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Delphine de Vigan: "Dankbarkeiten"
Kleine Geste, große Wirkung

Viel möchte Michka Seld noch sagen. Doch die alte Frau verliert langsam ihre Sprache. Als kaum noch Worte übrig sind, erfüllen Marie und Logopäde Jerôme ihr einen letzten Wunsch. Von diesen endgültigen Dingen weiß Delphine de Vigan auf leichte Art zu erzählen.

Von Bettina Baltschev | 29.04.2020
Die Schriftstellerin Delphine de Vigan und ihr Roman „Dankbarkeiten”
Die Schriftstellerin Delphine de Vigan und ihr Roman „Dankbarkeiten” (Buchcover DuMont Verlag / Autorenportrait (c) Delphine Jouandeau)
Es gibt diesen viel zitierten Satz, der trösten soll, aber bei näherer Betrachtung unwahr ist: Die Zeit heilt alle Wunden. Denn es gibt Verletzungen, die sitzen so tief, dass sie selbst nach Jahrzehnten noch schmerzen. Eine Erfahrung, die auch Michka Seld machen muss, eine zarte ältere Dame, die nach einem langen unabhängigen Leben gezwungen ist, in ein Seniorenheim zu ziehen. Denn da ist etwas in ihrem Kopf, das nicht mehr richtig funktioniert. Es ist ein stiller Abschied von einem guten Leben, den Delphine de Vigan in ihrem Roman "Dankbarkeiten" in schlichte Worte fasst.
"Sie zieht ihre Wohnungstür hinter sich ins Schloss, diese Tür, die sie Hunderte Male geschlossen hat, doch heute weiß sie, dass sie es zum letzten Mal tut. Sie besteht darauf, selbst abzuschließen. Sie weiß, dass sie nicht zurückkehren wird. Sie wird all diese Handgriffe nie mehr verrichten, die sie Hunderte Male wiederholt hat, den Fernseher einschalten, den Bettüberwurf glatt streichen, die Bratpfanne spülen, die Rollos wegen der Sonne herunter ziehen, ihren Morgenmantel an den Kleiderhaken im Badezimmer hängen oder auf die Sofakissen klopfen, damit sie wieder eine Form annehmen, die sie längst verloren haben."
Ungleiche Freundinnen
Eigene Kinder hat Michka nicht. Doch es gibt Marie, eine junge Frau, die sich ihrer annimmt. Marie besucht Michka im Heim und tut so, als würde sie es nicht bemerken, wenn die alte Dame Wörter verwechselt. Wenn aus der ‚Praktikantin’ eine ‚Kommandantin’ wird, wenn Michka ‚oje’ sagt statt ‚okay’ oder ‚Dante’ statt ‚Danke’.
Nach und nach wird klar, warum Michka und Marie sich so gut verstehen. Als Marie noch ein Kind war, hatte sie in der Wohnung über Michka gewohnt und in ihr eine Ersatzmutter gefunden, während die eigenen Eltern sich kaum um sie kümmerten. Ohne Michka, so sagt es Marie einmal, wäre sie wohl nicht mehr am Leben, ihr verdanke sie alles. Es ist ein sehr zärtliches Verhältnis zwischen den beiden Frauen, das vielleicht gerade deshalb so gut funktioniert, weil sie nicht miteinander verwandt sind. So kann Michka Marie freien Herzens all ihre Ängste anvertrauen.
"'Ich mag die Nacht nicht.'
Kannst du nicht schlafen?'
'Es liegt an den Wörtern, wie ich es dir schon sagte, es passiert nachts, dass sie… sich vergraben… verlieren, nachts, wenn ich nicht einschlafen kann, ich weiß genau, das ist der Augenblick, in dem sie sich verfluchen, in dem sie sich verflüchten, da bin ich sicher, aber es ist nichts zu machen, ganze Waggons voll und ganz schnell, dagegen kann keiner was machen, das sage ich dir, nicht einmal der Logi… der Logary… der Lollo…'
'Der Logopäde?'
'Ja, er hat es mir gesagt, die Irrungen nützen nichts mehr, wenn man meinen Punkt erreicht hat.'"
Verdrängte Vergangenheit
Dieser Logopäde ist Jerôme, auch er ein äußerst netter und empathischer junger Mann, der Michka sofort ins Herz schließt. Zweimal in der Woche macht er Sprachübungen mit ihr und lässt sie von ihrer Vergangenheit erzählen. Eben dort liegt besagte Wunde, die selbst die längste Zeit nicht heilen kann. Wir erfahren, dass Michka die Tochter französischer Juden ist. Während der deutschen Besatzung haben sie ihr Kind in höchster Not bei einem ihnen fremden Ehepaar zurückgelassen, bevor sie nach Auschwitz deportiert und nie zurückgekehrt sind. Drei Jahre verbringt Michka auf einem Dorf bei einfachen Leuten, von denen sie nur noch die Vornamen erinnert, Nicole und Henri.
Doch weil sie nach dem Krieg sehr plötzlich von einer Tante abgeholt wird, hat sie sich nie bei den Menschen bedanken können, die ihr das Leben gerettet haben. Nun also, kurz vor ihrem Lebensende hat Michka das dringende Bedürfnis, ihre brennende Wunde zu schließen und natürlich unterstützen Marie und Jerôme sie bei ihrer Mission. Während Marie eine Zeitungsanzeige aufgibt, die keinen Erfolg hat, fährt Jerôme kurzerhand in das Dorf, in dem Michka überlebte. Dort findet er schließlich Nicole, die bereits neunundneunzig Jahre alt ist, in einem Pflegeheim.
"Ich habe Nicole Olfinger besucht. Sie ist blind und schwerhörig. Aber sie ist noch völlig bei Verstand. Ich habe ihr von Ihnen erzählt. Ich sagte ihr, Sie hätten nach ihr und ihrem Mann gesucht. Aber Ihren Namen nicht gewusst. Sie hat es verstanden. Ich habe mir erlaubt, ihr zu sagen, wie wichtig es heute für Sie ist, ihnen Ihren Dank auszusprechen. Wissen Sie, sie war sehr gerührt. Ich sagte ihr, Sie würden so glücklich sein zu erfahren, dass sie noch am Leben ist. Zu erfahren, dass es noch nicht zu spät ist. Als ich sie fragte, wie sie diese drei Jahre hatten aushalten können, sagte sie mir etwas, dass ich Ihnen wiederholen wollte: ‚Zum Schlimmsten sagt man Nein. Und danach hat man keine Wahl mehr.‘ Und außerdem sagte sie: ‚Man darf wegen dieser Sache nicht eitel werden.‘"
Beinahe kitschig, doch schön
Es sind große Fragen, die Delphine de Vigan in ihrem schmalen Roman anreißt, ohne sie endgültig zu verhandeln: Wie gehen wir mit alten Menschen um, welche Beziehung zwischen den Generationen wünschen wir uns? Was heißt erinnern und vergessen, was bedeutet Dankbarkeit? Dabei hält sich die Autorin nicht mit weitschweifigen Überlegungen auf, verliert sich nicht in tiefschürfenden Gedanken oder geistreichen Ideen. Stattdessen bleibt sie sehr nahe bei den Menschen.
Als Leserin folgt man ihr gern, auch wenn die Personenzeichnungen ein wenig eindimensional daherkommen und oft scharf am Klischee vorbeischrammen. Die muntere alte Dame, die trotz geistiger Defizite immer gut gekleidet ist und sich heimlich einen Whisky gönnt. Die junge Freundin, die sich aufopferungsvoll kümmert, selbst als sie schwanger wird. Der selbstlose Logopäde, der seinen Urlaub opfert, um die Retter Michkas zu finden. Es scheint, als habe Delphine de Vigan dieses Buch mit einer eindeutigen Botschaft im Kopf geschrieben: Seid nett zu einander und sagt öfter mal Danke. Zugegeben eine Botschaft, gegen die sich wenig einwenden lässt. Und so wirkt dieser kleine französische Roman wie ein wohlschmeckender und heilender Saft gegen alles Dunkle in der Welt und eignet sich hervorragend als Denkanstoß für Grantler, Grummler und Pessimisten.
Delphine de Vigan "Dankbarkeiten".
Aus dem Französischen von Doris Heinemann.
DuMont Buchverlag, Köln, 176 Seiten, 20 Euro.