ungefähr 20 Zeitzeugen, die in der Projektwerkstatt der Potsdamer Gedenkstätte ihre Geschichte erzählen. Drei- bis Viertausend Schüler kommen jährlich in die Lindenstraße, um mehr über die DDR zu erfahren. Die Leiterin Catrin Eich hofft, dass die jüngsten Empfehlungen der Enquetekommission des Brandenburger Landtags zur Aufarbeitung der Stasi-Diktatur im Land auch umgesetzt werden. Diese rät nämlich nicht nur, dass Schüler sich mit dem Diktaturcharakter der DDR im Vergleich zu einem demokratischen Rechtsstaat auseinandersetzen, sondern auch Zeitzeugen in den Unterricht einbezogen werden:
    "Es ist so, dass es im Land nicht überall ankommt. Es ist manchmal ein bisschen schwierig, dass es auch jeder in der Schule in die Hand bekommt, den es betreffen könnte."
    Jugendlichen fehlt Bezug zur DDR
    Denn nicht in allen Schulen drängt man sich um Aufklärung über die DDR-Zeit. Im Herbst wird es 25 Jahre her sein, dass die Mauer fiel. Heute hätten viele Jugendliche zwangsläufig keinen Bezug mehr zum Staat DDR, beobachtet Catrin Eich. Das sei auch schon anders gewesen:
    "In den ersten Jahren gab es doch hier noch Auseinandersetzungen auch mit den Zeitzeugen, die in diese Richtung gingen: 'Aber meine Eltern haben gesagt, das war doch alles anders gewesen'. Oder dass das Leben der Eltern in Ordnung gewesen ist und sie praktisch nicht nachvollziehen können, dass andere Repressalien erlitten haben. Das ist jetzt eher seltener geworden."
    Heute hingegen gehe es um andere Themen. Die Gedenkstättenleiterin zählt auf:
    Wie möchte ich mein Leben gestalten, wo sollte ich mich einmischen in die Gesellschaft, an welcher Stelle müsste ich Zivilcourage zeigen.“
    Annemarie und Willi nicken Catrin Eich zu. Sie sind sichtlich angetan von der Begegnung mit Zeitzeugin Angelika Cholewa:
    "Ich fand's auch schön, dass Sie uns nicht nur Fakten genannt hat: 'Dann war ich da, dann war ich da', sondern auch auf einer gewissen Gefühlsbasis uns berichten konnte."
    "Ich fand es auch super interessant. Und alle Fragen wurden super beantwortet."
    Brandenburger tun sich mit eigener Geschichte schwer
    Carla Schmidt-Dietl lächelt zufrieden. Der Geschichts- und Politiklehrerin der 10b ist es wichtig, dass die Zeiten deutscher Diktatur erlebbar werden. Die Nazizeit ebenso wie die DDR. Es gehört zum Pflichtprogramm der Schule, dass die neunte Klasse zur Gedenkstätte Sachsenhausen fährt und die zehnte dann zum Projekttag in die Lindenstraße kommt, erzählt die Lehrerin. Annemarie und Willi finden das gut. Außerhalb des Geschichtsunterrichtes sei die DDR doch kaum Thema:
    "Zu Hause schon und auf Familienfeiern: 'Ach weißt du noch, da haben wir versucht aus der DDR zu flüchten', aber halt nicht so tiefgründig, wie wir das jetzt zum Beispiel hier erlebt haben."
    "Es wird nicht mehr viel darüber geredet. Mit unseren Freunden gar nicht, nur im Geschichtsunterricht. Aber zu Hause reden wir da schon drüber. Und dann gibt es auch…, wenn im Fernsehen eine Dokumentation läuft, dann unterhält man sich schon über die Vor- und Nachteile, ja und dann kommt es auch zur Diskussion."
    Wenn diskutiert werde, wäre doch dein Lernziel erreicht, sagt Lehrerin Carla Schmidt-Dietl zufrieden – zu tun aber, sei noch viel:
    "Ich denke in unserer brandenburgischen Gesellschaft haben wir unter uns halt viele Opfer, aber auch Täter. Und mit sich selbst umzugehen - Opfer haben wir gerade gehört, die gehen langsam mit sich und berichten Erlebtes - aber wer redet schon gerne über Taten. Damit tun wir uns in Brandenburg glaube ich noch ein bisschen schwer."