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Debatte über Inzest
"Irritierendes rechtspolitisches Signal"

Das Votum des Deutschen Ethikrates zur Legalisierung des Inzests hält der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff für falsch. Die Familie sei ein emotionaler Schutzraum für ihre Angehörigen - deswegen müsse Inzest ein bewährtes Sozialtabu bleiben, sagte er im DLF.

Eberhard Schockenhoff im Gespräch mit Michael Köhler | 27.09.2014
    Ein Pärchen hält sich an den Händen, von hinten fotografiert.
    Das Votum des Deutschen Ethikrates besagt, dass die Strafbarkeit einvernehmlichen Verkehrs unter erwachsenen, nicht miteinander aufgewachsenen Geschwistern aufzuheben sei. (picture alliance / dpa)
    Michael Köhler: Nicht nur Unions-Politiker reagierten in diesen Tagen irritiert und ablehnend auf das Votum des Deutschen Ethikrates zur Liberalisierung und Legalisierung des Inzests. Das Votum des Deutschen Ethikrates besagt nämlich, dass die Strafbarkeit einvernehmlichen Verkehrs unter erwachsenen, nicht miteinander aufgewachsenen Geschwistern aufzuheben sei. Das betrifft nur wenige, aber es erzeugt eine große Aufregung. Kurz: Inzest soll erlaubt sein. Man könnte es sich leicht machen und sagen, klar, der Staat hat im Schlafzimmer nichts verloren. Missbrauch und Vergewaltigung, die sind ja strafrechtlich woanders schon längst geregelt. Ich habe Eberhard Schockenhoff, den ordinierten Freiburger Professor für Moraltheologie und Herausgeber der Zeitschrift für medizinische Ethik, gefragt: Vollzieht der Ethikrat damit nicht etwas, was gesellschaftlich auch in Nachbarländern längst akzeptiert und praktiziert wird?
    Eberhard Schockenhoff: Die meisten europäischen Staaten kennen weiterhin ein strafrechtliches Inzestverbot. Das ist nur Frankreich, das hat seit Napoleon eine Ausnahme. Aber der entscheidende Grund, warum das auch ein strafrechtlich bewährtes Sozialtabu bleiben sollte, ist, dass die Familie ein emotionaler Schutzraum ist für die Familienangehörigen, insbesondere für die Kinder, die darin aufwachsen, und da stellt dieses Tabu sicher, dass der Vater oder der ältere Bruder für die Schwester, die Tochter kein potenzieller Sexualpartner ist, und das ist eine wichtige Schutzfunktion. Das ist auch für die Identität, für die gedeihliche Entwicklung der Familienangehörigen wichtig, dass dieser familiäre Nahraum frei ist von Rollendiffusionen oder Rollenunklarheiten. Deshalb hat das seinen guten Sinn.
    Köhler: Es wird nicht wundern, dass Sie als katholischer Moraltheologe wahrscheinlich ein Minderheitenvotum dagegen abgegeben haben.
    Schockenhoff: Ja. Schon die Entscheidungsfindung, dass wir uns überhaupt damit befassen, war aus meiner Sicht sehr unglücklich. Wir hatten nämlich eine Fachtagung, eine öffentliche Anhörung, und unter dem Eindruck dieser Fachexpertise hatten wir zunächst beschlossen, dass wir uns nicht mit diesem Thema befassen, weil das ja auch nicht der Kernauftrag des Ethikrates ist.
    Köhler: Eben! Man wundert sich. Worin liegt die Dringlichkeit? Bisher war es Sterbehilfe ...
    Schockenhoff: Die Arbeit besteht ja eher in den Problemen der Lebenswissenschaften. Dann erreichte uns ein Brief von diesem Geschwisterehepaar, das da immer in der Presse zitiert wird, und einen Anwalt hatten sie genommen und er drohte uns damit, wenn wir uns nicht damit befassen, dann würden sie an die Presse gehen und das als einen Skandal ansehen. Unter dem Eindruck dieser anwaltlichen Drohung hat der Ethikrat dann doch noch einmal die Sache beraten und dann beschlossen, doch in einer Stellungnahme sich zu äußern. Ich empfand das als sehr unglücklich. Die ganze Stellungnahme erscheint mir eigentlich nicht opportun.
    Köhler: Verstehe ich da gerade richtig, dass der Ethikrat gewissermaßen gedrängt worden ist oder sich hat treiben lassen?
    Schockenhoff: Ich kann natürlich nicht sagen, welches die Motive der einzelnen Mitglieder waren, noch einmal eine andere Entscheidung zu fällen. Aber es gab dieses Schreiben des Anwaltes, das liegt vor, und es gab die zweite Befassung, die Revision des Entschlusses, sich nicht damit zu befassen.
    Köhler: Professor Schockenhoff, das eugenische Argument, sage ich mal, das zieht ja nicht mehr. Aus NS-historischer Sicht geht das nicht, und potenziellen Nachkommen das Lebensrecht abzusprechen, geht sogar aus katholischer Sicht auch nicht. Missbrauch, Vergewaltigung sind anderweitig strafrechtlich geregelt. Ausnahmen gibt es auch, wenn Stiefvater und Tochter was miteinander haben, oder gleichgeschlechtliche Geschwister. Warum ist die Familie in Gefahr?
    Schockenhoff: Es kommt immer wieder vor, dass bei familiärem Missbrauch aufgrund von Beweismängeln am Schluss keine Verurteilung möglich ist, und deshalb ist das auch in diesen Fällen ein Auffang-Tatbestand. Das gesellschaftliche oder rechtspolitische Signal, das man durch eine Einschränkung oder gar Aufhebung der Strafbarkeit geben würde, wäre, sexueller Missbrauch ist schlimm, aber wenn es in der Familie geschieht, dann ist das noch einmal anders zu bewerten. Gerade in der Familie ist ja - das ist bekannt - eine hohe Dunkelziffer und dort ist sexueller Missbrauch besonders schlimm, weil hier der emotionale Rückzugsraum fehlt, und deshalb sollte dieses irritierende rechtspolitische Signal nicht gegeben werden, zum gegenwärtigen Zeitpunkt unter keinen Umständen.
    Köhler: Gut. Diese, Ihre Position ist, glaube ich, klar geworden. Nun sprechen wir im Kulturprogramm, darum wird Sie vielleicht diese abschließende Frage nicht überraschen. Ein gewichtiges Argument, ein kulturelles Argument steht nicht im Strafgesetzbuch. Es ist so etwas - ich nenne das mal, was dadurch passieren würde, wenn man das legalisiert - die Aufhebung einer genealogischen Kette. Oder man könnte sagen, vielleicht stehen wir gerade in unserer Kultur in der Mitte eines antigenealogischen Projekts, Kontinuitäten aufzukündigen, Weitergabe nicht zu vollziehen.
    Schockenhoff: Das ist ein zusätzlicher Aspekt. Nur wird das natürlich weniger durch mögliche Inzestvorfälle in Frage gestellt, sondern durch die modernen Reproduktionstechniken wird das in Zukunft möglicherweise, je nachdem wie der Gesetzgeber das regulieren wird, stärker auftreten, dass nicht mehr eindeutig bestimmbar ist, welche Person die Vaterrolle, die Mutterrolle hat, dass diese Rollen aufgespalten werden, dass es einen genetischen Vater, eine genetische Mutter, eine Leihmutter, einen sozialen Vater, eine soziale Mutter gibt. Das ist ein starkes Argument dafür, dass der Gesetzgeber bislang Leihmutterschaft und Eispende bei uns in Deutschland nicht hinnehmen möchte, weil er gerade die Identitätsermöglichung weiterhin aufrecht erhalten möchte und die Schwierigkeiten, eine eindeutige Identität über die genealogische Herkunftslinie zu finden, die möchte er nicht vergrößern.
    Köhler: Sie sind - und das ist, glaube ich, hinlänglich klar geworden - für die Beibehaltung dieses Tabus?
    Schockenhoff: Ja.
    Köhler: Der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, Mitglied des Deutschen Ethikrates, zum Votum des Rates, den Inzest zu legalisieren.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.