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Debattenkultur in Deutschland
"Wir sind offensichtlich in einer dramatischen Umbruchszeit"

2018 sei "ein turbulentes, ein verrücktes, ein entsetzliches Jahr" gewesen, sagte der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) im Dlf. Identitäts- und Wertediskussionen würden immer wichtiger. Die angemessenen Form, die angemessene Sprache dafür fehle aber offensichtlich noch.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Dirk Müller | 27.12.2018
    Wolfgang Thierse
    Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) (imago/IPON)
    Dirk Müller: Die Politik und die Politiker haben massiv an Vertrauen verloren, das haben viele Umfragen bestätigt in diesem Jahr. Ein chaotisches, ein turbulentes 2018. Aber Politik ist immer, Politik ist fast immer, dies gilt allemal für Wolfgang Thierse, der Sozialdemokrat war viele Jahre lang Präsident des Deutschen Bundestages, und er geht nach wie vor keiner Diskussion aus dem Weg. Guten Morgen!
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Müller!
    Müller: Herr Thierse, gab es in diesem Jahr einen Tag, ohne dass Sie sich die Haare nicht gerauft haben?
    Thierse: Wir wollen nicht übertreiben. Das Leben besteht zum Glück nicht nur aus Politik, selbst für jemanden, der mit Leidenschaft Politik gemacht hat und mit Leidenschaft Politik verfolgt.
    "Eigentümlich widersprüchliche Situation"
    Müller: Also Gelassenheit inzwischen bei Ihnen?
    Thierse: Nicht nur. Es war ein turbulentes, ein verrücktes, ein entsetzliches Jahr. Aber zwischendurch staune ich auch. Ich lese Umfragen, nach denen drei Viertel der Deutschen sagen, es geht ihnen persönlich ökonomisch und sozial gut, also einem Viertel geht es schlecht. Zuletzt haben wir Umfragen gelesen, dass 76 Prozent der Deutschen das vergehende Jahr als ein gutes Jahr für sich bezeichnen und dass sie auch damit rechnen, dass das nächste Jahr für sie gut wird. Und zur gleichen Zeit sind die Medien voll und ist die Diskussion voll vom Versagen der Regierung, von Katastrophe, von Vertrauensverlust. Das passt nicht ganz zusammen.
    Wir erleben eine eigentümlich widersprüchliche Situation. Positive ökonomische Gegenwartsbeurteilung auf der einen Seite, Zukunftsunsicherheit und Zukunftsängste auf der anderen Seite. Eine Vergröberung der Kommunikation, Wut auf die Politiker, die schon fast irrationale Züge hat, die in den sozialen Medien sich steigert zu Aggressivität und Hass. Das sind schon verrückte und hoch widersprüchliche Zeiten, und das gilt ja nicht nur für Deutschland. Man muss mal um sich gucken, was ist das für eine Welt, die beherrscht wird von Trump, Putin, Xi Jinping, Erdogan, Duterte und wie sie alle heißen. Das sind verrückte Zeiten. Wir sind offensichtlich in einer dramatischen Umbruchszeit.
    Müller: Wenn wir da noch einmal drauf eingehen, was Sie gerade zu Beginn der Antwort gesagt haben, Herr Thierse. Also Umfragen, die zweischneidig sind, also Misstrauen gegenüber der Politik. Auf der anderen Seite der Tenor bei den meisten jedenfalls, bei drei Vierteln, wie Sie gesagt haben, "uns geht es gut". Ist das nicht sehr bedenklich, wenn das so ausfällt, wenn das auch alles so stimmt, die Messmethoden, dass es uns, wenn ich das so formulieren darf, uns gut geht trotz der Politik?
    "Das erzeugt eine dramatische Emotionalität"
    Thierse: Ja. Da sieht man wiederum, dass Politik nicht alles ist. Das hat ja in diesen verrückten Zeiten fast etwas Beruhigendes, dass das Leben von Menschen nicht nur durch die politischen Auseinandersetzungen bestimmt wird. Und wenn ich noch eine Beobachtung hinzufügen darf, die mich nicht beruhigt, sondern ein bisschen auch irritiert: Wir erleben ja gegenwärtig eine Akzentverschiebung in den Auseinandersetzungen im Lande, weg von dem, was man ökonomisch-soziale Interessenskonflikte nennt. Für diese Konflikte haben wir Regeln, haben wir Institutionen, wie sie ausgetragen werden, wie sie gelöst werden. Weg von diesen Konflikten, und hin mehr zu Werte- und Identitätskonflikten, für deren Austragung wir offensichtlich nicht die angemessenen Formen haben, noch nicht einmal die angemessene Sprache. Das ist eine eigentümlich verrückte Situation.
    Müller: Wie meinen Sie das? Weil jetzt so viel auch im Netz passiert, dass die Politik keine Steuerungsmöglichkeiten mehr hat?
    Thierse: Nein. Aber dass sozusagen plötzlich Identitäts- und Wertekonflikte - das hat ganz viel mit dem Flüchtlingsthema zu tun. Die Fremden und das Fremde rücken näher und stellen das Eigene in Frage, die Gewohnheiten, die Vertrautheiten, das, was einem selbstverständlich ist. Und das sind nicht ökonomische Fragen, sondern das sind vielmehr kulturelle Fragen. Und das hat etwas außerordentlich Irritierendes und erzeugt eine dramatische Emotionalität. Irritation, Hass, Vorurteile, Aktivierung von Wut und Vorurteilen. Das ist eine hoch widersprüchliche und eben viel schwieriger fassbare, journalistisch fassbare wie politisch beherrschbare Situation.
    Müller: Jetzt beklagen aber auch viele Bürger, die sich nach wie vor vielleicht in der Mitte verorten, dass genau diese Diskussion über diese Identität, auch um diese Flüchtlingsfrage, angeblich in Deutschland nicht frei geführt werden kann, ohne dass man gleich in die rechte Ecke gedrängt wird. Wie haben Sie das beobachtet?
    Thierse: Das ist nun selbst wieder ein kräftiges Vorurteil. Als würde nicht Sarrazin ganze Säle füllen, und wie sie alle heißen. Das ist doch schlicht eine Erfindung, dass man darüber nicht debattieren kann. Die Leute gehen auf die Straße und artikulieren ihre Wut. Sie werden dabei nicht zusammengeprügelt von irgendjemand. Es wird nicht verheimlicht, was da passiert. Also, diese Debatten finden statt, sie finden auch in den Parlamenten statt. Ich sage nur, wir haben bisher nicht eine ruhige Form gefunden, wie wir das miteinander austragen können, weil offensichtlich Identitätsfragen hochemotional sind, sozusagen an die Grundfesten unseres Selbstverständnisses rühren. Aber Demokraten dürfen sich auch vor dieser Diskussion nicht drücken. Das gilt auch für die CDU, das gilt auch für die SPD, für die demokratischen Parteien und demokratischen Journalismus sowieso.
    Debatten "manchmal aggressiv und hetzerisch"
    Müller: Also muss das sein. Es ist auch völlig legitim, auch über Leitkultur oder so etwas zu diskutieren?
    Thierse: Ob der Begriff brauchbar ist, ist eine andere Frage. Dass man darüber redet, wer sind wir Deutsche, wer sind wir Europäer, worauf haben wir uns einzulassen, was ist das Gemeinsame, worauf verpflichten wir uns selbst, worauf verpflichten wir diejenigen, die zu uns kommen, das sind doch selbstverständliche Debatten. Und sie finden, wenn ich es richtig sehe, auch statt, häufig sachlich-freundlich, aber manchmal eben auch aggressiv und hetzerisch.
    Müller: Ich habe auch in der Anmoderation Worte benutzt wie Polarisierung, Spaltung der Gesellschaft. Das ist das, was man immer wieder hört in Diskussionen, was man auch lesen kann in den konventionellen Medien, in den Tageszeitungen, Wochenzeitungen, aber auch natürlich im Internet. Meine Frage jetzt an Sie: Die Twitter-Gesellschaft, die sich entwickelt hat, Onlinegesellschaft, Internetgesellschaft, ist das eine Gesellschaft, auch gerade in den modernen Industriestaaten, die keine Gemeinschaft mehr implizieren kann?
    Thierse: Es ist jedenfalls schwerer geworden, weil ja diese modernen Kommunikationsmittel die Gesellschaft nicht einen, sondern eher zersplittern. Man kann sich in den Echoräumen der eigenen Vorurteile aufhalten. Das, was man für Wahrheit hält, sozusagen dort sich widerspiegeln lassen, ohne mit den anderen konfrontiert zu werden. Aber ich will noch mal daran erinnern, dass das eines der Probleme ist. Aber mit dem Blick auf die gelben Westen, und was an Unruhe ja auch in Europa stattfindet - wir werden erinnert an eine existenzielle Erfahrung des 20. Jahrhunderts, nämlich die Erfahrung, dass Freiheit beziehungsweise Demokratie und Gerechtigkeit fundamental zusammengehören.
    Wo das Gerechtigkeitsgefühl von Menschen, von Mehrheiten verletzt wird, ist die Demokratie, ist die Freiheit auch in Gefahr. Und das gilt natürlich auch umgekehrt: Man kann eine gerechte Gesellschaft nicht herstellen, wenn man dafür die Freiheit opfert. Das ist die kommunistische Erfahrung. Wir werden daran wieder erinnert, dass selbst in reichen Gesellschaften, wenn da ein Teil der Leute das dramatische Empfinden hat, sie werden ungerecht behandelt, sie sind benachteiligt, dann gefährdet das die Demokratie.
    Müller: Ist das ein Empfinden, oder ist das so?
    Thierse: Es ist auch so. Wir kennen ja die Zahlen, dass in den europäischen Ländern Deutschland eben auch die sozialen Gegensätze, der Armuts-Reichtums-Gegensatz drastisch zugenommen hat.
    Sozialdemokraten "ziemlich ungeduldige Leute"
    Müller: Es geht immer so weiter offenbar.
    Thierse: Auch mit der offenen Grenze, und das hat auch mit Globalisierung zu tun. Aber deswegen sage ich, Gerechtigkeitspolitik ist auch Politik zur Verteidigung der Demokratie.
    Müller: Und warum hat die Gerechtigkeitspartei SPD damit so viele Schwierigkeiten?
    Thierse: Erstens, weil sie daran laboriert, dass sie wieder regieren muss - das war ja nicht die Absicht nach der Wahl. Das liegt ja daran, dass die Wähler so entschieden haben, dass die FDP sich vor der Regierungsverantwortung gedrückt hat und dass sie dann plötzlich wieder in eine Koalition gezwungen worden ist, von der sie sich nach diesem entsetzlich schlechten Wahlergebnis naheliegender Weise verabschiedet hatte. Und das macht ihr die Schwierigkeiten. Aber ich will darauf hinweisen, dass dann plötzlich Sozialdemokraten nicht mehr wahrnehmen können, was Sozialdemokraten in der Bundesregierung auch leisten. Es sind doch im letzten halben Jahr ganz vernünftige Gesetze gemacht worden, auch mit dem Ziel, mehr Mietgerechtigkeit, mehr Bildungsgerechtigkeit, Sicherung der Zukunft des Sozialstaates, das war doch Gegenstand von Gesetzen. Dass das immer nur schrittweise vorangeht, und dass Sozialdemokraten ziemlich ungeduldige Leute sind, das weiß ich auch.
    Müller: Aber wen meinen Sie damit? Da bin ich jetzt überfragt, habe jetzt ein bisschen Schwierigkeiten, das nachzuvollziehen. Meinen Sie die Kritik von links, die Kritik von den Jusos?
    Thierse: Die Kritik in den eigenen Reihen. Die SPD, jedenfalls in Teilen ihrer Funktionäre, ihrer aktiven Mitglieder, unter der Fortsetzung der großen Koalition, leidet. Ich wünsche mir, dass wir diese Fixierung überwinden und darüber reden, was sind unsere weiterreichenden Konzepte für die Zukunft des Sozialstaats? Was ist die Zukunft der Arbeit angesichts der digitalen Transformation? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem nationalen Sozialstaat und europäischer sozialer Solidarität? Solche Aufgaben sollten, solche Themen sollten die Sozialdemokraten miteinander diskutieren und nicht nur jammern und schimpfen über die GroKo.
    Müller: Jetzt müssen Sie uns, Herr Thierse, noch mal weiterhelfen. Denken Sie an Kevin Kühnert dabei auch sofort, an erster Stelle? Wir müssen das ja ein bisschen einsortieren.
    Thierse: Zum Beispiel, ja.
    Müller: Also es tut der Partei nicht gut?
    Thierse: Es tut ihr jedenfalls nicht gut, wenn man sozusagen so was von negativ fixiert ist auf diese Regierungsbeteiligung, die wie gesagt ja das Ergebnis von Wahlen ist und von politischen Entscheidungen auch anderer. Dann hat die Sozialdemokratie sich in einer solchen Situation der Verantwortung zu stellen. Sie hat aber zugleich die Freiheit, über diese Verantwortung über die Koalitionsfrage hinaus Zukunftsfragen zu diskutieren.
    Müller: Der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse, viele Jahre lang Präsident des Deutschen Bundestags, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Danke für Ihre Zeit, und Ihnen gute Tage, einen guten Rutsch!
    Thierse: Ein gutes Jahr für Sie auch und für alle Zuhörer auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.