Donnerstag, 18. April 2024

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Debatte über Dokumentarfilme
Zwischen Kostendruck und Publikumserwartung

Auch dank der Streamingdienste sind Dokumentarfilme beliebt wie lange nicht. Aber wie soll die Wirklichkeit aussehen, die sie abbilden? Seit dem Fall "Lovemobil" wird diese Frage diskutiert. Filmschaffende kritisieren nun: Das Publikum erwartet immer mehr – doch parallel wächst der Kostendruck der Redaktionen.

Von Michael Borgers / Jan Tenhaven im Gespräch mit Annika Schneider | 15.04.2021
Ein Wohnmobil steht auf einem Parkplatz
Ein sogenanntes Lovemobil auf einem Parkplatz - eine dpa-Aufnahme von 2012, keine Szene aus dem Film Lovemobil (picture alliance / dpa | Julian Stratenschulte)
Auch gut drei Wochen nach der Enthüllung sorgt Lovemobil, ein Film über Prostitution auf dem Land in Niedersachsen, für Diskussionen. Am 22. März wurde bekannt, dass sich der NDR von dieser preisgekrönten und von ihm mitfinanzierten Kino-Dokumentation distanziert. Strg-F, eine Redaktion des eigenen Hauses, hatte recherchiert, dass Teile des Films inszeniert wurden. Ein Stilmittel, das in Dokumentationen durchaus üblich ist. Das Problem in diesem Fall: Lovemobil-Macherin Elke Margarete Lehrenkrauss hatte ihre Redaktion nicht informiert.
Was darf ein Dokumentarfilm?
Ein Dokumentarfilm ist keine Reportage, sondern ein künstlerisches Produkt. Es nutzt Original-Dokumente und fügt nachgestellte oder bearbeitete Szenen hinzu. Die Vermischung der Formen kann irritieren. Wo liegen die Grenzen, was sind die Unterschiede?
Gegenüber dem Deutschlandfunk erklärte Lehrenkrauss daraufhin, am Tag nach der Enthüllung, sie habe vor der Entscheidung gestanden, den Film zu beenden – oder eben Teile mit einer Laienschauspielerin nachzustellen. Sie entschied sich, weiterzumachen. Und erklärte, als Autorin, Regisseurin und Produzentin sei der Druck, den Film fristgerecht abliefern zu können, immens gewesen.
Eine Kritik, die der NDR zurückweist. "Es wäre überhaupt kein Problem gewesen, diesen Film als Hybrid, als Grenzgänger, als fiktionale Doku, als Doku-Fiction, als was auch immer zu produzieren", sagte der für den Film zuständige Redakteur Timo Großpietsch im Deutschlandfunk. Nur hätte man eben kennzeichnen müssen, dass es sich nicht um einen journalistischen Dokumentarfilm handelt.

Fall Lovemobil tritt Grundsatzdebatte los

In der Folge wurde viel über den Fall diskutiert und berichtet. Für viele Medien war er ein Skandal, aber auch aus der Branche kam Kritik. Lehrenkrauss habe den Vertrauenspakt mit dem Zuschauer erschüttert, urteilte etwa der Dokumentarfilmer Andres Veiel in der "Süddeutschen Zeitung". Andere, wie Stephan Lamby oder Monika Treut, unterzeichneten eine Onlinekampagne, die sich für Transparenz und Ehrlichkeit im Dokumentarfilm einsetzt.
Die "Zeit" stellte fest, "zwischen dem Anspruch an Authentizität, der Suche nach einer krassen Geschichte und den realen Produktionsbedingungen" würde das Genre des Dokumentarischen "regelrecht zermalmt". Die Diskussion über Lovemobil sei deshalb positiv.
Ebenfalls in der Wochenzeitung äußerte sich in dieser Woche Lehrenkrauss noch einmal. Sie entschuldigte sich erneut, gab dem NDR aber auch eine Mitschuld. Der Redakteur habe viele Projekte gehabt und auch selbst gedreht. Sie habe ihn nicht nerven wollen. Ähnlich äußert sich in dem Interview Sabine Rollberg, Lehrenkrauss’ ehemalige Dozentin. Der NDR hätte einen Debütfilm wie Lovemobil "intensiver betreuen" müssen.

Kreativen-Vertreter: Wachsender Druck

Die Rolle der Redaktionen ebenfalls teilweise kritisch bewertet die Deutsche Akademie für Fernsehen (DAFF), die sich als "Stimme der Kreativen des Deutschen Fernsehens" versteht. Genau wie Filmförderungen und Festivals präferierten die Sender oft Erzählweisen, deren Dramaturgie "dokumentarische Unebenheiten" möglichst eliminieren sollten, heißt es in einer Pressemitteilung. Dadurch gerieten die Filmemacher unter Erfolgsdruck, "dem mit dokumentarischen Mitteln zunehmend nicht mehr standzuhalten ist". Die Finanzierung, die nur noch zu einem geringen Teil vom Fernsehen getragen würde, erzeuge ökonomischen Druck
Kritik von Dokumentarfilmern
Die AG Dok kümmert sich um die Interessen der Dokumentarfilmer. Zwar gebe es heute eine vielfältige Szene, sagte 2020 Thomas Frickel, Vorstand des Berufsverbands. Doch seien auch neue Probleme hinzugekommen. In der Pflicht sieht er ARD und ZDF.
"Generell sind Dokumentarfilme oft unterfinanziert", ergänzte im Deutschlandfunk Jan Tenhaven, Dokumentarfilmregisseur und Mitverfasser der DAFF-Erklärung. Gleichzeitig mit diesem Kostendruck sei aber auch die Erwartungshaltung des Publikums gewachsen.
Durch aufwändige Produktionen von Anbietern wie Netflix seien neue Sehgewohnheiten entstanden, die eine "Hollywood-Dramaturgie" verlange, so Tenhaven. Dadurch entstehe die Gefahr, "dass sich Kollegen die Dramaturgie zu sehr zurecht biegen".
Diese Entwicklungen seien aber keine Entschuldigung dafür, die Wirklichkeit zu verzerren, betont Tenhaven. Filmisch sei grundsätzlich alles möglich, auch Inszenierungen wie bei Lovemobil, nur müsse das dem Zuschauer transparent gemacht werden.