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Dem Amokläufer auf der Spur

"Killerspiele" seien schuld, wenn Schüler gewalttätig würden, so lautet eines der gängigen Erklärungsmuster für den Amoklauf Jugendlicher. Wissenschaftler widersprechen diesem. Stattdessen sei ein bestimmtes psychologische Profil der Täter zu erkennen.

Von Thomas Wagner | 03.12.2009
    Spott und Hohn der Mitschüler, Hänseleien zwischen Schulhof und Klassenraum, all das immer wieder über Jahre hinweg - das ist die explosive Mischung, die einen normalen Schüler zu einem Amokläufer werden lässt.

    "Diese Jungen fühlen sich über Jahre hinweg gedemütigt, schweigen aber. Es heißt: Sie sind oft nicht aggressiv gegenüber ihren Mitschülern oder auffällig gegenüber anderen, die ihren Eltern Sorgen machen. Sie fallen im Grunde nicht auf. Aber insgeheim brüten sie längst über Rache. Sie verstärken ihre Hass- und Gewaltfantasien, die sich nicht in körperlichen Aggressionen äußern, sondern in der Vorstellung von dem großen Abgang - Suizid plus Homizid, also plus Fremdaggression und Tötung anderer. So etwas planen sie über Jahre hinweg. Die sind in ihrer eigenen Welt verhaftet. Und alles dreht sich nur noch um Hass und Rache, und alles steuert eben auf die Tat zu, die eben den Selbstmord miteinbezieht."

    Professor Britta Bannenberg ist Kriminologin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie hat die Biografien derjenigen Schüler untersucht, die als Amokläufer endeten. An ihrem Schreibtisch studiert sie entsprechende Akten nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus den USA. Und immer wieder kristallisiert sich der gleiche Tätertyp heraus: ein häufig in sich selbst zurückgezogener Schüler, der wenig Kontakte mit anderen pflegt, der verspottet, manchmal verachtet wird. Sehr häufig können solche Schüler nicht mehr zwischen Wirklichkeit und einer von Hass erfüllten, selbst konstruierten Scheinwelt unterscheiden. Doktor Marc Allroggen ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Ulm. Er spricht in diesem Zusammenhang von "narzisstischen Persönlichkeitsentwicklungen", die einen potenziellen Amokläufer prägen:

    "Also narzisstische Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen sind dadurch geprägt, dass eine große Distanz besteht, zwischen dem Selbsterleben und dem, wie sie denken, dass sie sind. Das heißt: Diese Kinder haben oft ein schwaches Selbstwertgefühl und kompensieren das dann eben, auch äußerlich, durch Größenfantasien und Vorstellungen, dass sie etwas ganz Besonderes sind. Und diese Kinder sind dann auch besonders anfällig für aggressives Verhalten und Gewalttaten, weil die auch darüber ihr Selbstwertgefühl stabilisieren können."

    Dabei führen die unterschiedlichsten Gründe zu solchen narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, die Marc Allroggen bei allen Amokläufern ausgemacht hat.

    "Wir wissen, dass es angeborene Temperamentsfaktoren gibt dafür, aber auch gewisse elterliche Erziehungshaltungen können dabei eine Rolle spielen, zum Beispiel, wenn Kinder immer besonders schonend behandelt werden oder wenn Kinder immer für etwas ganz Besonderes gehalten werden, dass frühzeitig ein großes Selbst entsteht, dass eben Kinder etwas ganz Besonderes sind."

    … zumindest in ihrer eigenen Vorstellungswelt. Und finden sie diese Vorstellung über ihre eigene Größe, über ihre eigene Besonderheit in der Umwelt nicht bestätigt, wachsen Hass- und Verachtungsgefühle - die Keimzelle für einen potenziellen Amoklauf. Mit solchen Erkenntnissen widersprachen die Wissenschaftler auf der Tagung in Ulm allzu einfachen Erklärungsmustern. Eines davon lautet: Die Vielzahl der Killerspiele, die für den heimischen PC auf dem Markt sind, seien der Hauptgrund zur Häufung von Amokläufern. Stimmt so nicht, meint Professor Jörg Fegert, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm.

    "Da fast alle das spielen, ist das sicher kein Erkennungsmerkmal. Wenn aber einer schon Gewaltfantasien hat, wenn einer mit seinen Fantasien in diese Spiele vertieft, kann er dort neue Potenziale entwickeln, auch durchspielen. Und er kann auf der anderen Seite auch neuropsychologisch üben, dass er weniger aufgeregt und gezielter trifft. Und das ist die Gefahr bei tatgefährdeten Jugendlichen, weil sie einfach effektiver im Schießen werden. Und das macht es so dramatisch, weil die Trefferquote immer höher wird."

    Killerspiele sozusagen als Übungsmunition für potenzielle Amokläufer - wenn dem so ist, denn lassen sich Amokläufe durch ein Verbot solcher Spiele auch nicht verhindern, glaubt Professor Jörg Fegert.

    "Das macht es nur noch interessanter. Und in einer globalisierten Welt hat man Zugang zu diesen ganzen Spielen, die auch immer mehr Server basiert irgendwo im Ausland stehen. Also ich glaube nicht, dass sich das verhindern lässt. Das Wichtigste ist wie bei allen Medien, in Kontakt mit den Jugendlichen zu sein, die zeitliche Beschäftigung damit zu erkennen, darüber zu reden, auch zu wissen, was sie da tun. Wir werden über ein Verbot der Spiele wahrscheinlich wenig erreichen."

    Der Ulmer Wissenschaftler redet in diesem Zusammenhang einer Intensivierung der Medienpädagogik das Wort - an Schulen, in Jugendgruppen, in Familien, vor allem aber dort, wo bereits Jugendliche mit Waffen in Kontakt kommen: In den Schützenvereinen landauf, landab.

    "Also das Schweizer Olympische Komitee, Suisse Olympic, hat eine eigene Ethikabteilung und hat solche Projekte für Vereine durchgeführt, zum Beispiel sexuelle Übergriffe durch Trainer, also auch sehr heikle Themen und allen Vereinen Unterstützung angeboten für ihre Mitglieder: Wie gehe ich damit um? Wie frage ich nach? Hier könnte man zum Beispiel Elternabende machen, hier könnte man in der Jugendarbeit der Schützenvereine verschiedene Angebote machen. Und die könnte man vorbereiten, sodass ich lerne: Wie spreche ich einen Jugendlichen an, den ich seltsam finde, der keinen Kontakt sucht, der nicht mit auf die Feste geht, der nur schießt. Und ich denke, da haben wir bisher eine Chance verpasst, weil die Diskussion mit den Schützenvereinen bislang sehr konfrontativ um die Kaliber und so weiter gegangen ist. Ich denke wir müssen die normalen Mitglieder, die Nicht-Waffennarren, auch nutzen im Umgang mit der Wahrnehmung."

    Das ältere Mitglied eines Schützenvereins, das Auffälligkeiten Jüngerer erkennt, die auf potenzielle Amokläufer hindeuten, wäre die Idealvorstellung des Ulmer Wissenschaftlers. Hier müsse der Staat mehr medienpädagogische Angebote schaffen als bislang. Nach Ansicht von Professor Jörg Fegert wäre dies weitaus hilfreicher als Aufbewahrungs- und Nutzungsverbote von Waffen außerhalb der zugelassenen Schießstände. Ähnlich argumentiert auch die Giessener Kriminologin Professor Britta Bannenberg. Jedermann müsse Antennen für die Verhaltensauffälligkeiten potenzieller Amokläufer entwickeln.

    "Das heißt, dass man sehr darauf bedacht ist, bei diesen Äußerungen - ob vermittelte oder eher versteckte Drohungen - aufmerksam wird, dieses ernst nimmt, das abklärt, vielleicht die Polizei hinzuzieht, wenn man Angst verspürt, sich unsicher ist, wo dann all diese Kriterien abgeprüft werden: Zum Beispiel sind konkrete Tatvorbereitungen da? Ist die Äußerung unbedacht erfolgt? Oder passt auch das sonstige Persönlichkeitsbild in diese schwierige Persönlichkeit mit hinein? Das sind dann Kriterien zur Abgrenzung."

    Bei ihren Ursachenanalysen sind die Experten aber noch auf ein weiteres Detail gestoßen: Nahezu alle Täter haben sich intensiv mit vorausgegangenen Amokläufen beschäftigt, entsprechende Artikel darüber gelesen, den Hergang studiert: Je stärker die unreflektierte Präsenz des Themas Amoklauf in den Medien und in der öffentlichen Diskussion, desto höher auch die Wahrscheinlichkeit, das sogenannte Trittbrettfahrer aktiv werden oder dass sich tatsächlich neue potenzielle Amokläufer auf den Plan gerufen fühlen. Diese nicht unumstrittene These vertritt Professor Reinmar du Bois, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Stuttgart. Er wurde im Falle des Amoklaufes von Winnenden von der Staatsanwaltschaft als Gutachter beauftragt. Nun mahnt er zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit dem Thema Amoklauf in Zeitung, Funk, Fernsehen und Internet.

    "Die ständige Präsenz dieses Themas in den Medien ist verheerend. Und alle jungen Leute, denen es nicht gut geht und die in ihren Fantasien mit Aggressionen beschäftigt sind, greifen nach diesen verfügbaren Bildern und Ideen und lassen sich dadurch inspirieren. Es wäre viel, viel günstiger, wenn Ruhe einkehren würde."