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Debatte über Gesetzentwurf in der Türkei
Kritik an der Kinderehe nimmt zu

In den meisten islamischen Ländern ist das Heiratsalter gesetzlich festgelegt. Auch in der Türkei. Dort liegt es bei 18 Jahren. Zuletzt hat die türkische Regierung für Schlagzeilen gesorgt, als sie einen Gesetzesentwurf vorlegte, den viele so interpretierten: Männer, die Mädchen missbrauchen, könnten aus der Haft entlassen werden, wenn sie die Geschädigte heiraten.

Von Hüseyin Topel | 14.12.2016
    Auf dem Bild ist die Eheschliessung nur gespielt, in vielen Ländern ist die Kinderehe aber Wirklichkeit.
    Auf dem Bild ist die Eheschliessung nur gespielt, in vielen Ländern ist die Kinderehe Wirklichkeit. (AFP / Gabriel Bouys)
    Vor wenigen Wochen sorgte in der Türkei ein Hashtag für Aufregung. Auf Twitter und in anderen sozialen Medien schrieben alle über #TecavüzMesrulastirilamaz - auf Deutsch: Vergewaltigung kann nicht legalisiert werden. Grund dafür war ein Gesetzentwurf der AKP-Regierung. Es geht um Männer, die im Gefängnis sitzen, weil ihre Ehefrauen zum Zeitpunkt der Heirat minderjährig waren. In diesem Gesetzesentwurf, der vorerst zurückgezogen wurde, aber bis heute für heftige Debatten sorgt, heißt es:
    "Bei allen sexuellen Missbrauchshandlungen, die bis zum 16.11.2016 stattgefunden haben und bei denen es keine Gewalttaten oder Bedrohungen gegeben hat, wird die Strafe ausgesetzt, wenn der Täter die geschädigte Person zur Ehefrau nimmt."
    "Wenn dieser Gesetzesentwurf rechtskräftig wird, dann werden sich alle Pädophile vor den Grundschulen versammeln!", hieß es auf Twitter, als dieser Gesetzentwurf in der Türkei öffentlich wurde. Ein anderer Twitter-Nutzer schrieb: "Wenn wir denken: So weit werden sie schon nicht gehen, belehren sie uns eines Besseren." Auch bekannte Künstler brachten ihren Unmut deutlich zum Ausdruck. Etwa die prominente Schauspielerin Demet Akbag. Sie schrieb: "Keinen Schutz für Vergewaltiger!" Die Reaktionen aus den Reihen der Regierung ließen nicht lange auf sich warten. Der in Bedrängnis geratene Justizminister Bozdag sagte:
    Kritik auch aus Regierungskreisen
    "Es handelt sich bei diesem Gesetzesentwurf keinesfalls um die Legalisierung von Vergewaltigungen. Diese Behauptung ist eine Manipulation bestimmter politischer Kreise. Es geht vielmehr um den Schutz von Familien, die darunter leiden, dass Ehemänner wegen Vergewaltigung bestraft werden, obwohl keine Gewalt angewendet wurde. Es handelt sich im Gegenteil um sexuelle Handlungen, die mit Einwilligung der Minderjährigen und Zustimmung ihrer Familien stattgefunden haben."
    Mit diesen Worten zog der türkische Justizminister nur noch schärfere Kritik auf sich. Auch Ministerpräsident Yildirim wurde von Journalisten mit dem Gesetzesentwurf konfrontiert und verteidigte die Gesetzesänderung:
    "Bei manchen Ehen sind die Partner noch minderjährig. Sie wissen aber nicht, dass das illegal ist und dann bekommen sie Kinder. Dann kommt der Vater ins Gefängnis und dann ist die Mutter mit den Kindern alleine. Es gibt rund 3000 solcher Familien. Wir sollten diese Familien wieder zusammenführen."
    Auch dieser Erklärungsversuch des türkischen Ministerpräsidenten Yildirim stieß auf Protest. Selbst regierungsnahe Medien sprachen von einem fatalen Gesetzesentwurf. Er spiegelt aber die Realität in der Türkei wider, sagt die türkische Familientherapeutin Sevdanur Özcan:
    Eine Frage der Kultur?
    "Also in Deutschland kenne ich keine unter 16-jährige junge Frau, die geheiratet hat. In der Türkei weiß ich, dass es verbreitet ist, vor allem in den ländlichen Teilen Südostanatoliens. Dieses Phänomen gibt es. Leider."
    In einer Talkshow eines regierungsnahen Senders, sorgte dann ein AKP-Politiker für einen weiteren Skandal, als eine Moderatorin ihn fragte, ob er es befürworte, wenn ein 13-jähriges Mädchen nach islamischem Recht verheiratet werde:
    "Ja, das ist korrekt, wenn sie verheiratet wird. Denn der, den man als ihren Vergewaltiger bezeichnet, ist sowieso ihr Ehemann, wenn sie bereits islamisch getraut wurden. Außerdem finde ich es nicht richtig, wenn man unter Verweis auf universelle Werte uns ständig mit irgendwelchen westlichen Rechtsvorstellungen belehren will. In unserer Kultur gelten nun einmal andere Maßstäbe."
    Die türkische Regierung schien also geschlossen hinter dem Entwurf zu stehen. Doch dann empfahl Staatspräsident Erdogan, den Gesetzesentwurf zu korrigieren. Daraufhin wurde das Gesetz zunächst zurückgezogen.
    Traditionelle Erklärungsmuster
    Wer die Eheschließung mit minderjährigen Mädchen befürwortet, beruft sich immer wieder auch auf Mohammed. Er soll seine Ehefrau Aisha geheiratet haben, als sie neun Jahre alt war. Der türkische Historiker Resit Haylamaz erforscht seit Jahren die Biografie Mohammeds und kommt zu anderen Erkenntnissen:
    "Aisha war die dritte Ehefrau von Mohammed. Diese Ehe kam vier Jahre nach seiner zweiten Ehe zustande, als Aisha mindestens 18 Jahre alt war, wenn nicht sogar 21. Aber minderjährig war sie auf keinen Fall. "
    Ein anderes Argument derer, die eine Heirat mit Minderjährigen befürworten: In warmen Ländern werde die körperliche Reife in deutlich jüngerem Alter erreicht. Die Islamwissenschaftlerin Muna Tatari, Juniorprofessorin am Seminar für Islamische Theologie der Universität in Paderborn, lässt dieses Argument nicht gelten:
    "Wenn man die klassische islamische Tradition nimmt, ist religiös voll mündig eine junge Frau und ein junger Mann dann, wenn sie körperlich in der Pubertät sind und gleichzeitig aber auch wenn sie geistig reif sind. Also, es ist nie nur an der körperlichen Reife festgemacht worden, wenn es um islamisch rechtliche Sachen geht."
    Zwar ist die Eheschließung in der Türkei gesetzlich geregelt, doch immer wieder wird das Standesamt umgangen, weil eine Familie die Zeremonie vor einem Iman für ausreichend hält. Die Familientherapeutin Sevdanur Özcan findet das bedenklich: So könnten Kinderehen geschlossen werden, ohne dass die Behörden etwas davon erfahren.
    "Die Praxis, die wir in der Türkei haben, wenn man es vor einem Imam macht, hat ja keine rechtliche Bindung. Das heißt, ich kann das eingehen, aber ich könnte damit vor keinem Gericht meine Rechte auf Unterhalt, mein Recht auf Erbschaft, ich könnte nichts einklagen. Also ist sie für mich ungültig."
    Die Ehe im Islam
    Welchen theologischen Stellenwert der Bund der Ehe im Islam hat und worauf es im Kern ankommt, erläutert die islamische Theologin Muna Tatari:
    "Dann gibt es ja diesen Koranvers in der 30. Sure, wo es heißt, dass Gott die Menschen zu Mann und Frau geschaffen hat und dass sie Ruhe beieinander finden und er hat Liebe und Zärtlichkeit zwischen beide gesetzt. Diese Ruhe 'Sakina' ist ja im islamisch-theologischen Kontext die Ruhe, in der auch Gott wahrgenommen werden kann. Sozusagen die Stille, in die hinein Gott sich offenbart."
    Dies sei aber nicht gewährleistet in einer erzwungenen Ehe im Kindesalter. Muna Tatari:
    "Es gibt diesen Satz in der zweiten Sure: La ikra hafiddin. Es gibt keinen Zwang in der Religion. Der arabische Begriff für Zwang 'ikrah' kommt von derselben Wurzel wie hassen. Und dahinter steckt ja theologisch die Einsicht, die koranisch grundgelegt ist, dass wozu ich gezwungen werde, das hasse ich irgendwann. Natürlich hat das dann eine Relevanz in Bezug auch darauf, wie Ehen entstehen, wie Ehen gestiftet werden. Das muss, wenn es wirklich Segen tragen will, ein Weg sein, der ohne Zwang passiert."
    Die Familienberaterin Özcan ergänzt, dass ausschließlich junge Mädchen verheiratet würden - keine Jungen.
    "Es ist ein gesellschaftliches Phänomen, was zu 99,9 Prozent junge Frauen, junge Mädchen betrifft. Ich kenne noch keinen Fall, wo der 14-jährige Sohn heiraten musste eine 30-jährige Frau, sondern es ist genau andersrum. Sie müssen sich vorstellen: Das sind 14-jährige Mädchen, die heiraten. Die sollten eigentlich in dieser Zeit zur Schule gehen. Also wenn man das auf das deutsche Schulsystem überträgt, sind das Achtklässler, die heiraten."
    Die Kritik an der Kinderehe nimmt zu - egal ob in der Türkei oder bei Türkischstämmigen in Deutschland. Zurzeit ist aber noch offen, ob solche Einwände gehört werden, wenn eine veränderte Fassung des Gesetzentwurfs vorgestellt wird.