
Man wusste es längst: Die halbszenischen Opern-Aufführungen der Berliner Philharmoniker sind alles andere als eine aufführungstechnische Verlegenheit. Sie kreieren vielmehr eine Aufführungsästhetik eigenen Rechts und genießen in Berlin schon so etwas wie einen Kultstatus. So ideal aber wie Claude Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" passen wiederum nur wenige Werke in die verwinkelte Weite der von Hans Scharoun entworfenen Philharmonie mit ihren Rängen und Balkonen, die sich wie Weinberge rings um die Bühne erstrecken. Denn zu dem traumversunkenen Geschehen um die rätselhafte Mélisande hat Debussy eine Musik komponiert, die wie aus den unbewussten Tiefen der Erinnerung aufzusteigen scheint.
Debussys Orchestersprache bleibt in höchstem Maße mehrdeutig und ambivalent, genau wie die verrätselte Sprache des symbolistischen Dichters Maurice Maeterlinck. Simon Rattle holt mit den Berliner Philharmoniker ein Maximum an Nuancenreichtum und harmonischer Tiefe aus dieser Wunderpartitur heraus. Und Peter Sellars' Inszenierung ist eine Wohltat, weil sie die Geschichte mit sparsamen, aber höchst suggestiven szenischen Mitteln auch optisch ganz aus der Musik heraus erzählt. Ein paar raffinierte Lichteffekte, ein großer schwarzer Kubus als einziges Requisit in der Mitte des Orchesters und eine plastische Personenregie genügen, um das Drama dieses französischen "Tristans" eindrücklich in Szene zu setzen.
Eine katzenhafte Mélisande
Zum Erfolg des Abends trägt eine Sängerbesetzung bei, die keine Wünsche offen lässt. Magdalena Kožená ist eine katzenhafte Mélisande, ein verwunschenes Fabelwesen, das zerbrechlich und gefährlich zugleich wirkt. Kožená wandelt ihren Sopran ekstatisch leuchtenden Höhen bis in geheimnisvoll dunkel abgetönte, somnambule Tiefen. Es liegt etwas Wildes, Ungezähmtes in ihrer Stimme.
Gerald Finley ist der stimmlich betörende, mit wohltönender Baritonstimme ausgestattete Golaud, der Ehemann Mélisandes. Darstellerisch freilich charakterisiert er ihn als jähzornigen Gewaltmenschen, zugleich aber als einen Traumatisierten, der sich liebesbedürftig wie ein Kind an seine Melisande klammert. Christian Gerhaher schließlich ist als sein Halbbruder Pelléas wieder einmal ein großartiger Charakterisierungs- und Verwandlungskünstler. Sein Pelléas ist kein strahlender Held, sondern kauziger Sonderling, ein Besessener, der mit leicht geduckter Körpersprache vor seinem gewalttätigen Stiefbruder Golaud bis in die höchsten Höhen der Philharmonie flüchtet. Fabelhaft, welche Emphase und glühende Leidenschaft er seinem melodiösen Bariton entlocken kann.
Sektenhafte Harmoniesucht
Bis in die kleinste Nebenrolle ist dieser Abend herausragend besetzt. Wunderbar auch Franz-Josef Selig als König Arkel mit melodiös geführtem, samtig vollen Bass und Bernarda Fink als Mutter von Pelleas und Golaud. Und einen so ausgereiften, klaren und kräftigen Kindersopran, wie den von Elias Mädler in der Partie des Sohnes von Golaud Yniold hört man selten.
Ganz am Ende, wenn Golaud Pelléas erstochen hat und Mélisande nach der Geburt ihres Kindes auf dem Sterbebett liegt, herrscht auf Sellars Bühne plötzlich eine sektenhafte Harmoniesucht. Statt die Trostlosigkeit dieses Opernschlusses zu akzeptieren, fallen hier alle einander in die Arme, stützen und streicheln einander wie in einer eigentümlichen Gruppentherapie. Das hätte es nicht gebraucht. Doch es kann diesem großen Abend, der nachhaltig im Gedächtnis bleiben wird, auch nichts anhaben.