Archiv


Dem Tinnitus auf den Zahn gefühlt

Phantomgeräusche im Ohr, auch Tinnitus genannt, können eine ganze Reihe verschiedener Ausprägungen haben. Und ähnlich unübersichtlich sind oft auch die Ursachen für die störenden Töne. Auf die Suche nach dem Auslöser eines Tinnitus begeben sich meistens Hals-Nasen-Ohren-Experten. Aber manchmal kann es auch ratsam sein, einen Zahnmediziner hinzu zu ziehen.

Von Arndt Reuning |
    Mit einem Übermaß an Stress kann es beginnen. Wer unter Spannung steht, der überträgt diese Spannung leicht auf die Kaumuskulatur. Unwillkürliche Bewegungen dieser Gesichtspartie wirken sich allerdings wie Body-Building auf die Muskeln aus. Und auf diese Weise verschiebt sich der Unterkiefer in seiner Position zum restlichen Schädel. Starke Belastungen an den Kiefergelenken sind die Folge.

    "Die dann dazu führen, dass die Patienten Symptome im Sinne von Kiefergelenkknacken, Kiefergelenkreibegeräusche, Schmerzsymptomatiken beim Kauen, Kopfschmerzsymptomatiken und so weiter entwickeln."

    Prof. Walter Lückerath von der Klinik für zahnärztliche Prothetik der Universität Bonn. Nicht nur Stress am Tage kann zu solch einer Fehlstellung des Kiefergelenks führen. Manche Menschen nehmen die Belastungen mit in die Nacht und knirschen beim Schlafen mit den Zähnen. Einseitiges Kauen oder Zahnprothesen können ebenfalls dazu führen, dass sich die Lage der Unterkiefers verschiebt. Und bei manchen Patienten können Phantomgeräusche im Ohr, also ein Tinnitus, die Folge von solchen Fehlstellungen sein.

    "Wir haben über die erhöhte Druckbelastung im Kiefergelenk einen erhöhten Druck auf bestimmte Nerven. Und diese Nerven führen dann zu einer entsprechenden Symptomatik im Ohr, zum Beispiel zu Ohrgeräuschen. Nimmt man diesen Druck dann therapeutisch weg, hat man damit eine positive Beeinflussung auch der Symptomatik des Ohres. Und damit zum Beispiel kann man den Tinnitus zum Verschwinden bringen."

    Wie man das Kiefergelenk entlasten kann, haben die Zahnmediziner aus Bonn im Detail untersucht. Ihr Therapieansatz: eine hauchdünne Schiene aus Kunststoff im Mund soll die Gelenkköpfe in ihre ursprüngliche Position zurück bringen. Für jeden Patienten und für jede Patientin muss sie in einem zahntechnischen Labor maßgeschneidert werden.

    "Wir setzen also diese Schien im Munde des Patienten ein. Diese Schiene hat bestimmte Zielrichtungen. Und Sie tragen einfach die Schiene nach unseren Vorgaben, zum Beispiel über Tag, und können dann diese Schiene zum Beispiel in der Nacht wieder herausnehmen, um ruhig schlafen zu können."

    22 Tinnitus-Patienten haben die Zahnmediziner bisher behandelt. Nach zwei bis vier Wochen verspürten rund 75 Prozent von ihnen, dass die Symptome sich gebessert hatten. Und ungefähr ein Drittel hörte sogar gar keine Ohrgeräusche mehr. Allerdings: nicht jedes Phantomgeräusch im Ohr ist Folge einer Fehlstellung des Kiefergelenks. Wie groß der Anteil der Tinnitus-Patienten wirklich ist, die von der neuen Therapie profitieren können, weiß Walter Lückerath nicht.

    "Es ist aber sicherlich so, dass wenn der Hals-Nasen-Ohren-Arzt einen Verdacht auf Beteiligung der Kiefergelenke entwickelt, dass es gut wäre, dann die Patienten zu einem entsprechend befähigten zahnärztlichen Kollegen zu senden, um hier in einem gemeinsamen Zugang zum Patienten die richtige Therapie für den Patienten zu finden."

    Bei der Anti-Tinnitus-Behandlung mit der Schiene kann es natürlich vorkommen, dass der Unterkiefer nicht ganz an seine alte Position zurück geschoben wird. Um die Therapie dauerhaft wirken zu lassen, muss eventuell auch die höckerige Oberfläche der Zahnreihen nachbearbeitet werden. Durch sanftes Einschleifen der Zähne gegeneinander oder durch einzelne Prothesen. Dann aber haben die Dentisten dem Tinnitus wirklich ganz und gar auf den Zahn gefühlt.