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Debatten über Hintergründe
Krude Thesen zur Krawallnacht von Stuttgart

Die Debatte über die Hintergründe der Ausschreitungen in Stuttgart wird zunehmend kontrovers und mit kruden Thesen geführt.

24.06.2020
    Menschen stehen vor einem geplünderten Geschäft in der Stuttgarter Marienstraße.
    Randale und Plünderungen in Stuttgart (dpa / Julian Rettig)
    Der parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Stefan Müller, sorgte mit seiner Analyse auf Twitter für breiten Widerspruch. Er schrieb: "Wir haben in Deutschland ein Problem mit Migranten, die keinerlei Respekt vor der Polizei haben. Angestachelt von den Rassismus-Diskussionen der letzten Wochen fühlen sie sich als Opfer und enthemmt durch Alkohol und Drogen entlädt sich der Hass auf Polizisten." Der Hörfunk- und Fernsehmoderator Micky Beisenherz bezeichnete ebenfalls auf Twitter Müllers Einlassungen als "bittere und billige Analyse". Verschiedene Bürgerinnern und Bürger aus Müllers Wahlkreis Erlangen-Höchstadt warfen dem Politiker Populismus und eine Sprache der AfD vor. Berlins Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement, Sawsan Chebli (SPD), meinte, solche Aussagen seien bester Nährstoff für noch mehr Hass und Gewalt gegen Migranten.
    Der Autor und "Welt"-Kolumnist Henryk M. Broder erinnerte an die Judenverfolgung während der Herrschaft der Nationalsozialisten. "Jetzt hat auch Stuttgart seine kleine Kristallnacht erlebt", schrieb er in seinem Blog "Die Achse des Guten". Der Journalist Georg Heil sprach von einem "grotesken" Vergleich, auch andere äußerten sich irritiert. Der Träger des Preises der Leipziger Buchmesse und des Deutschen Buchpreises, Sasa Stanisic, nannte die Aussage "unsäglich dumm". Broder legte dem Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn ferner nahe, er hätte die Geschehnisse mit der Kölner Silvesternacht 2015/2016 vergleichen sollen: "Er hätte zum Beispiel auch sagen können: ‚Wir werden es nicht zulasssen, dass Kölner Verhältnisse in Stuttgart einreißen.‘" Der Text schließt mit der Bemerkung: "Stuttgart ist nur noch das Köln des Südens." Damals gab es in Köln unter anderem sexuelle Übergriffe durch zumeist junge Männer aus Nordafrika.
    Grünen-Politiker Palmer fordert rasche Aufklärung

    Der Grünen-Politiker und Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer machte vor allem junge Männer als Täter aus und führte auf Facebook aus: "Von diesen wiederum haben nahezu alle ein Aussehen, das man im Polizeibericht als ‚dunkelhäutig‘ oder ‚südländisch‘ beschreiben würde. ‚Weiße Männer‘ kann ich kaum entdecken. In den Videos der Krawallnacht haben fast alle Täter ein ähnliches Erscheinungsbild wie die meisten Männer auf diesem Foto." Palmer verlangte, genauer hinzuschauen und auch "unbequeme Erkenntnisse" nicht auszuklammern. Zudem forderte er eine rasche Aufklärung der Ereignisse und verwies als Negativbeispiel ebenfalls auf die Silvesternacht von Köln 2015.
    Baden-Württembergs Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU) sagte der "Bild"-Zeitung auf die Frage nach der Bedeutung von Migrationshintergründen und Integrationsversagen: "Jedenfalls sollten wir es mit Multikulti nicht übertreiben. Multikulti hat seine klaren Grenzen in den geltenden Gesetzen, insbesondere in den Strafgesetzen. Und da gibt es jedenfalls in Stuttgart und in Baden-Württemberg keinerlei Rabatt."
    Gewerkschaft der Polizei spricht von Aufschaukeln in den Medien

    Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, macht eine neu "Deutschenfeindlichkeit" als eine Ursache für die Gewalt aus. Er erläuterte im WDR: "Wenn viele junge Männer zusammen sind, Alkohol trinken und Drogen nehmen, dann kommt es zu Kriminalität." Der baden-württembergische Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Kirstein, sieht eine ganze Reihe von Ursachen für die Krawalle in der Stuttgarter Innenstadt am Wochenende. Als Beispiel nannte er die Berichterstattung über die Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten. Hier gebe es eine Aufschaukeln in den Medien, die Dinge würden auf die Bundesrepublik übertragen, sagte Kirstein im Deutschlandfunk. Zudem habe es Berichte in der Presse gegeben, etwa die umstrittene "taz"-Kolumne. Erschreckt habe auch die Unterstellung der SPD-Chefin Esken, es gebe einen latenten Rassismus innerhalb der Polizei. Dies werde den Kolleginnen und Kollegen nicht gerecht.
    Ähnlich äußerte sich der NDR-Redakteur Thomas Berbner in einem Tagesthemen-Kommentar, schon vor Stuttgart hätten ihm Beamte berichtet, "bei jungen Einwanderern verbreitet sich eine gefährliche Haltung: ‚Ihr habt uns gar nichts zu verbieten!‘" Auch er kritisiert die "taz" und wirft ihr geistige Brandstiftung vor. Die Kolumne, in der Polizeibeamte auf eine Stufe mit Müll gesetzt worden seien, sei zwar eine Grenzüberschreitung, aber beileibe nicht der erste Versuch des Blattes, linksextremistisches Gedankengut salonfähig zu machen. Da helfe es auch nicht, den Text später zu Satire zu erklären. Zu Esken ergänzte er: "Was sollen Polizeibeamte, die tagtäglich im Land bedroht, beleidigt und angegriffen werden, daraus für Schlüsse ziehen?"
    Jugendforscher: Verschiedene Jugendliche entwickeln offenbar ein Feindbild "Polizei"

    Der Jugendforscher Alber Scherr warnte vor vorschnellen Urteilen. In einem Interview mit dem Nachrichtenportal t-online.de sagte der Wissenschaftler, es ergebe keinen Sinn, wenn jetzt Politikerinnen oder die Medien sich schnell an irgendwelche Erklärungen wagen würden, die sehr aus der Luft gegriffen seien. Man müsse abwarten, bis die Polizei ihr Wissen von dem ganzen Prozess kenntlich mache. Zudem plädierte Scherr dafür, bei den Ermittlungen die Stuttgarter Jugendarbeit miteinzubinden, die ein genaueres Wissen über die Szene besitze.
    In jedem Fall müsse untersucht werden, wie es dazu kommen konnte, dass "Teilgruppen von Jugendlichen im Verhältnis zur Polizei so etwas wie ein starres Feindbild entwickelt hätten und dann nicht mehr die Autorität als Regeldurchsetzer akzeptiert" werde, so Scherr. In Deutschland existiere nämlich bislang nicht das Bild von der Polizei als "unfaire staatliche Ordnungsmacht", gegen die man sich wehren müsse, wie das beispielsweise in Frankreich oder auch in den USA der Fall sei. Scherr: "Ich nehme deshalb eher an, dass es die Medienbilder von direkter Konfrontation mit der Polizei sind, die herübergeschwappt sind und nun quasi als Vorbild dienen."
    Konfliktforscher: "Vor Ort entsteht eine Gruppendynamik"

    Der Konfliktforscher Andreas Zick glaubt ebenfalls, die Täter sahen sich als Opfer. Die Randalierer in Stuttgart hätten sich spontan im Sinne eines "Wir gegen die Polizei" zusammengefunden. Das entspreche auch dem Zeitgeist, der zunehmend Gewalt billige und Polizisten als Dienstleister sehe, erklärte Zick im Deutschlandfunk.
    Zick geht nicht von einer "stabilen Gruppe" aus, sondern von einem "wahnsinnigen Zusammenhalt für den Moment": "Die Polizei will uns was, das ist unser Platz", laute in dem Fall die "banale Konstellation". Zudem werde Gewalt im öffentlichen Raum inszeniert und als Erlebnis wahrgenommen, betonte Zick.