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Dem Denker neues Leben einhauchen

Für Rüdiger Safranski ist Goethes Leben ein Kunstwerk und so beschreibt er es auch. Ihm gelingt dabei eine kluge und bewundernde Begegnung mit dem Denker. Und er ist mutig - seine Biografie will nichts weniger, als Goethe zu einer neuen Lebendigkeit verhelfen.

Von Harro Zimmermann | 03.09.2013
    Über den Dichter, Wissenschaftler und Politiker Johann Wolfgang Goethe sind in den letzten zwei Jahrhunderten ganze Bibliotheken an wissenschaftlicher und huldigender Literatur verfasst worden. Und längst hat die Beschäftigung mit dem Weimarer Geistesheroen eine eigene, vielfach ideologisch aufgeladene Historie hinter sich. Jede Generation muss ‚ihren’ Goethe neu entdecken, das ist ein Gemeinplatz.

    Und dennoch gelingen immer wieder Bücher, die auch dem größeren Publikum eine neue Sicht auf den alten Dichter und Denker ermöglichen. Nun hat der Schriftsteller Rüdiger Safranski ein bemerkenswertes Goethe-Buch vorgelegt. Harro Zimmermann stellt es vor.

    "Goethe ist ein Ereignis in der Geschichte des deutschen Geistes, Nietzsche meinte - ein folgenloses. Doch Goethe war nicht folgenlos. Zwar hat die deutsche Geschichte seinetwegen keinen günstigeren Verlauf genommen, aber in anderer Hinsicht ist er überaus folgenreich. Und zwar als Beispiel für ein gelungenes Leben, das geistigen Reichtum, schöpferische Kraft und Lebensklugheit in sich vereint. Ein spannungsreiches Leben, dem einiges in die Wiege gelegt ward, das aber auch um sich kämpfen musste. Was immer wieder fasziniert, ist die individuelle Gestalt dieses Lebens."

    Johann Wolfgang von Goethe, Staatsminister und Poet, Forscher und Geistespatriarch, bildete zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Glanzlicht nicht nur der Weimarer Kultur, sondern der deutschen schlechthin. Aber weder damals, noch zu einer späteren Zeit war er unumstritten.

    Selbst den greisen Poeten hat man kaum weniger beargwöhnt und verunglimpft als den jungen, so ungestümen Freund des Herzogs Karl August. Während ihrer gemeinsamen Sturm-und-Drang-Periode, noch im Geiste ‚Werthers’ und des ‚Götz von Berlichingen’, war man in Wald und Flur herumgetollt, hatte Schabernack mit den Mädchen getrieben, Zoten und aufsässige Sprüche gemacht. Für nicht wenige Zeitgenossen war das geradezu skandalös.

    Und dann, fast fünf Jahrzehnte später, verschrie man Goethe als den großen Egoisten und aus der Zeit gefallenen Fürstenknecht, er sei zum Standbild seiner selbst erkaltet. War der Autor des ‚Wilhelm Meister’, der ‚Wahlverwandtschaften’ und des ‚Faust’ ein herzloser und selbstsüchtiger Geistesaristokrat, der Repräsentant einer abgestandenen Kunstperiode, wie schon mancher Vormärzler zu wissen glaubte?

    Von solchen Vorstellungen ist trotz aller Euphorien im deutschen Goethe-Verehrungsbetrieb das eine oder andere Verdikt hängen geblieben. Noch einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Vorwürfe der Weltflucht und Verantwortungslosigkeit erhoben, so etwa von Karl Jaspers, der Goethe und den Kult um ihn der lang währenden Tradition deutschen Kulturversagens zuschlagen wollte. Goethe – ein in Gesellschaft und Politik gescheiterter Künstler?

    Legendär ist bis heute seine historische Erscheinung schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, unvergleichlich waren sein Dichter-Denker-Renommé, seine Noblesse als Mann der Gesellschaft, auch die immensen Einkünfte aus seinem vor Nachdruck geschützten Werk. Doch wie beschwerlich und enttäuschend war seine persönliche Lebenssituation im Alter. Schon das Erscheinen des Briefwechsels mit Schiller in den Jahren 1828/1829 provoziert damals Polemiken, Distanzierung und viel Unverständnis. Die Selbststilisierung zweier Klassiker wird wahrgenommen, aber Repräsentativität? Wofür stand dieser Goethe? Nichts als Kunst! klagten viele Zeitgenossen: "Den Frommen war er zu heidnisch, den Moralischen zu erotisch, den Demokraten zu aristokratisch", sagt Rüdiger Safranski.

    Kein Wunder also, dass es damals einsam wird um Goethe, öffentlich und auch privat. Karl August stirbt 1828, der eigene Sohn August zwei Jahre später, Goethe selbst wird ein weiteres Mal sterbenskrank. Immer deutlicher sieht er, dass sein Werk jenseits der Zeit, ja auch gegen sie gewachsen ist, die lieben Deutschen hält er sich daher beflissen vom Leib, traut er ihnen doch nicht über den Weg, und mit dem Nachruhm scheint es auch nicht gut bestellt zu sein. Werden der Autor und sein Vermächtnis bei so viel "verwirrender Lehre" in der Welt nicht bald vom "Dünenschutt der Stunden" zugedeckt?

    "Goethe hat doch schon ziemlich viel überstanden und beweist eine starke dauernde Kraft. Es ist etwas Anziehendes an dieser Figur, über das Marmorne hinaus, diese Klassikerverehrung kennen wir ja. Aber bei Goethe, auch bei Schiller übrigens, gibt es etwas, das immer noch abstrahlt. Ich habe da auch eine These. Goethe wirkt durch seine Werke, natürlich, die ‚Leiden des jungen Werther’ ist ein Buch, das absolut gegenwärtig ist. Goethe in seinen Gedichten ist da. Er ist da in seinem ‚Faust’. Das sind die ganz populären Aspekte als Autor.

    Aber, es ist da noch etwas anderes. Goethe fasziniert wohl auch unterschwellig, weil man den Verdacht hat, dass sein ganzes Leben irgendwie etwas Gelungenes hat. Ziemlich frei übrigens von tragischen Aspekten, etwas Gestaltetes. Goethe selbst hat irgendwann bemerkt, dass das Werke schaffen eines ist, aber dass es wunderbar ist, wenn das Leben selbst als Werk gestaltet werden kann. Das ist - für mich jedenfalls - das unterschwellige Faszinosum an Goethe."

    Safranski zeigt anschaulich und in staunenswerter Kenntnis der einschlägigen Literatur, wie sich dieses Leben und Lebenswerk durch alle Umbrüche der Zeit hindurch ausgewachsen hat. Die epochale Historie erhält nur knappe Umrisse, deutlich wird vielmehr die Denk- und Gestaltungsleistung eines Intellektuellen und Künstlers, der zur Aufgipfelung und Vollendung seines Daseins strebt, ohne den Wert und die Bedeutung jedes einzelnen Lebensmoments zu verkennen.

    Aufgeschlossenheit, Aufmerksamkeit dem Wirklichen gegenüber ist die eine Grundforderung Goethes, die andere aber besagt, dass wir nur am "farbigen Abglanz" das Leben besitzen können. Wo wäre das schöner unter Beweis gestellt worden als in den "sehr ernsten Scherzen" des über Jahrzehnte hin erarbeiteten ‚Faust’, der 1831, ein Jahr vor dem Tod des Autors, abgeschlossen wird. In einer glänzenden Analyse zeigt Safranski, dass in diesem allegorischen Zauberspiel, das die Deutschen unterhalten und rühren, erheben und nachdenklich machen soll, ein moderner Dichter auf der Höhe seiner Zeit den Ton angibt.

    In Faust und Mephisto, dieser Funken sprühenden Doppelpersönlichkeit, oszillieren verschiedenste Gegensätze, die alles Lebendige zu Produktivität und Steigerung anreizen, so dass nichts im Dualismus erstarren kann. Das Tierische und das Menschliche sind darin verwoben, das Triebhafte und das Vernünftige, Sein und Schein. Faust ist es, der ins Unendliche strebt, Mephisto hingegen will ihn zurückbinden an das natürlich Gegebene, an das Begehren in der Wirklichkeit. Das Ergebnis zeigt sich als ein "immanentes Transzendieren", schreibt Safranski prägnant, im ‚Faust’ ereignet sich die "folgenreiche Umwandlung des metaphysischen Furors in eine Antriebskraft für die zivilisatorische Weltbemächtigung".

    Das rastlose Tätigsein des Johann Faust wirft einen Schatten, und Mephisto ist dieser Schatten, der vita activa, dem Leistungsvermögen des Tüchtigen ist die Drohung eingeschrieben, schuldig zu werden im Chaos des sich immer mehr beschleunigenden Weltgeschehens. Dergleichen Gespenster der Moderne werden im ‚Faust’ an vielerlei Motiviken wachgerufen, wie Safranski eindrucksvoll zeigt. Doch die Heiterkeit des Kunstgenusses hat Goethe darüber niemals außer Acht gelassen. Auch wenn sich sein Altersstil gegenüber der Unberechenbarkeit der Welt immer wieder Freiheiten herausnahm, dem Zustand der Realität sollte die ästhetische Heterogenität des Werkes entsprechen.

    Deutlich hat der Dichter die condition humaine der Modernisierung wahrgenommen, das Wegschaffen mancher Beschwerlichkeit durch technische Errungenschaften, aber auch das Wuchern neuer Existenzprobleme der künftigen Menschheit.

    Wenn Goethe des Öfteren davon sprach, er beabsichtige seine Existenz möglichst hoch in die "Luft zu spitzen", so hat dies nach Safranski mit Selbstverklärung nichts zu tun, sondern damit, dass sich dieser Dichter-Denker durchaus dem gestellt hat, was ihm Kritiker als basales Versäumnis vorgehalten haben - der Verantwortung gegenüber dem Entwicklungsfuror der Moderne. Dem hat Goethe nie ein abstraktes Programm entgegengesetzt, Freiheit etwa habe er nicht als hehre Idee eingefordert, sondern immer nur praktisch gelebt, von Tag zu Tag, schreibt Safranski. Wer aus sich und seinem Dasein etwas machen will, der kann es nur so schaffen, lernen wir als Leser dieses Buches. Aber wie hat es der Weimarer Dichterpatriarch zu diesem Meisterstück des Lebens gebracht?

    Nicht immer war sich Goethe des Anspruchs bewusst, aus seiner Existenz so etwas wie ein Kunstwerk machen zu sollen oder zu können. Safranski zeigt uns zunächst einen begnadeten jungen Mann aus gutem Frankfurter Bürgerhaus, der seine poetischen Fähigkeiten geradezu traumwandlerisch ausleben kann, der allenthalben bewundert und geliebt wird, der es dann mit dem ‚Werther’ und dem ‚Götz’ zum Kultautor, statt zum wohlbestallten Juristen bringt, der aber auch von Lebensekel und "hypochondrischen Fratzen" geplagt wird, und 1775 endlich, mit sechsundzwanzig Jahren, die Berufung seines Lebens erfährt.

    In Weimar ist Goethe, Arm in Arm mit dem jungen Herzog, zunächst noch ganz der Stürmer und Dränger, doch schon bald wird ein ernstes Leben daraus. Die Pflichten und die Ämter häufen sich, es zeigen sich Gegner und Neider, alte Freunde werden eher lästig und treten in den Hintergrund, hier und da kommt es zu Liaisons, auch zu solchen fürstlicher Provenienz. Allenthalben nehmen die Schwergewichte des Handelns zu, und Goethes Persönlichkeit verändert sich zunehmend, der phantasiesprühende Dichter muss im Bannkreis des Hofes eine "Weltrolle" spielen. In den folgenden Jahrzehnten wird er vollends in die hohe Politik hineingezogen, und so entwickelt sich das Verhältnis zwischen der Macht und der "Reinheit" des Poetischen nach einem Jahrzehnt in Weimar zum Lebensproblem. Die theatralischen Welten ‚Tassos’ und ‚Egmonts’ verweisen also auf sehr reale, oft leidvolle Verhältnisse.

    "Manchmal wird er auch so dargestellt, dass alles glatt aufgeht, dass es gewissermaßen ein konfliktfreies Leben gewesen wäre. Das war es eben nicht, sondern es war ein Leben, bei dem sich einige Abgründe aufgetan haben und große Zerrissenheiten da waren, Schmerz und Depressionen. Es gibt einen Aspekt, wo man sagen muss, dass der Goethe geradezu Schübe von Depressionen gehabt hat, fast im klinischen Sinne. Er hat eine Formulierung dafür gefunden: ‚Wenn ich mir selbst ausbleibe’.

    Diese Art von Leere, von Lähmung, von stockendem Zeit- und Lebensfluss, wo man sich wieder losreißen muss, wo man wieder neu zur Welt kommen muss, so etwas gab es bei Goethe. Jedoch, der seelische Grundtypus Goethes ist die Bejahung. Mir müssen uns ihn wohl doch als einen Menschen vorstellen, der das Glück hatte, auch schon frühkindlich bejaht zu sein. Er durfte sich als erwünschtes Menschenkind empfinden. Die Liebe zum Leben bleibt ihm erhalten, das ist eine seelische Fundamentaltatsache."

    Dennoch, Goethe ist in Weimar zu einer Doppelexistenz gezwungen, und die kann nicht nur dichterisch reflektiert, sondern muss realiter erprobt werden. Dazu kommt die Frage seiner metaphysischen und religiösen Standortbestimmung, die Auseinandersetzung mit dem Pietismus und mit der Glaubensinnigkeit des Meisterpredigers Lavater. Goethe bewegt sich nun endgültig fort von jeder Art Spiritismus und sakraler Wundervorstellung – am Ende wird er sich sogar zum "dezidierten Nichtchristen" erklären. Mit einem Glauben an das All-Natürliche will der Spinoza-Verehrer schließlich einverstanden sein, mit einer Religion der "Fülle, des Überflusses, des Ja-Sagens", schreibt Safranski.

    Hiervon sollten auch die naturwissenschaftlichen Erkundungen und Schriften Goethes zeugen, die den Urphänomen des Naturkosmos auf dem Wege der originären Anschauung nachgehen, und der Technifizierung allen Forschens den Sinn und die Legitimität absprechen: "Theorien sind gewöhnlichen Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte", schreibt Goethe.

    Die Italienreise behandelt Safranski knapp, ihre Wirkungen auf den Dichter-Politiker sind freilich außerordentlich – die poetische Potenz hat sich enorm auffrischen lassen, der Anspruch auf Kunstautonomie gewinnt an Prägnanz, und die Sinnenglut des zurückgekehrten Reisenden ist stark entfesselt, im Christiane-Erlebnis wird sie sich wenig später erfüllen dürfen. Davon nicht zuletzt legen die ‚Römischen Elegien’ Zeugnis ab.

    Ab dem Sommer 1794 beginnt ein neues Zeitalter in Weimar – es kommt zur Freundschaft und zu der gut zehnjährigen Zusammenarbeit mit Schiller. Noch einmal, zumal unter dem Eindruck der sich radikalisierenden Französischen Revolution, verstärkt sich nun Goethes Anspruch auf die Autonomie jeder Kulturtätigkeit, es sprühen die polemischen Funken im Literaturbetrieb, und immer schärfer wendet sich seine "Lebenskunst" gegen alle "Aufgeregten", die mit abstrakten Freiheitsforderungen die sozialen und staatlichen Verhältnisse umstürzen wollen. Erst im Zusammenwirken mit Schiller, so Safranski, habe sich Goethe vom Liebhaber des Literarischen zum professionellen Autor mit erklärtem Interesse an der Selbstvermarktung entwickelt.

    Selbstveränderung statt Weltveränderung steht für ihn auf der historischen Agenda. Goethe sei zu dieser Zeit nicht nur in seinem Urteil realistischer, sondern als Persönlichkeit auch "wirklicher" geworden, glaubt Rüdiger Safranski. ‚Natur’ ist nun das allumfassend Objektive, nicht mehr der Inbegriff subjektiver Gefühlsmacht. Deshalb steht Weltbewährung im Vordergrund des Goetheschen Denkens und Handelns, nicht länger will er sich die Flucht erlauben zu den poetischen Phantasmen des Innenlebens, und schon gar nicht gedenkt er als Künstler und Wissenschaftler zu kapitulieren vor der "millionenfachen Hydra der Empirie". Der Erforschbare erkennen und das Unerforschliche ruhig verehren, wird zur Maxime des Wissenschaftlers Goethe, Naturerkenntnis durch den Menschen geht über in eine Art Selbsterkenntnis der Natur.

    Goethe wendet sich daher entschieden gegen jede metaphysische Entgrenzung oder mathematische Verflüchtigung des objektiv Beobachtbaren, und vor allem will er das innere Band zwischen Poesie und Naturwissenschaft nicht zerreißen lassen. Der Dichtung soll ein Heimatrecht gesichert bleiben im Kosmos des Wahrheitsfähigen. So möchte Goethe am Ende zusammenhalten und erneut verbinden, was die großen Bewegungskräfte seines Zeitalters auseinanderreißen: "analytischen Verstand und schöpferische Phantasie, abstrakte Begriffe und sinnliche Anschauung, künstliches Experiment und gelebte Erfahrung, mathematisches Kalkül und Intuition".

    "Er wollte Geist und Natur zusammenbringen. Das sagt sich jetzt so schnell, aber indem man darauf hinweist, merkt man, wo er jetzt aktuell sein kann. Wir haben das Problem, dass in der Wissenschaft heute der Naturalismus die übermächtige Gestalt ist. Man merkt das zum Beispiel an der Gehirnforschung. Da heißt es, die Synapsen seien es nur, die das eigentliche Geschehen ausmachen. Wie es sich anfühlt im Kopf, das sei ja nur ein Epiphänomen des Körperlichen. Wir haben von dieser Seite eine vollkommene Austreibung des Geistes aus der Natur. Auch die Gesellschaft stellen wir uns als einen ziemlich geistfernen Mechanismus vor. Oder denken Sie daran, wie sich die Ökonomie den ökonomischen Prozess vorstellt. Das ist auch geistlos, sonst wäre das alles in der Finanzkrise nicht vor die Wand gefahren worden.

    Also, wir haben so etwas in der Wissenschaft wie die Vertreibung des Geistes, und nun sehen wir Goethe, wie er sich mit den Steinen, mit der Natur als Forscher, als Naturkundler beschäftigt hat. Auch da wollte er nicht einfach eine Spiritualität hineinprojizieren, es ging ihm vielmehr darum, auch in der Natur ein lebendiges, schöpferisches Prinzip zu entdecken. Und das ist etwas, was auch in uns arbeitet. Das war seine Grundüberzeugung. Mit Schelling zusammen formuliert er dann diesen schönen Satz: Die Natur schlägt im Menschen die Augen auf und bemerkt, dass sie da ist. Die Selbsterfahrung der eigenen schöpferischen Potenz ist ein Stück Natur in uns, aber sie zeigt, dass die Natur diese Art von Beseeltheit auch hat."

    Safranski ist mutig, er will Goethe zu einer neuen Lebendigkeit verhelfen, so als trete er nun "wie zum ersten Mal" wieder hervor. Das bezieht sich zunächst auf den Autor des Buches selber, und es heißt keineswegs, dass es um die Alltäglichkeiten, um das allzumenschliche Drumherum in der Goetheschen Vita ginge.

    Safranski gelingt vielmehr eine kluge und bewundernde Begegnung mit einem Denker und Dichter, der aus sich selbst das zu machen verstand, was er war. Seinem von Krisen und Schwächezuständen durchschüttelten Leben vermochte er eine "Gestalt" zu verleihen. In dem neuen Buch von Rüdiger Safranski kann man - weitab von jeder betriebsüblichen bleischweren Philologie - die Sprachmusik eines klugen Verehrers genießen, der Goethes mutige Lebenskunst, seine wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen auch heute noch für inspirativ und vorbildlich halten möchte. Die Einbildungskraft des Biographen kann das Vergangene also nicht nur zum Leben erwecken, sondern sie kann auch zeigen, was daran immer noch "Wahrheit" ist. Geist und Poesie sind Funktionen der Lebenserhaltung und der Lebenssteigerung, das wusste Goethe, und Safranski folgt ihm darin gern.

    "Goethe ist neben vielem, was er sonst noch war, ein ganz großer Immunologe. An ihm lernen wir, dass der Stoffwechsel mit der Natur, den unser Körper genial reguliert, der lässt bestimmte Sachen rein und andere hält er draußen, auch für die Kultur gilt. Eigentlich brauchen wir auch eine Art kulturelles Immunsystem, wir müssen wissen, was unserer geistigen Identität, unserer Gesundheit zuträglich ist, und wann wir nur zum Hysteriker, zum bloßen Durchlauferhitzer werden.

    So eine souveräne Art umzugehen mit dem kulturellen Stoffwechsel, das ist eine wunderbare Schule, die Goethe uns anbietet. Goethe hatte einen so weiten Horizont und trotzdem sagt er, achtet auf den Horizont, lasst nicht alles rein, überlegt, wo es produktiv ist. Er selbst nannte es: was mich fördert. Das Leben ist zu kurz, um sich auch noch absichtlich das anzutun, was einen nicht fördert. So sagte er über die Kritiker, das Leben ist zu kurz, um auf Kritiker zu hören. Und: Widersacher kommen nicht in Betracht."

    Vielleicht geht auch von Rüdiger Safranskis neuem Buch so etwas wie eine "lebenserleichternde Kraft" aus. Denn hatte nicht schon Goethe das Lesen von Biographien empfohlen? Wir dürften in der geschichtlichen Betrachtung niemals das Individuelle aus den Augen verlieren, schrieb er einst - "denn man lebt mit Lebendigen".

    Literaturhinweis: Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie. Hanser Verlag 2013, 751 Seiten, 27,90 Euro