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Dem Meister zum 200.

Vor 200 Jahren wurde Robert Schumann geboren. Aus diesem Anlass hat das Label Orfeo jetzt alle vier Sinfonien des Romantikers herausgebracht – eingespielt von den Wiener Symphonikern. Aufnahmen dieser Musikstücke gibt es zahlreiche. Deshalb die Frage: Ist die CD-Box ein Muss für Schuhmann-Freunde?

Von Ludwig Rink |
    In gut vier Wochen hat einer der Großen der Musikwelt einen runden Geburtstag: Robert Schumann wurde am 8. Juni 1810, also vor 200 Jahren geboren. Klar, dass ein solches Jubiläum auch die Planungen der Schallplattengesellschaften beeinflusst. So hat das Label Orfeo jetzt alle vier Sinfonien des Romantikers herausgebracht, eingespielt von den Wiener Symphonikern unter Leitung ihres Chefdirigenten Fabio Luisi. Dies ist, was den Wert fürs Repertoire angeht, natürlich keine editorische Großtat, denn an Aufnahmen dieser vier Sinfonien herrscht wahrlich kein Mangel. Deshalb steht im Mittelpunkt der heutigen Schallplattenrezension die Frage, ob diese neue CD-Box ein Muss für die eigene Plattensammlung ist oder man sich getrost mit vielleicht schon vorhandenen älteren Aufnahmen dieser Musik zufriedengeben kann.

    1 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 1 B-Dur
    aus: Track <1> von 2’39- 3’15
    Dauer: 0’37
    Wiener Symphoniker, Leitung: Fabio Luisi
    Orfeo (LC 08175) C 717 102 H


    Gleich zu Beginn der 1. Sinfonie und dann durchgängig fällt bei dieser Neuaufnahme der Wiener Symphoniker der eigentümlich raue Klang auf, der auf die Tongebung der Violinen, aber möglicherweise auch auf Eigenarten der Aufnahmetechnik zurückzuführen ist. Zum Vergleich: Bei einem Live-Mitschnitt des Stuttgarter Radio-Sinfonieorchesters von 2004 unter Roger Norrington ist der Klang besonders der Streicher deutlich runder, ohne dass von der erforderlichen Präzision etwas verloren ginge.

    2 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 1 B-Dur
    aus: Track <1> von 2’05 – 2’43
    Dauer: 0’39
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Leitung: Roger Norrington
    hänssler classic (LC 13312) CD 93.160


    Gemeinsames Merkmal dieser neuen Schumann-Aufnahmen: Fabio Luisi und die Wiener Symphoniker malen ihre Interpretation sozusagen mit dickem Pinsel, plakativ und auf Effekt bedacht. Ihre Sichtweise des letzten Satzes dieser sogenannten Frühlingssinfonie setzt auf etwas, das ich unter Hinweis auf ein beliebtes russisches Lied die "Kalinka-Wirkung" nennen möchte: Man beginnt langsam und wird peu à peu immer schneller. In Schumanns Partitur steht davon nichts, und deshalb hat das NDR-Sinfonieorchester 1999 unter Christoph Eschenbach die Stelle zwar schnell, aber ohne Beschleunigung eingespielt:

    3 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 1
    aus: Track <4> von 0’10 bis 0’50
    Dauer: 0’42
    NDR-Sinfonieorchester, Leitung: Christoph Eschenbach
    RCA BMG (LC 00316) 74321 61820 2


    Fabio Luisis Wiener Symphoniker machen daraus eine Art Opern-Stretta mit einer ordentlichen Portion Accelerando:

    4 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 1 B-Dur
    aus: Track <4> von 0’10 bis 2’00 (ausblenden, Text darüber)
    Dauer: 1’53
    Wiener Symphoniker, Leitung: Fabio Luisi
    Orfeo (LC 08175) C 717 102 H


    Auch dieser Übergang hin zur Wiederholung erscheint mir übrigens in der Verlangsamung des Tempos deutlich übertrieben – in der Partitur steht lediglich poco riterdando. Überhaupt das Tempo: Hören Sie einmal den folgenden gewaltigen Unterschied im Scherzo dieser Sinfonie: zunächst die Fassung von Norrington, dann die von Luisi:

    5 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 1 B-Dur
    aus: Track <3> von 3’31 bis 4’20 (ausblenden)
    Dauer: 0’56
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Leitung: Roger Norrington
    hänssler classic (LC 13312) CD 93.160


    6 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 1 B-Dur
    aus: Track <3> von 3’25 bis 3’50 (ausblenden)
    Dauer: 0’30
    Wiener Symphoniker, Leitung: Fabio Luisi
    Orfeo (LC 08175) C 717 102 H


    Eine völlig andere Musik! Was ist geschehen? Luisi geht davon aus, dass das Trio 2 in diesem Scherzo im selben beschleunigten Tempo wie das Trio 1 zu spielen sei. Norrington dagegen spielt Trio 2 im Tempo des Anfangs. Für Norringtons Auffassung spricht, dass beim späteren Übergang in das Anfangsthema (nach der Stelle mit den Betonungsverschiebungen) keine Tempo-Rücknahme vorgeschrieben ist: ihm gelingt diese Rückkehr mühelos, das Tempo bleibt gleich, Fabio Luisi danach muss dagegen deutlich die Bremse ziehen:

    7 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 1 B-Dur
    aus: Track <3> von 4’49 bis 5’15
    Dauer: 0’30
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Leitung: Roger Norrington
    hänssler classic (LC 13312) CD 93.160


    8 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 1 B-Dur
    aus: Track <3> von 3’52 bis 4’27
    Dauer: 0’34
    Wiener Symphoniker, Leitung: Fabio Luisi
    Orfeo (LC 08175) C 717 102 H


    Solche von der Partitur nicht abgesegneten Effekte wirken nicht nur ausgesprochen aufgesetzt, sondern führen insgesamt zu seltsam kantigen, wenig fließenden Interpretationen. Die Wahl durchweg schnellerer Tempi könnte man eventuell noch mit Fabio Luisis Herkunft aus Genua und entsprechendem südländischen Temperament erklären. Aber auch in die andere Richtung neigt er zu Übertreibungen: das Adagio von Schumanns 2. Sinfonie, anderswo mit acht bis zehn Minuten eingespielt, dauert bei ihm ganze zwölf Minuten – mit der Folge, dass es auseinander zu fallen droht und der nötige Spannungsbogen einfach nicht zu halten ist. Und das Finale derselben Sinfonie kommt, trotz ähnlicher Tempi wie bei den Kollegen, eigenartig schwer daher, tritt trotzig beharrend auf der Stelle, statt wie es angebracht wäre mit einer von Gefühlen übervollen romantischen Seele vorwärts zu stürmen.

    Hier der Beginn dieses Finales:

    9 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 2 c-moll
    aus: Track <8> von Anfang bis etwa 0’50 (ausblenden)
    Dauer: 0’57
    Wiener Symphoniker, Leitung: Fabio Luisi
    Orfeo (LC 08175) C 717 102 H


    Abgesehen davon, dass es ab hier dann auch bei Luisi und seinen Mannen, wie zu hören, zu einer Reihe von Unsauberkeiten in Intonation und Zusammenspiel kommt, ist es eher die generelle Herangehensweise, die mich bei dieser Sinfonie in die Arme eines anderen Dirigenten treibt. Und der war früher selbst einmal Mitglied der Wiener Symphoniker: Nikolaus Harnoncourt. Bereits Mitte der 1990er-Jahre hat er mit dem Chamber Orchestra of Europe Maßstäbe für die Interpretation der Schumann-Sinfonien gesetzt. Hören Sie zum Vergleich also Harnoncourts Finale der 2. Sinfonie – zumindest den Anfang.

    10 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 2 c-moll
    aus: Track <8> von 0’00 bis 3’36
    Dauer: 3’36
    Chamber Orchestra of Europe, Leitung: Nikolaus Harnoncourt
    Teldec (LC 06019) 0630-12674-2


    Soweit Nikolaus Harnoncourt und das Chamber Orchestra of Europe mit dem Beginn des letzten Satzes von Robert Schumanns 2. Sinfonie.
    Die wenig in die Tiefe gehende Ausdrucksintensität bei Fabio Luisis Schumann-Sinfonien lässt sich auch gut am Beispiel eines Ausschnitts aus der 4. Sinfonie zeigen, einer Stelle aus der Romanze: die weitgehend gebundenen Linien erscheinen starr, sind nur dürftig modelliert - und am Ende des kurzen Abschnitts gibt es Unsicherheiten im Zusammenspiel.

    11 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 4 d-moll
    aus: Track <7> von 0’42 bis 1’38
    Dauer: 0’53
    Wiener Symphoniker, Leitung: Fabio Luisi
    Orfeo (LC 08175) C 717 102 H


    Ganz anders bei Harnoncourt, der diese Stelle zwar deutlich schneller nimmt, aber trotzdem jeder Phrase intensive musikalische Gestaltung angedeihen lässt.

    12 Robert Schumann
    aus: Sinfonie Nr. 4 d-moll
    aus: Track <7> von 0’46 bis 2’33 (bereits früher mit Text darüber)
    Dauer: 1’47
    Chamber Orchestra of Europe, Leitung: Nikolaus Harnoncourt
    Teldec (LC 06019) 0630-12674-2


    Sie haben es sicher schon bemerkt - ich greife bei den Schumann-Sinfonien lieber auf ältere Einspielungen zurück als auf die jetzt bei Orfeo erschienene Box der Wiener Symphoniker unter Leitung ihres Chefdirigenten Fabio Luisi. Das CD-Booklet der vorliegenden Aufnahme berichtet über die begeisterte Einstimmigkeit der 128 Musiker dieses Orchesters, die diesem Dirigenten nach nur zwei Konzertproduktionen mit Bruckners "Zweiter" und Berlioz’ "Fantastischer" ab 2005 die Chefdirigentenstelle angetragen hatten. Bei der Dresdner Staatskapelle, die Luisi 2007 dann zusätzlich übernahm, ist solche Begeisterung aber offenbar schon länger wieder verflogen: angeblich probte er zu wenig. Und nach Auseinandersetzungen mit dem dortigen Management trat Luisi im Februar dieses Jahres mit sofortiger Wirkung als Generalmusikdirektor der Sächsischen Staatsoper zurück.

    Da hatte er allerdings auch bereits einen arbeitsaufwendigen Vertrag mit dem Opernhaus Zürich ab 2012 in der Tasche, wo er 40 Vorstellungen und mindestens zwei Premieren pro Jahr plus drei sinfonische Konzerte im Abonnement dirigieren will. Und Ende April erfuhr man aus der New York Times, dass die Metropolitan Opera Luisi – nicht zuletzt mit Blick auf die gesundheitlichen Probleme des gegenwärtigen künstlerischen Direktors James Levine - für drei Jahre als Ersten Gastdirigenten verpflichtet hat. Der Vertrag mit den Wiener Symphonikern wurde unterdessen bis 2013 verlängert. Solche im Bereich des Dirigenten-Jet-Set bei nicht von Vulkanasche getrübter Sicht durchaus machbare Ämterhäufung birgt natürlich die Gefahr, dass man von einem Posten zum anderen eilt, ohne große stilistische Spuren zu hinterlassen. Nach der wenig zufriedenstellenden Neuaufnahme der Schumann-Sinfonien ist dem Dirigent zu wünschen, dass er bei einem der wichtigen Orchester einmal ganz ankommt, die Chemie gegenseitig stimmt und wir Hörer mit wirklich glanzvollen Konzerten und besten Schallplatten-Produktionen verwöhnt werden. Soweit unsere Sendung "Die neue Platte", die auch im Internet inklusive CD-Angaben nachlesbar ist. Am Mikrofon verabschiedet sich Ludwig Rink.